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Wladimir I. Lenin 19061111 Zu den Ergebnissen des Parteitages der Kadetten

Wladimir I. Lenin: Zu den Ergebnissen des Parteitages der Kadetten

[Proletarij" Nr. 6, 11. November (29. Oktober) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 162-167]

Wir haben bereits mehrmals klargestellt, dass der Kampf des Absolutismus gegen die proletarisch-bäuerliche Revolution sich unbedingt mit voller Wucht auch auf die liberale Opposition auswirkt. Wenn das Proletariat schweigt, wird die Regierung der Pogromhelden natürlich nicht die Gelegenheit vorübergehen lassen, auch die Kadetten an der Gurgel zu packen. Im Moment würgt sie die friedlichen Erneuerer. Im Moment wirft sie auch auf die Oktobristen nicht besonders gnädige Blicke. Und wenn auch dank der Feldgerichtsjustiz zeitweilig das Krachen der Brownings und der Bomben verstummt und das Echo des klassischen „Hände hoch" verhallt, – so ist das natürlich durchaus keine Bürgschaft dafür, dass der Kadett und der friedliche Erneuerer endlich die ersehnte Ruhe des legalen konstitutionellen Kampfes erlangen.

Es konnte den Anschein gewinnen, dass die führenden Kreise der liberalen Opposition infolge des Wütens der Reaktion weit nach links geworfen würden. Die Auflösung der Duma hat die konstitutionellen Illusionen ausgerottet. Es gibt keinen Mitarbeiter des „Towarischtsch" oder der „Stolitschnaja Potschta", der das jetzt nicht verstehen würde. Das traurige Ende der Kadettenpresse (ihrer gesamten Provinzpresse und eines erheblichen Teiles ihrer hauptstädtischen Presse), das Verbot ihres Parteitages, die Ablehnung der Legalisierung der Kadettenpartei, das Verfahren gegen alle, die den Wiborger Aufruf unterzeichnet haben, – das alles schien die Kadetten dazu zu zwingen, ihren Standpunkt der Organisierung der öffentlichen Meinung aufzugeben und endlich auf den Standpunkt der Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte zu treten. Und weiter schien es, dass, falls es den Kadettenführern an heldenhafter Entschlossenheit mangeln sollte, stolz in die Illegalität zu gehen, dann ihre Armee unverzüglich, an Ort und Stelle diese Führer verlassen würde.

Der Parteitag der Kadetten hat gezeigt, dass diese Erwartungen unrichtig sind. Einstweilen hat jedenfalls der Parteitag – obschon nicht sehr bereitwillig – diesen „Schritt auf der Stelle" oder, richtiger gesagt, diesen „keinen Schritt von der Stelle" gutgeheißen, den ihm das Zentralkomitee vorgeschlagen hat. Der Parteitag hat eine Resolution über die Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte angenommen, die jedoch völlig platonisch ist, niemand auch nur im Geringsten zu irgend etwas verpflichtet, nicht einmal die Sache erwähnt, um derentwillen und in der diese Kräfte sich organisieren können und sich organisieren müssen. Der Parteitag hat – obschon mit einer verhältnismäßig unbedeutenden Majorität – den berühmten vierten Punkt der taktischen Resolution angenommen, der den passiven Widerstand der Partei gegen jenen passiven Widerstand verkündet, zu dem die unteren Volksmassen spontan übergehen und den der Wiborger Aufruf empfiehlt. Der Parteitag endete als Parteitag der einigen, unzertrennlichen „Partei der Volksfreiheit".

Und zweifelsohne musste es auch so sein. Die Stunde der Spaltung der Kadettenpartei hat noch nicht geschlagen. Wenn die Klassengegensätze schon vermocht haben, breite Schichten des Großbürgertums unwiderruflich in die Rahmen der offenen Konterrevolution zu pressen, so haben sie es jedoch noch nicht vermocht, die breiten Schichten der mittleren Bourgeoisie und des Kleinbürgertums, die bei den Wahlen für die Kadetten gestimmt haben, in genügendem Maße zu zersetzen. Einstweilen sind noch keine objektiven Anzeichen dafür vorhanden, dass die spießbürgerliche Provinz angesichts der Revolution von der bürgerlichen Angst ergriffen wird, die die „Afterhumanisten" vom Schlage Gutschkows bereits samt und sonders ergriffen hat.

Diese Zersetzung schreitet schnell fort. Und die Kadettenführer sind natürlich selbst nicht davon überzeugt, dass der von ihnen geschaffene bunte Block der „Volksfreiheit" die Probe des sich verschärfenden sozialen und politischen Kampfes bestehen wird.

In der russischen Revolution muss es zweifelsohne eine Grenzscheide geben, nach deren Überschreiten die Spaltung dieses Blocks entschieden unvermeidlich wird. Diese Grenze wird dann erreicht und überschritten werden, wenn die breitesten Schichten des Kleinbürgertums und teilweise auch der mittleren städtischen Bourgeoisie unwiderruflich in den Strudel des proletarisch-bäuerlichen Aufstandes gezogen werden. Dann, erst dann wird von dem ungeheuren Kadettenblock wirklich nur die besitzende mittlere Bourgeoisie übrigbleiben, die bereits bei ihrer Geburt unzweifelhaft dazu ausersehen war, letzten Endes mit Herrn Gutschkow seine bürgerliche Angst zu teilen, dann wird das Trugbild der gesamtnationalen Revolution zerrinnen, das jetzt noch immer so stark ist und viele daran hindert, die wirklich gigantische schöpferische Rolle der Klassengegensätze in der russischen Revolution voll zu würdigen. An dieser Grenze wird die ungeheuer große politische Partei, die sich auf die Organisierung der öffentlichen Meinung stützt, sich als ein längst überlebter Anachronismus erweisen, während alle, Träger der wirklichen Massenbewegung sowohl von rechts als auch von links der Kraft, der nackten Gewalt nicht nur die große zerstörerische, sondern auch die große schöpferische Rolle zuweisen werden, ohne die natürlich eine wirkliche Vollendung der Revolution undenkbar ist. Dort aber, wo die materielle Gewalt von ihren Hoheitsrechten Besitz ergreift, dort ist kein Platz für die Hegemonie der Kadetten-Bourgeoisie. Davon zeugt die ganze Vergangenheit unseres Kampfes; man braucht kein Prophet zu sein, um unfehlbar vorauszusagen, dass sich dasselbe ereignen wird, wenn es uns bevorsteht, einen neuen Aufschwung der Revolution zu erleben. Der Kadett spielt die Rolle eines „legitimen" Teilnehmers an der Teilung der Beute der Revolution – und weiter nichts.

Deshalb hatten jene Kadettenführer objektiv recht, die vorschlugen, den Wiborger Aufruf einfach für einen Fehler, zu dem man sich habe hinreißen lassen, zu erklären, insofern, als dieser Aufruf unmittelbar zur Taktik des passiven Widerstandes auffordert. Denn bei dem jetzigen angespannten Kampf ist kein Platz und kann es keinen Platz geben für einen passiven Widerstand der Massen, der nicht unmittelbar in den aktiven Angriff übergehen würde. Herr Struve hat völlig recht, wenn er sagt, dass eine solche kulturelle Kampfmethode (im Gegensatz, wie man zu sehen beliebe, zu der rein revolutionären, offensiven Methode) nur gegen eine kulturelle, konstitutionelle Regierung am Platze! Wer möchte auch nur auf eine Minute daran zweifeln, dass die Stolypinsche Bande bei den ersten Anzeichen eines massenweisen Steuerstreiks und bei einer massenweisen Verweigerung des Militärdienstes zu Strafexpeditionen schreiten wird? Wer aber wird dann die Bevölkerung davon zurückhalten, von der Verteidigung zum Angriff mit der Waffe in der Hand überzugehen?

Der Wiborger Aufruf aber war sogar im Augenblick seiner Unterzeichnung im reinen Kadettensinn bestenfalls die Drohung an die Adresse der Regierung, dass man zu einem solchen Angriff übergehen würde, keinesfalls aber war er eine praktische Losung. Und die Herren Miljukow und Struve sind im gegebenen Falle keineswegs für die politische Naivität der Kadetten aus der Provinz verantwortlich, die diesen Aufruf für eine praktische Losung gehalten haben. Das Schicksal, das dieser Aufruf in der Provinz erlitten hat, zeugt davon. Die terrorisierte Presse sprach sehr wenig und sehr gedämpft von diesem Schicksal; das aber, was sie sprach, zeigt, wie uns scheint, dass die Partei der „Volksfreiheit" als Partei den durch diesen Aufruf verkündeten Grundsatz des passiven Widerstandes gegenüber dem Aufruf selbst eifrig zur Anwendung gebracht hat. Wenn dem so ist, so konnte sich der Parteitag darauf beschränken, diese Position der Kadetten festzulegen. Die Minderheit des Parteitages, die Anstalten traf, gegen diese Festlegung zu meutern, streckte schließlich die Waffen und blieb in der Partei.

Aus dem Innern des Landes aber kommen jeden Tag Meldungen, dass der Gedanke des passiven Widerstandes einen Widerhall unter den Volksmassen gefunden hat. Der Steuerstreik, die Verweigerung der Dienstpflicht, der Boykott der Behörden beginnen wirklich zu einer praktischen Losung zu werden. Niemand verschließt die Augen vor den ungeheuren organisatorischen Mängeln, unter denen diese Bewegung heranwächst. Niemand leugnet die Unvermeidlichkeit des Chaos in dieser Bewegung. Dieses Chaos aber wird Ordnung schaffen – die Ordnung der Revolution, diese höchste Stufe der chaotischen, spontanen Volksausbrüche. Der Hass, der jetzt unter dem ungeheuren Druck der Feldgerichts-Verfassung in den Volksmassen kocht, muss unvermeidlich zum Durchbruch kommen und kommt wirklich bald hier bald dort im aufflammenden offenen bewaffneten Kampf zum Durchbruch. Wir verfügen nicht über Tatsachenmaterial, auf Grund dessen man unfehlbar voraussagen könnte, dass im Augenblick der Einziehung der Rekruten und der Steuereintreibung ein allgemeiner Volksaufstand, sei es auch nur in der Form eines rein passiven Widerstandes, ausbrechen werde, – aber es ist unvermeidlich, dass dieser Kampf in der einen oder andern Form in Erscheinung treten wird. Und die Kadetten treten beizeiten zur Seite. „Das Gewissen erlaubt nicht, dies gefährliche Experiment gut zu heißen", erklärte der Kadettenparteitag durch den Mund der Frau Tyrkowa, eines Mitgliedes des Zentralkomitees der Partei.

Die Berufung auf das Gewissen ändert natürlich nichts an der Sache. Wenn die nahenden Ereignisse sogar mit mathematischer Genauigkeit den baldigen Triumph der Volksrevolution verkündeten, selbst dann würden sich die führenden Kreise der Kadetten nicht anders zu der Sache stellen. Die ganze Vergangenheit der Kadettenpartei bürgt dafür, und die Verhandlungen, die sie mit den Pogromhelden über die Ministerposten gepflogen haben, waren der Höhepunkt in der Geschichte der Kadettenpartei; sie waren für sie objektiv unvergleichlich bezeichnender als der Wiborger Aufruf. Und einer von den Größen unter den Vertretern der Partei, Professor Gredeskul, beweist es uns aufs Schlagendste („Rjetsch" Nr. 180): „Wir lebten mit unserm Volk – sagt er –, wir teilten seine Sturm- und Drangperiode." Aber das war eine Zeit „der stürmischen, heißen Jugend"; jetzt ist die Zeit „der standhaften und hartnäckigen Reife" gekommen.1 Das Palladium dieser Reife aber ist die Wahlkampagne und die Plattform, mit der die Duma die Thronrede beantwortet hat.

Sturm und Drang" hat die Kadettenpartei niemals mit dem Volke geteilt und konnte sie niemals mit ihm teilen, – der ehrenwerte Professor hat hier einfach eine rhetorische Phrase gebraucht. Aber die Kadettenpartei ist auf ihrem Parteitag auch nicht nach rechts gegangen. Sie ist auf der Stelle stehen geblieben, auf der sie stand. Nach wie vor beabsichtigt sie, sich an der gegenwärtigen revolutionären Krise nur insoweit zu beteiligen, als sie zu einer rein parlamentarischen Krise entarten kann.

Wir können die Bestimmtheit, die Klarheit, die der Parteitag seinen Beschlüssen in diesem Sinne verliehen hat, nur begrüßen. Er muss natürlich diejenigen stark enttäuschen, die im Wiborger Aufruf „den Beginn einer Linksentwicklung" der Kadetten und ein grelles Zeichen des gesamtnationalen Charakters der russischen Revolution erblickt haben.

Der Parteitag hat erklärt, dass er sich die Revolution nur als parlamentarischen Kampf vorstelle, und rollt damit im vollen Umfange vor der breiten Masse der Demokratie die Frage des offenen Kampfes für die Macht auf. Der ganze Gang der russischen Revolution zeugt davon, dass die Demokratie diese Frage nicht kadettisch beantworten wird, und die Sozialdemokratie muss sich dazu rüsten, damit die städtische und die Dorfarmut in dem Augenblick, in dem diese Antwort erteilt wird, in ihr, in der Sozialdemokratie, ihren natürlichen Hegemon in der Periode der Revolution finde.

1 Lenin zitiert den Artikel von N. A. Gredeskul: „Der Umschwung". („Rjetsch" Nr. 180 vom 16. [3.] Oktober 1906), der sich mit den Ergebnissen des 4. Parteitages der konstitutionellen Demokraten beschäftigt.

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