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Wladimir I. Lenin 19070224 Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg

Wladimir I. Lenin: Die Bedeutung der Wahlen in Petersburg

[Proletarij" Nr. 13, 24. (11.) Februar 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 476-481]

Die Petersburger Wahlkampagne nähert sich ihrem Ende. Bis zu den Wahlen bleiben noch drei Tage. Wenn der Leser diese Zeilen vor sich haben wird, werden bereits die Ergebnisse der Petersburger Abstimmung bekannt sein.

Es könnte der Anschein entstehen, dass es vor Abschluss der Petersburger Wahlen nicht möglich sei, über ihre Bedeutung zu sprechen. Aber das ist nicht der Fall. Die Wahlkampagne in Petersburg hat eine so lange Geschichte, diese Kampagne hat eine solche Menge von ungewöhnlich lehrreichem politischen Material geliefert, dass ihre Bedeutung schon jetzt vollkommen klar ist. Welche Ergebnisse diese Wahlen auch haben werden – die Petersburger Wahlkampagne von 1906–1907 bildet schon jetzt zweifellos einen wichtigen und selbständigen Abschnitt in der Geschichte der russischen Revolution.

Eine unvergängliche Errungenschaft der Revolution in der Petersburger Wahlkampagne ist vor allem die Tatsache, dass die Wechselbeziehungen der politischen Parteien, die Stimmungen (und folglich auch die Erfordernisse der ganzen politischen Lage) der verschiedenen Klassen klar aufgezeigt wurden, dass ferner die verschiedenen Antworten, die auf die Grundfragen der sozialdemokratischen Taktik in der bürgerlichen russischen Revolution gegeben wurden, in der Aktion, der großen offenen Aktion der Massen erprobt wurden.

Die Hauptereignisse der Petersburger Wahlkampagne sind mit Sturmwind-Geschwindigkeit an uns vorbeigezogen. In diesem Sturmwind, in dem man um jeden Preis und unverzüglich handeln musste, ist die wahre Natur und das wahre Wesen der verschiedenen Parteien und Richtungen so klar wie niemals zutage getreten. In diesem Sturmwind haben sich keine formalen Verbindungen, keine Parteiüberlieferungen behauptet, – Organisationen wurden gespalten, Versprechungen gebrochen, Beschlüsse und Stellungen gewechselt, – jeder Tag brachte neue außerordentlich wichtige Ereignisse. Die Zusammenstöße der verschiedenen Strömungen waren außerordentlich scharf, die Auseinandersetzungen, die an und für sich schon gewöhnlich heftig sind, arteten in Schlägereien aus. Das alles kam nicht daher, dass die Russen sich nicht beherrschen können, dass sie durch die Illegalität verdorben sind, nicht daher, dass wir nicht gut erzogen sind – nur Philister können die Sache so erklären.

Nein, die Ursache der heftigen Zusammenstöße und des wütenden Kampfes lag in der Tiefe der Klassenunterschiede, in dem Antagonismus der sozialen und politischen Bestrebungen, die unter dem Einfluss der Ereignisse unerwartet schnell hervortraten, von jedermann unverzügliche „Schritte" verlangten, jedermann in den Konflikt zogen und seinen wirklichen Platz und seine wahre Linie im Kampfe zu behaupten, auszukämpfen1 zwangen.

In Petersburg befinden sich die Zentralen aller Parteien. Petersburg ist der Brennpunkt des politischen Lebens Russlands. Die Presse hat nicht örtliche, sondern allgemein-nationale Bedeutung. Es war deshalb unvermeidlich, dass der Petersburger Wahlkampf der Parteien ein Symptom von größter Wichtigkeit wurde, ein Banner und Vorbild für viele spätere parlamentarische und außerparlamentarische Kämpfe und Ereignisse der russischen Revolution.

Ursprünglich stand eine scheinbar unwichtige Frage, eine Frage zweiten Ranges, die „technische" Frage der Abkommen aller oppositionellen und revolutionären Parteien gegen die Schwarzhundert-Gefahr auf der Tagesordnung. Hinter dieser „einfachen" Frage verbargen sich jedoch die politischen Grundfragen: 1. des Verhältnisses der Regierung zu den Liberalen, den Kadetten; 2. der wahren Ziele der Kadetten; 3. der Hegemonie der Kadetten in der russischen Freiheitsbewegung; 4. der Ziele der kleinbürgerlichen Trudowiki-Parteien; 5. des gemeinsamen Klassengepräges und der politischen Verwandtschaft der gemäßigten Volkssozialisten und der revolutionären Sozialrevolutionäre; 6. des kleinbürgerlichen oder opportunistischen Teiles der sozialdemokratischen Arbeiterpartei; 7. der Hegemonie des Proletariats in der Freiheitsbewegung; 8. der Bedeutung der bekannten, offenen und der nicht bekannten, versteckten Bestandteile und „Potenzen" der revolutionären kleinbürgerlichen Demokratie in Russland.

Diesen ganzen mannigfaltigen Reichtum an politischen Fragen hat das Leben selbst, der Verlauf der Wahlkampagne hervorgebracht und gelöst. Diese Fragen wurden gegen den Willen und unabhängig von dem Bewusstsein vieler Parteien aufgeworfen – gelöst wurden sie „gewaltsam", bis zum Bruch aller Traditionen –, und das Endergebnis, das herauskam, war für die ungeheure Masse der an der Wahlkampagne beteiligten Politiker völlig unerwartet.

Bei den Bolschewiki ist es nicht mit rechten Dingen zugegangen – sagt der Spießbürger und schüttelt seinen Kopf über alle diese unerwarteten Ereignisse. – Sie haben Glück gehabt.

Solche Reden erinnern mich an eine Stelle aus den kürzlich veröffentlichten Briefen Engels' an Sorge. Am 7. März 1884 schrieb Engels an Sorge:

Vor 14 Tagen hatte ich einen Neffen aus Barmen hier, Freikonservativer, dem sagte ich: Wir sind jetzt in Deutschland so weit, dass wir die Hände in den Schoß legen können und unsere Feinde für uns arbeiten lassen. Ob ihr das Sozialistengesetz abschafft, verlängert, verschärft oder mildert, ist einerlei, was ihr auch tut, es arbeitet uns in die Hände. – Ja, sagte er, die Umstände arbeiten merkwürdig für euch. – Allerdings, sagte ich, das täten sie auch nicht, wenn wir sie nicht schon vor 40 Jahren richtig erkannt und danach gehandelt hätten. – Keine Antwort."2

Die Bolschewiki können sich natürlich nicht auf eine 40jährige Vergangenheit berufen – wir vergleichen hier etwas Kleines mit etwas sehr Großem –, sie können sich jedoch auf Monate und Jahre berufen, in denen sie ihre bereits früher festgelegte sozialdemokratische Taktik in der bürgerlichen Revolution angewandt haben. Die Bolschewiki haben in der Tat im Laufe der wichtigsten und entscheidendsten Augenblicke der Petersburger Wahlkampagne ihre Hände in den Schoß gelegt, und die Bedingungen haben für uns gearbeitet. Alle unsere Feinde, von dem ernsten und erbarmungslosen Feind Stolypin bis zu den „Feinden" mit papiernen Schwertern, den Revisionisten, haben für uns gearbeitet.

Die gesamte Opposition, alle Linken waren im Anfang der Petersburger Wahlkampagne gegen die Bolschewiki. Alles Mögliche, alles Erdenkliche wurde gegen uns unternommen, aber die Dinge haben uns recht gegeben.

Warum ist das so gekommen? Deshalb, weil wir bereits seit langem (bereits in der Broschüre „Zwei Taktiken", die 1905 in Genf erschien) das Verhältnis der Regierung zu den Liberalen und das Verhältnis der kleinbürgerlichen Demokratie zum Proletariat viel richtiger als unsere Gegner eingeschätzt haben.

Welches ist die Ursache, die den fast fertigen Block der Kadetten mit allen „Linken", außer den Bolschewiki, hat zusammenbrechen lassen? Die Verhandlungen Miljukows mit Stolypin. Stolypin winkte und der Kadett wandte sich vom Volk ab und kroch wie ein Hündchen zu seinem Schwarzhundert-Herrn.

Ist das ein Zufall? Nein, es war eine Notwendigkeit, denn die liberal-monarchistische Bourgeoisie wird durch ihre Grundbedürfnisse in jedem entscheidenden Augenblick vom gemeinsamen revolutionären Kampf mit dem Volke zur Verständigung mit der Reaktion getrieben.

Welches ist die Ursache gewesen, die die völlige Unbeständigkeit und Charakterlosigkeit aller kleinbürgerlichen Parteien (der Narodniki- und der Trudowiki-Parteien) und des kleinbürgerlichen Teils der Arbeiterpartei, der Menschewiki, hervorgerufen hat? Warum schwankten sie, warfen sich nach rechts und nach links, liefen den Kadetten nach und schworen auf die Kadetten?

Das geschah nicht kraft persönlicher Eigenschaften Sidors oder Karps3, sondern kraft der Tatsache, dass der Kleinbürger unweigerlich dazu neigt, in die Fußstapfen des Liberalen zu treten, ihm nachzulaufen, da er nicht an sich selbst glaubt, zeitweilige „Isolierung" nicht zu ertragen vermag, sich nicht ruhig und fest dem Geheul der bürgerlichen Hunde auszusetzen vermag, nicht an den selbständigen revolutionären Kampf der Massen, des Proletariats und der Bauernschaft glaubt, auf die Rolle des Führers in der bürgerlichen Revolution verzichtet, auf seine eigenen Losungen verzichtet, sich den Miljukow anpasst und sie nachahmt…

Die Miljukow aber eifern Stolypin nach! Die Bolschewiki haben selbständig ihre Linie bestimmt und rechtzeitig ihr Banner, das Banner des revolutionären Proletariats, vor dem Volk entfaltet.

Nieder mit den heuchlerischen Märchen von der Schwarzhundert-Gefahr, vom „Kampf", der in Besuchen bei Stolypin besteht! Wer wirklich für die Freiheit des Volkes eintritt, wer wirklich den Sieg der Revolution will, der muss uns folgen und gemeinsam mit uns gegen das Schwarzhundert-Gesindel und gegen die schachernden Kadetten kämpfen.

Wir selbst werden in jedem Falle in den Kampf gehen. Wir fürchten uns nicht, uns von euren kleinen und lumpigen, kleinlichen und traurigen Machenschaften und Abmachungen zu „isolieren".

Mit dem Proletariat für die Revolution oder mit den Liberalen für Verhandlungen mit Stolypin – Wähler, wählt. Wählt ihr Herren Narodniki! Wählt, Genossen Menschewiki!

Nachdem wir unsere Linie festgelegt hatten, haben wir die Hände in den Schoss gelegt. Wir warteten auf den Ausgang der Prügelei, die begonnen hatte. Am 19. (6.) Januar hat unsere Konferenz unser Banner entfaltet. Bis zum 31. (18.) Januar hat Miljukow Stolypin die Stiefel geleckt, haben die Menschewiki, die Narodniki und die Parteilosen Miljukow die Stiefel geleckt.

Alle haben sich verrannt. Alle wollten es recht fein, recht staatsmännisch anfangen, und alle zankten sich und fuhren sich so in die Haare, dass sie nicht gemeinsam vorgehen konnten.

Wir haben es nicht fein, nicht staatsmännisch angefangen, sondern im Namen von klaren und deutlichen Grundsätzen des revolutionären Kampfes des Proletariats auf alle geschimpft.

Und alle, die fähig waren, zu kämpfen, sind uns gefolgt. Der Linksblock ist zu einer Tatsache geworden. Die Hegemonie des revolutionären Proletariats ist zu einer Tatsache geworden. Das revolutionäre Proletariat hat alle Trudowiki und einen großen Teil der Menschewiki, ja sogar der Intellektuellen ins Schlepptau genommen.

Sein Banner wurde bei den Petersburger Wahlen aufgepflanzt. Welches Ergebnis auch diese ersten ernsten Wahlen in Russland, an denen sich alle Parteien beteiligen, haben mögen – das Banner des selbständigen Proletariats, das seine eigene Linie verfolgt, ist bereits aufgepflanzt. Dies Banner wird auch im parlamentarischen Kampfe und in allen andern Kämpfen wehen, die die Revolution zum Siege führen werden.

Kraft seiner Selbständigkeit, seiner folgerichtigen Politik, seiner Entschlossenheit, die Massen der unterdrückten und eingeschüchterten Bauernschaft, die Masse der schwankenden, wankenden, unbeständigen kleinbürgerlichen Demokratie an sich zu ziehen, sie von der verräterischen liberalen Bourgeoisie loszureißen, auf diese Weise dieser Bourgeoisie scharf auf die Finger zu sehen und an der Spitze der Bewegung der Volksmassen den verfluchten Absolutismus zu zertrümmern – das ist die Aufgabe des sozialistischen Proletariats in der bürgerlichen Revolution.

1 „Auszukämpfen" bei Lenin deutsch. Die Red.

2 Siehe „Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge und andere", Stuttgart 1906, Verlag von J. H. W. Dietz Nachfolger, S. 194. Die Red. [Karl Marx – Friedrich Engels, Werke, Band 36, Berlin 1967, S. 123]

3 Russische Vornamen, Die Red.

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