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Wladimir I. Lenin 19071111 Die Dritte Duma

Wladimir I. Lenin: Die Dritte Duma1

[Proletarij" Nr. 18, 11. November (29. Oktober) 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 114-124]

Die Regierung heimst die Früchte des von ihr am 3. Juni begangenen ruchlosen Verbrechens am Volke ein: die Missgeburt von Wahlgesetz, das den Willen nicht nur des ganzen Volkes, sondern selbst der wahlberechtigten Minderheit zu Nutz und Frommen eines Häufleins von Gutsbesitzern und Kapitalisten gänzlich entstellt, hat die dem Zarismus erwünschten Ergebnisse gezeitigt. Von den 442 Abgeordneten, die in die Duma gewählt werden sollen, sind in dem Augenblick, wo der vorliegende Artikel geschrieben wird, bereits 432 gewählt; zu wählen sind noch 10, so dass die allgemeinen Wahlresultate bereits genügend klar sind. Nach einer annähernd richtigen Berechnung sind gewählt: 18 Sozialdemokraten, 13 andere Linke, 46 Kadetten, 55 Abgeordnete anderer, ihnen nahestehender Gruppen, 92 Oktobristen, 21 Anhänger verschiedener ihnen verwandter Gruppen, 171 Rechte verschiedener Art, darunter 32 Mitglieder des „Verbandes des russischen Volkes", und 16 Parteilose.

Somit können die Abgeordneten, die unbedeutende Gruppe Parteiloser nicht gerechnet, in vier Gruppen eingeteilt werden: die extreme Linke – nur etwas über 7 Prozent, das linke (kadettische) Zentrum 23 Prozent, das rechte (oktobristische) Zentrum 25,1 Prozent und die Rechte – -40 Prozent; die Parteilosen machen etwas unter 4 Prozent aus.

Keine dieser Gruppen, einzeln genommen, hat die absolute Mehrheit. Entspricht dieses Resultat vollkommen den Wünschen und Erwartungen der Inspiratoren und Autoren des neuen Wahlgesetzes? Wir glauben, dass diese Frage zu bejahen ist und dass das neue russische „Parlament" vom Standpunkt der herrschenden Gruppen, die den absolutistischen Zarismus unterstützen,, im wahrsten Sinne des Wortes eine „chambre introuvable"* ist.

Es gibt nämlich bei uns, wie in jedem Lande mit absolutistischem oder halb absolutistischem Regime, eigentlich zwei Regierungen: eine offizielle – das Ministerkabinett, und eine hinter den Kulissen – die Hofkamarilla. Diese stützt sich immer und überall auf die reaktionärsten Schichten der Gesellschaft, auf den feudalen – wie es bei uns heißt – Schwarzhunderteradel, der seine wirtschaftliche Kraft aus dem Großgrundbesitz und der damit verbundenen halb fronherrlichen Wirtschaft schöpft. Verzärtelt, verderbt, entartet, ist diese soziale Gruppe ein Muster niederträchtigsten Schmarotzertums. Wie weit die Entartung geht, zeigt der Skandalprozess Moltke-Harden in Berlin, in dessen Verlauf die schmutzige Kloake der einflussreichen Kamarilla am Hofe des halb absolutistischen deutschen Kaisers, Wilhelm II., aufgedeckt wurde. Es ist für niemand ein Geheimnis, dass auch bei uns in Russland in den entsprechenden Kreisen solche Abscheulichkeiten keine Ausnahme bilden. Die gewaltige Masse der „Rechten" in der III. Duma wird, jedenfalls in ihrer erdrückenden Mehrheit, die Interessen dieses sozialen Schimmels und Rosts, dieser „übertünchten Gräber", des Erbstücks der finsteren Vergangenheit, verteidigen. Für diese Mastodonten und Ichthyosaurier – „Auerochsen" ist für sie eine zu schmeichelhafte Benennung – ist die Erhaltung der Fronherrenwirtschaft, der Adelsprivilegien und des absolutistisch-feudalen Regimes eine Lebensfrage.

Die Mastodonten und Ichthyosaurier setzen gewöhnlich ihre ganze Kraft ein, um mit Hilfe ihrer Allmacht bei Hofe auch die offizielle Regierung, das Ministerkabinett, in volle, ungeteilte Gewalt zu bekommen. Meistens besteht denn auch das Regierungskabinett zum guten Teil aus ihren Kreaturen. Doch auf Schritt und Tritt kommt es vor, dass die Zusammensetzung seiner Mehrheit den Anforderungen der Kamarilla nicht ganz entspricht. Dem vorsintflutlichen Räuber der Fronherrenepoche macht in diesem Fall der Räuber der Zeit der ursprünglichen Akkumulation Konkurrenz; er ist ebenfalls roh, gierig, ist auch Schmarotzer, aber einigermaßen von Kultur beleckt und – was die Hauptsache ist – ebenfalls bestrebt, aus der staatlichen Futterkrippe einen fetten Happen in der Form von Garantien, Subventionen, Konzessionen, Schutzzöllen usw. zu erwischen. Diese Schicht der Grundbesitzer- und Industriebourgeoisie, die für die Epoche der ursprünglichen Akkumulation charakteristisch ist, findet ihren Ausdruck im Oktobrismus und den diesem verwandten Strömungen. Viele Interessen sind ihr mit den Schwarzhundertern sans phrases2 gemeinsam, – wirtschaftliches Schmarotzertum und Privilegien, Hurrapatriotismus sind vom oktobristischen Standpunkt ebenso notwendig wie von dem der Schwarzhunderter.

So kommt die aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehende Mehrheit der III. Reichsduma zustande: sie erreicht die ansehnliche Ziffer von 284 Mann von 432, d. h. 65,7 Prozent, mehr als zwei Drittel der Gesamtzahl der Abgeordneten.

Es ist eine feste Burg, die der Regierung die Möglichkeit einer Agrarpolitik sichert, die den bankrotten Gutsbesitzern hilft, ihre Ländereien vorteilhaft zu liquidieren und dabei die landarmen Bauern bis aufs Hemd auszuplündern, – die es ihr möglich macht, die Arbeitsgesetzgebung in ein Werkzeug der brutalsten Ausbeutung des Proletariats durch das Kapital zu verwandeln, und auf finanzpolitischem Gebiet die Hauptlast der Steuern nach wie vor auf den Schultern der Volksmassen ruhen zu lassen. Es ist eine Feste des Protektionismus und Militarismus. Der konterrevolutionäre Charakter der aus Oktobristen und Schwarzhundertern bestehenden Mehrheit wird von niemand bestritten.

Aber – und das ist des Pudels Kern – es ist nicht die einzige Mehrheit in der III. Duma. Es gibt noch eine andere Mehrheit.

Die Schwarzhunderter sind zuverlässige Bundesgenossen der Oktobristen, genau so wie die Hofkamarilla ein Bundesgenosse des Ministerkabinetts in Bezug auf die Verteidigung des Zarismus ist. Doch in der gleichen Weise, wie die Hofkamarilla nicht so sehr zu einem Bündnis mit dem Ministerkabinett als zu seiner Beherrschung einen organischen Hang an den Tag legt, sehnen sich auch die Schwarzhunderter nach einer Diktatur über die Oktobristen, springen mit ihnen in beliebiger Weise um, sind bestrebt, sie unterzukriegen.

Die Interessen des Kapitalismus, sei es auch eines schmarotzerhaften, offen räuberischen, sind nicht zu vereinbaren mit der ungeteilten Herrschaft des fronherrlichen Grundbesitzes. Jede der beiden miteinander verwandten sozialen Gruppen will einen möglichst großen und fetten Bissen an sich reißen – daher ihre unvermeidlichen Differenzen in Fragen der örtlichen Selbstverwaltung und der zentralen Organisation der Staatsmacht. In den Semstwos und in den Stadtdumas brauchen die Schwarzhunderter nichts anderes, als was schon ist, in Bezug auf die Zentralgewalt aber heißt es – „Nieder mit der verdammten Verfassung". Die Oktobristen brauchen in den Semstwos wie in den Stadtdumas eine Verstärkung ihres Einflusses, im Zentrum aber brauchen sie eine „Verfassung", wenn auch nur eine recht kümmerliche, für die Massen nur fiktive.

Nicht umsonst schimpft „Russkoje Snamja" auf die „Oktoberleute", „Golos Moskwy" aber findet seinerseits, in der III. Duma gebe es mehr Rechte, als man brauche.

Nun werden die Oktobristen durch den objektiven Gang der Dinge gezwungen, in dieser Beziehung nach Bundesgenossen zu suchen. Im linken (kadettischen) Zentrum, das schon seit langem seine aufrichtige Verfassungstreue verkündet, wären diese Verbündeten längst zu finden gewesen, doch hat die Sache den Haken, dass die heute von den Kadetten vertretene junge russische Bourgeoisie der Epoche der kapitalistischen Akkumulation aus ihrer Vergangenheit noch sehr unbequeme Freunde und gewisse unangenehme Traditionen hat. Zwar stellte sich heraus, dass man auf politischem Gebiet den Traditionen leicht Valet sagen kann: schon längst, noch vor der I. Duma, haben sich die Kadetten zum Monarchismus bekannt, auf die verantwortliche Regierung haben sie in der II. Duma stillschweigend Verzicht geleistet, und die kadettischen Gesetzentwürfe über verschiedene „Freiheitsrechte" enthalten so viel Stachelzäune, Drahtverhaue und Wolfsgruben gegen diese Freiheitsrechte, dass man nach dieser Richtung hin zu den schönsten Hoffnungen auf weitere Fortschritte berechtigt ist. Dem Aufstand und Streik gegenüber verhielten sich die Kadetten schon vorher vorwurfsvoll – zuerst mit freundlichem, dann mit melancholischem Vorwurf; nach dem Dezember 1905 verwandelte sich der Vorwurf halb in Geringschätzung, nach der I. Duma aber in strikte Ablehnung und Tadel. Diplomatie, Kompromiss, Kuhhandel mit den Machthabern – das ist die Grundlage der Kadettentaktik. Was aber die unbequemen Freunde anbelangt, so werden sie schon seit langem einfach „Nachbarn" genannt und wurden unlängst vor aller Öffentlichkeit zu „Feinden" gestempelt.

Eine Einigung ist also möglich, und so sehen wir eine neue, aber wiederum konterrevolutionäre Mehrheit – die oktobristisch-kadettische. Sie zählt zwar vorläufig etwas weniger als die Hälfte der bereits gewählten Abgeordneten – 214 von 432, aber erstens werden sich ihr, wenn nicht alle, so doch zumindest ein Teil der Parteilosen anschließen, und zweitens ist aller Grund zur Annahme vorhanden, dass sie durch die weiteren Wahlen einen Zuwachs erhalten wird, da die Städte und ein großer Teil der Gouvernements-Wahlversammlungen, in denen die Wahlen noch nicht vollzogen sind, in ihrer übergroßen Mehrheit entweder Oktobristen oder Kadetten wählen werden.

Die Regierung fühlt sich als Herr der Lage. Die liberale Bourgeoisie betrachtet dies anscheinend als Tatsache. Unter diesen Verhältnissen muss die Verständigung notwendigerweise mehr denn je den Stempel des niederträchtigsten und verräterischsten Kompromisses tragen, genauer – den Stempel der Auslieferung aller auch nur entfernt demokratischen Positionen des Liberalismus. Es ist klar, dass durch einen solchen Kompromiss, ohne eine neue Massenbewegung, keine auch nur halbwegs demokratische Gestaltung der lokalen Selbstverwaltung und der zentralen gesetzgeberischen Organe erreicht werden kann. Die oktobristisch-kadettische Mehrheit ist nicht imstande, sie uns zu geben. Kann man aber von der aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehenden Mehrheit, von dem Bündnis roher Gutsherren mit räuberischen Kapitalisten, eine halbwegs annehmbare Lösung der Agrarfrage und eine Erleichterung der Lage der Arbeiter erwarten? Auf diese Frage kann nur bitteres Lachen die Antwort sein.

Die Lage ist klar: unsere „chambre introuvable" ist nicht imstande, die objektiven Aufgaben der Revolution auch nur in der kümmerlichsten Weise zu lösen. Sie kann die tiefen Wunden, die die alte Ordnung Russland geschlagen, nicht einmal notdürftig heilen – sie kann nur diese Wunden mit kümmerlichen, mit saurer Miene gewährten Scheinreformen verdecken.

Die Wahlresultate sind eine erneute Bestätigung unserer festen Überzeugung: Russland kann nicht auf friedlichem Wege aus seiner heutigen Krise heraus gelangen.

Unter solchen Verhältnissen sind die nächsten Aufgaben, vor denen die Sozialdemokratie gegenwärtig steht, vollkommen klar. Mit dem Sieg des Sozialismus als ihrem Endziel, in der Überzeugung, dass zur Erreichung dieses Zieles die politische Freiheit notwendig ist, und mit Rücksicht darauf, dass es gegenwärtig-unmöglich ist, diese Freiheit auf friedlichem Wege, ohne offene Massenaktionen, zu verwirklichen, ist die Sozialdemokratie nach wie vor verpflichtet, die demokratischen und revolutionären Aufgaben in den Vordergrund zu rücken, ohne selbstverständlich auch nur einen Augenblick lang auf die Propaganda des Sozialismus, auf die Vertretung der proletarischen Klasseninteressen im engen Sinne des Wortes zu verzichten. Als Vertreterin der fortgeschrittensten, der revolutionärsten Klasse der modernen Gesellschaft, des Proletariats, das in der russischen Revolution seine Befähigung zur Rolle des Führers im Massenkampf bewiesen hat, ist die Sozialdemokratie verpflichtet, in jeder Weise dazu beizutragen, dass das Proletariat diese Rolle auch in dem kommenden neuen Stadium des revolutionären Kampfes behält, in einem Stadium, für das im Vergleich zu früher ein viel stärkeres Übergewicht des Bewusstseins über die Spontaneität charakteristisch ist. Zu diesem Zweck ist die Sozialdemokratie verpflichtet, mit allen Kräften danach zu streben, ihre Hegemonie über die demokratischen Massen aufzurichten und die revolutionäre Energie dieser Massen zu entwickeln.

Dieses Bestreben bringt die Partei des Proletariats in heftigen Konflikt mit politischen Organisationen anderer Klassen, denen gemäß den Interessen der von ihnen vertretenen Gruppen die demokratische Revolution verhasst und gefährlich ist, und zwar nicht nur an und für sich, sondern auch besonders mit Rücksicht auf die Hegemonie des Proletariats in ihr, die eine sozialistische Gefahr birgt.

Es ist ganz klar und unterliegt keinem Zweifel, dass beide Dumamehrheiten, die aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehende und die oktobristisch-kadettische, auf die die Stolypin-Regierung sich abwechselnd stützen und so balancieren will, dass beide Mehrheiten, jede in ihrer Art – in verschiedenen Fragen – konterrevolutionär sein werden. Von einem Kampf der einen oder anderen Mehrheit oder selbst einzelner ihrer Elemente gegen die Regierung, von einem einigermaßen planmäßigen und systematischen Kampf, kann keine Rede sein. Möglich sind nur einzelne, vorübergehende Konflikte. Solche Konflikte sind möglich vor allem zwischen den Schwarzhunderterelementen der ersten Mehrheit und der Regierung. Man darf aber nicht vergessen, dass es keine auch nur einigermaßen tiefe Konflikte sein können, und dass die Regierung, ohne auch nur im Geringsten den konterrevolutionären Boden zu verlassen, gestützt auf die zweite Mehrheit, mit aller Bequemlichkeit und Leichtigkeit aus diesem Konflikt als Sieger hervorgehen kann. Beim besten Willen sind die revolutionären Sozialdemokraten und mit ihr alle revolutionär gesinnten Elemente der III. Duma nicht in der Lage, diese Konflikte im Interesse der Revolution anders als zu rein agitatorischen Zwecken auszunutzen; von „Unterstützung" eines der beiden streitenden Gegner kann hier keine Rede sein, denn eine solche Unterstützung wäre selbst eine konterrevolutionäre Handlung.

Etwas mehr und besser werden sich vielleicht die eventuellen Konflikte zwischen den einzelnen Elementen der zweiten Mehrheit – den Kadetten einerseits, den Oktobristen und der Regierung anderseits -– ausnutzen lassen. Doch auch hier ist die Lage eine solche, dass die Konflikte nicht nur kraft subjektiver Stimmungen und Absichten, sondern auch infolge der objektiven Verhältnisse nicht tief und nur vorübergehend sein werden, nur ein Mittel, das den politischen Schacherern den Abschluss ihres Geschäfts unter Bedingungen erleichtert, die äußerlich zwar anständiger aussehen, in Wirklichkeit aber den Interessen der Demokratie widersprechen. Die Sozialdemokratie muss folglich, ohne auf die Ausnutzung selbst solcher oberflächlichen und nicht häufigen Konflikte zu verzichten, einen hartnäckigen Kampf um die demokratischen und revolutionären Aufgaben, nicht nur gegen Regierung, Schwarzhunderter und Oktobristen sondern auch gegen die Kadetten führen.

Dies sind die wichtigsten Ziele, die sich die Sozialdemokratie in der III. Reichsduma zu setzen hat. Ganz klar, dass es die gleichen Ziele sind, denen die Partei des Proletariats in der II. Duma zustrebte. Sie sind in Punkt 1 der Resolution des. Londoner Parteitags über die Reichsduma mit aller Klarheit formuliert. Dieser Punkt lautet:

Die unmittelbaren politischen Aufgaben der Sozialdemokratie in der Duma sind: a) Aufklärung des Volkes über die vollständige Unbrauchbarkeit der Duma als eines Mittels zur Verwirklichung der Forderungen des. Proletariats und des revolutionären Kleinbürgertums, insbesondere der Bauernschaft; b) Aufklärung des Volkes über die Unmöglichkeit, die politische Freiheit auf parlamentarischem Wege zu verwirklichen, solange die reale Macht in den Händen der Zarenregierung bleibt, sowie Aufklärung über die Unvermeidlichkeit eines offenen Kampfes der Volksmassen gegen die bewaffnete Macht des Absolutismus eines Kampfes, dessen Ziel die Sicherung eines vollen Sieges ist, d. h. Übergang der Macht in die Hände der Volksmassen und Einberufung der Konstituierenden Versammlung auf Grund' des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts.“

In dieser Resolution, insbesondere in ihren letzten Worten ist auch die wichtigste spezielle Aufgabe der Sozialdemokratie in der III. Duma formuliert, eine Aufgabe, die die sozialdemokratischen Abgeordneten in Verbindung mit der Entlarvung der ganzen Ruchlosigkeit des Verbrechens vom 3. Juni zu erfüllen haben. Diese Entlarvung soll natürlich nicht vom liberalen Standpunkt eines formalen Verfassungsbruchs ausgehen, sondern dieses Verbrechen als freche und brutale Verletzung der Interessen der breiten Volksmassen, als schamlose und empörende Verfälschung der Volksvertretung kennzeichnen. Daran hat sich auch die Aufklärung der breiten Volksmassen darüber zu knüpfen, dass die III. Duma den Interessen und Forderungen des Volkes in keiner Weise entspricht sowie im Zusammenhang damit eine breite und energische Propaganda des Gedankens einer mit Machtvollkommenheit ausgestatteten, durch allgemeine, direkte, gleiche und geheime Abstimmung gewählten Konstituierenden Versammlung.

Dieselbe Londoner Resolution bestimmt auch mit größter Klarheit den Charakter der Tätigkeit der sozialdemokratischen Partei in der Reichsduma mit den folgenden Worten:

In den Vordergrund gerückt werden muss die kritische, propagandistische, agitatorische und organisatorische Rolle der sozialdemokratischen Dumafraktion"; „der allgemeine Charakter des Kampfes in der Duma muss dem ganzen proletarischen Kampf außerhalb der Duma untergeordnet werden, wobei es von besonderer Wichtigkeit ist, den wirtschaftlichen Massenkampf auszunützen und seinen Interessen zu dienen."

Es ist vollkommen klar, in einem wie engen, unlöslichen Zusammenhang ein solcher Charakter der Dumaarbeit mit den Zielen steht, die die Sozialdemokratie, wie oben gesagt, sich gegenwärtig in der Duma zu setzen hat. In Verhältnissen, die Massenbewegungen überaus wahrscheinlich erscheinen lassen, wäre eine friedliche gesetzgeberische Arbeit der Sozialdemokraten in der Duma nicht nur lächerliche Donquichotterie, sondern auch direkter Verrat an den proletarischen Interessen. Die unvermeidliche Folge davon wäre für die Sozialdemokratie eine „Herabdrückung ihrer Losungen, was sie in den Augen der Massen lediglich diskreditieren und dem revolutionären Kampf des Proletariats entfremden würde". Es wäre das größte Verbrechen, das die Vertreter des Proletariats in der Duma begehen könnten.

Die kritische Tätigkeit der Sozialdemokratie muss in ihrem ganzen Umfang entfaltet und aufs Höchste zugespitzt werden, um so mehr als die III. Duma Material dazu im Überfluss liefern wird. Die Sozialdemokraten in der Duma sind verpflichtet, die wahre Klassengrundlage aller in der Duma erörterten Maßnahmen und Vorschläge sowohl der Regierung als auch der Liberalen zu entlarven; dabei ist, in völliger Übereinstimmung mit der Parteitagsresolution, jenen Maßnahmen und Vorschlägen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, die die wirtschaftlichen Interessen breiter Volksmassen berühren – hierher gehören die Arbeiter- und die Agrarfrage, die Etatfrage usw. In allen diesen Fragen muss die Sozialdemokratie dem Regierungs- und dem liberalen Standpunkt ihre sozialistischen und demokratischen Forderungen entgegenstellen, denn diese Fragen sind der empfindlichste Nerv des Volkslebens und zugleich der wundeste Punkt der Regierung und jener sozialen Gruppen, auf die sich beide Dumamehrheiten stützen.

Alle diese agitatorischen, propagandistischen und organisatorischen Aufgaben werden die Sozialdemokraten in der Duma nicht nur mit Hilfe ihrer Reden von der Dumatribüne herab, sondern auch durch Einbringen von Gesetzentwürfen und Interpellationen an die Regierung verwirklichen. Doch hier stellt sich ihnen eine bedeutende Schwierigkeit entgegen: für die Einbringung eines Gesetzentwurfes oder für eine Interpellation bedarf es mindestens dreißig Unterschriften.

30 Sozialdemokraten gibt es in der III. Duma nicht und wird es auch nicht geben. Das ist sicher. Folglich kann die Sozialdemokratie allein, ohne Mitwirkung anderer Gruppen weder Gesetzentwürfe einbringen noch die Regierung interpellieren. Dadurch wird ihre Aufgabe zweifellos in hohem Grad erschwert und kompliziert.

Es handelt sich selbstverständlich um Gesetzentwürfe und Interpellationen von konsequent-demokratischem Charakter. Kann die Sozialdemokratie in dieser Hinsicht auf Mitwirkung der Konstitutionell-Demokratischen Partei rechnen? Natürlich nicht. Werden denn die Kadetten, die heute schon durchaus bereit sind zu einem unverhüllten Kompromiss unter solchen Bedingungen, bei denen von ihren – ohnehin so bescheidenen, durch verschiedene Klauseln und Ausnahmen zu einem Minimum zusammengeschrumpften – Forderungen überhaupt nichts übrig bleiben wird, – werden diese Kadetten sich entschließen, die Regierung durch demokratische Interpellationen zu reizen? Wir wissen noch sehr gut, dass schon in der II. Duma die Reden der interpellierenden kadettischen Redner bedeutend blasser geworden waren und sich zuweilen halb in kindliches Lallen, halb in höfliche und selbst ehrerbietige, schier von Verbeugungen begleitete Anfragen verwandelt hatten. Heute aber, wo die „Arbeitsfähigkeit" der Duma, was das Knüpfen von Netzen für das Volk anbelangt – von recht festen, sicheren Netzen, die sich in Ketten verwandeln sollen –, allgemein bekannt geworden ist, können Ihre Exzellenzen, die Herren Minister, ruhig schlafen: von kadettischer Seite wird man sie nur selten stören – natürlich, man muss doch gesetzgeberisch tätig sein! Und wenn man sie auch stören wird, so jedenfalls unter Beobachtung aller Höflichkeitsregeln. Nicht umsonst verspricht Miljukow in Wahlversammlungen, „das Flämmchen zu hüten". Und ist es etwa Miljukow allein? Was hat die von Dan vertretene bedingungslose Ablehnung der Losung „Nieder mit der Duma" zu bedeuten? Etwa nicht dasselbe „Hüten des Flämmchens?" Und ist es nicht die gleiche Richtung der „Höflichkeit", die Plechanow der Sozialdemokratie durch seine „Unterstützung der liberalen Bourgeoisie" anrät, deren „Kampf" auf nichts anderes hinausläuft als auf Reverenzen und tiefe Bücklinge.

Von einem Anschluss der Kadetten an sozialdemokratische Gesetzentwürfe kann keine Rede sein: diese Gesetzentwürfe werden ja einen scharf ausgeprägten agitatorischen Charakter tragen, werden konsequent-demokratische Forderungen in vollem Umfange zum Ausdruck bringen – das aber wird nun bei den Kadetten nicht minder Ärgernis erregen als unter den Oktobristen und selbst den Schwarzhundertern.

Folglich kann man auch hier auf die Kadetten nicht rechnen. Für Interpellationen und die Einbringung von Gesetzentwürfen kann die Sozialdemokratie nur auf Unterstützung der links von den Kadetten stehenden Gruppen rechnen. Es scheint, dass zusammen mit den Sozialdemokraten eine Gruppe von 30 Abgeordneten zustande kommt, so dass die volle technische Möglichkeit gegeben sein wird, in dieser Beziehung Initiative zu entfalten. Es handelt sich natürlich nicht um irgend einen Block, sondern um jenes „gemeinsame Vorgehen", das, wie es in der Londoner Resolution heißt, „jede Möglichkeit irgendwelcher Abweichungen von Programm und Taktik der Sozialdemokratie ausschließen muss und nur dem gemeinsamen Vorstoß sowohl gegen die Reaktion als auch gegen die verräterische Taktik der liberalen Bourgeoisie dient".

1

* D. h. ein Parlament, von dem man sagen kann: ein besseres findest, du nicht ... So bezeichnete 1815 König Ludwig XVIII. die extrem-reaktionäre französische Abgeordnetenkammer.

2 ohne Phrasen, d. h. unverhohlen. Die Red.

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