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Wladimir I. Lenin 19070317 Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie

Wladimir I. Lenin: Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie

[„Proletarij" Nr. 14 und Nr. 15, 17. (4.) März und 7. April (25. März) 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 524-535]

I.

In einigen Wochen wird bekanntlich der Parteitag zusammentreten. Wir müssen aufs Tatkräftigste an seine Vorbereitung und an die Erörterung der grundlegenden taktischen Fragen gehen, die die Partei auf diesem Parteitage lösen muss.

Das ZK unserer Partei hat schon eine Tagesordnung aufgestellt, die in den Zeitungen veröffentlicht ist. Im Mittelpunkt dieser Tagesordnung stehen die Punkte: 1. „Die nächsten politischen Aufgaben" und 2. „Die Reichsduma". Was den zweiten Punkt anbelangt, so ist es augenscheinlich und unbestreitbar, dass er auf der Tagesordnung stehen muss. Der erste Punkt muss unseres Erachtens ebenfalls behandelt werden, aber seine Formulierung oder, richtiger gesagt, sein Inhalt muss ein wenig geändert werden.

Um der gesamten Partei die Möglichkeit zu geben, unverzüglich die Aufgaben des Parteitages und die taktischen Fragen, die er zu lösen haben wird, zu erörtern, hat die Konferenz der Vertreter beider hauptstädtischen Organisationen unserer Partei und des Redaktionskollegiums des „Proletarij" am Vorabend der Einberufung der zweiten Duma die untenstehenden Resolutionsentwürfe ausgearbeitet. Wir beabsichtigen, einen kurzen Überblick darüber zu geben, wie die Konferenz ihre Aufgaben aufgefasst hat, warum sie gerade die Resolutionsentwürfe zu diesen oder jenen Fragen in den Vordergrund gerückt hat, und welchen leitenden Gedanken in diesen Resolutionen Ausdruck verliehen ist.

Erste Frage: „Die nächsten politischen Aufgaben".

Unseres Erachtens darf man in der gegenwärtigen Epoche die Frage vor dem Parteitag der SDAPR nicht so stellen. Es ist eine revolutionäre Epoche. Darüber sind sich alle Sozialdemokraten ohne Unterschied der Fraktion einig. Man braucht nur einen Blick auf den grundsätzlichen Teil der Resolution zu werfen, die die Menschewiki und die Bundisten auf der allrussischen Konferenz der SDAPR im November 1906 zur Annahme gebracht haben, um sich von der Richtigkeit unserer Behauptung zu überzeugen.

In einer revolutionären Epoche aber darf man sich nicht auf die Feststellung der nächsten politischen Aufgaben beschränken, und zwar darf man es nicht aus zwei Gründen. Erstens treten in solchen Epochen die Grundaufgaben der sozialdemokratischen Bewegung in den Vordergrund, verlangen eine gründliche Untersuchung in viel höherem Maße, als es in Epochen des „friedlichen" und konstitutionellen Kleinkrams der Aufbauarbeit der Fall ist. Zweitens kann man in einer solchen Epoche nicht die nächsten politischen Aufgaben bestimmen, denn die Revolution zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass ein jäher Wechsel der Erscheinungen, schnelle Wendungen, unerwartete Situationen, schroffe Zusammenstöße möglich und unvermeidlich sind. Man braucht nur auf die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der gewaltsamen Auflösung einer linken Duma und der Änderung des Wahlgesetzes im Geiste des Schwarzen Hunderts hinzuweisen, um das zu begreifen.

Für die Österreicher beispielsweise war es eine leichte Sache, ihre „nächste" Aufgabe zu bestimmen: den Kampf für das allgemeine Wahlrecht, in einer Zeit, als alle Anzeichen darauf hindeuteten, dass die Ära einer mehr oder minder friedlichen, folgerichtigen und kontinuierlichen konstitutionellen Entwicklung fortdauert. Wie aber ist es bei uns? Sprechen nicht sogar die Menschewiki in der oben erwähnten Resolution davon, dass ein friedlicher Weg unmöglich ist, dass es notwendig ist, nicht Fürsprecher, sondern Kämpfer in die Duma zu wählen? Erkennen sie etwa den Kampf für die konstituierende Versammlung nicht an? Man stelle sich einmal ein europäisches Land vor, in dem sich die konstitutionelle Ordnung herausgebildet und für eine gewisse Zeit befestigt hat und in dem die Rede sein könnte von der Losung: „Konstituierende Versammlung", in dem man geneigt wäre, den „Fürsprecher" im Parlament dem „Kämpfer" gegenüberzustellen – und man wird begreifen, dass man unter solchen Bedingungen die „nächsten" Aufgaben nicht so festlegen kann, wie man es jetzt im Westen tut. Je erfolgreicher die parlamentarische Arbeit der Sozialdemokratie und der revolutionären bürgerlichen Demokratie sein wird, um so wahrscheinlicher wird es zu einem Ausbruch des außerparlamentarischen Kampfes kommen, der uns ganz besondere nächste Aufgaben stellen wird.

Nein. Wir müssen auf dem Parteitag nicht so sehr die nächsten, als vielmehr die Grundaufgaben des Proletariats im gegenwärtigen Augenblick der bürgerlichen Revolution besprechen. Sonst können wir in die Lage von Leuten geraten, die hilflos sind und bei jeder Wendung der Ereignisse den Kopf verlieren (wie es bereits mehr als einmal im Jahre 1906 der Fall gewesen ist). Die „nächsten" Aufgaben können wir ohnehin nicht feststellen, – wie ja auch niemand voraussagen kann, ob sich die zweite Duma und das Wahlgesetz vom 24. (11.) Dezember 1905 eine Woche, einen Monat oder ein halbes Jahr halten werden. Die gesamte Partei aber hat bisher noch nicht eine Auffassung von den Grundaufgaben des sozialdemokratischen Proletariats in unserer Revolution herausgearbeitet. Ohne eine solche einheitliche Auffassung aber ist eine zielbewusste, grundsätzliche Politik unmöglich – alles Jagen nach Festlegung der „nächsten" Aufgaben muss erfolglos verlaufen.

Der Vereinigungsparteitag hat keine Resolution zur politischen Lage und zu den Aufgaben des Proletariats in der Revolution angenommen, trotzdem beide Richtungen der sozialdemokratischen Partei entsprechende Entwürfe eingereicht hatten, trotzdem die politische Lage einen besonderen Tagesordnungspunkt bildete und auf dem Parteitage erörtert wurde. Jedermann also hielt diese Fragen für wichtig, die Mehrheit des Stockholmer Parteitages aber war der Ansicht, dass sie im damaligen Zeitpunkt noch nicht genügend geklärt waren. Es ist notwendig, diese Fragen von neuem zu untersuchen. Wir müssen prüfen, erstens, wie die gegenwärtige revolutionäre Lage nach den Grundtendenzen der gesellschaftlich-ökonomischen und politischen Evolution zu bewerten ist; zweitens, wie sich die Klassen (und Parteien) im heutigen Russland politisch gruppieren; drittens, welches die Grundaufgaben der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in einem solchen Augenblick, bei einer solchen politischen Gruppierung der gesellschaftlichen Kräfte sind.

Wir verschließen unsere Augen natürlich nicht vor der Tatsache, dass gewisse Menschewiki (vielleicht aber auch das ZK) unter der Frage der nächsten politischen Aufgaben ganz einfach die Frage der Unterstützung der Forderung einer Duma-, d. h. einer Kadettenregierung verstanden haben.

Plechanow hat sich schon mit dem ihm eigenen – und natürlich höchst lobenswerten – Ungestüm, mit dem er die Menschewiki nach rechts drängt, in der „Russkaja Schisn" vom 8. März (23. Februar) für die Unterstützung dieser Forderung eingesetzt.1

Wir glauben, dass das eine wichtige, aber untergeordnete Frage ist und dass Marxisten sie nicht isoliert behandeln können, d. h. ohne den gegenwärtigen Augenblick unserer Revolution, das Klassengepräge der Kadettenpartei und die ganze politische Rolle, die sie gegenwärtig spielt, zu beurteilen. Diese Frage auf eine reine politische Kombinationsaufgabe, auf das „Prinzip" der Verantwortlichkeit des Kabinetts vor dem Parlament in der konstitutionellen Ordnung überhaupt zu reduzieren, hieße den Standpunkt des Klassenkampfes restlos aufgeben und sich auf den Standpunkt der Liberalen stellen.

Aus diesem Grunde hat unsere Konferenz die Frage der Kadettenregierung mit der Bewertung des gegenwärtigen Augenblicks der Revolution in Verbindung gebracht.

In der entsprechenden Resolution beginnen wir, in der Begründung, vor allem mit der Frage, die alle Marxisten als Grundfrage ansehen, mit der Frage der Wirtschaftskrise und der wirtschaftlichen Lage der Massen. Die Konferenz hat die Formel angenommen, dass „keine Anzeichen einer baldigen Liquidierung der Krise vorhanden sind". Diese Formel ist wohl zu vorsichtig. Für die sozialdemokratische Partei aber ist es natürlich wichtig, unbestreitbare Tatsachen festzustellen, die Grundlinien aufzuzeigen, während es der Parteiliteratur überlassen bleibt, die Frage wissenschaftlich zu bearbeiten.

Wir stellen fest (Punkt 2 der Begründung), dass sich auf dem Boden der Krise der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie verschärft (eine unzweifelhafte Tatsache, die Anzeichen dieser Verschärfung sind allgemein bekannt), und dann, dass sich der soziale Kampf im Dorfe verschärft. Im Dorfe gibt es keine Ereignisse, die in die Augen springen, wie z. B. Aussperrungen, aber schon solche Maßregeln der Regierung wie die Agrargesetze vom November („Bestechung der bäuerlichen Bourgeoisie") zeugen davon, dass sich der Kampf verschärft, dass die Großgrundbesitzer gezwungen sind, alle ihre Kräfte auf die Spaltung der Bauernschaft zu richten, um den Ansturm der gesamten Bauernschaft zu schwächen.

Wozu diese Anstrengungen letzten Endes führen werden, wissen wir nicht. Alle „unvollendeten" (Marxscher Ausdruck) bürgerlichen Revolutionen „endeten" mit dem Übergang der wohlhabenden Bauernschaft auf die Seite der Ordnung. Die Sozialdemokratie muss jedenfalls alles tun, was in ihren Kräften steht, um die Entwicklung des Bewusstseins der breitesten Schichten des Bauerntums zu fördern, um ihnen den Sinn des Klassenkampfes, der im Dorfe vor sich geht, klarzumachen.

Im dritten Punkt wird dann die wichtigste Tatsache der politischen Geschichte Russlands im Laufe des letzten Jahres festgestellt: „Rechtsentwicklung" der oberen und „Linksentwicklung" der unteren Klassen. Wir haben geglaubt, dass die Sozialdemokratie, insbesondere in revolutionären Epochen, auf ihren Parteitagen aus den Perioden der gesellschaftlichen Entwicklung das Fazit ziehen muss, wobei sie ihre marxistischen Forschungsmethoden anwendet und andere Klassen lehrt, auf das Vergangene zurückzublicken und politische Ereignisse zu betrachten vom grundsätzlichen Standpunkt, nicht aber vom Standpunkt eines Augenblicksinteresses oder eines Erfolges für einige Tage, wie es die Bourgeoisie tut, die eigentlich jede Theorie verachtet und jede Klassenanalyse der Zeitgeschichte fürchtet.

Eine Stärkung der Extreme ist eine Schwächung der Mitte. Die Mitte sind nicht die Oktobristen, wie gewisse Sozialdemokraten (darunter auch Martow) fälschlich angenommen haben, sondern die Kadetten. Worin besteht die objektiv geschichtliche Aufgabe dieser Partei? Diese Frage müssen die Marxisten beantworten, wenn sie ihrer Lehre treu bleiben wollen. Die Resolution antwortet: „Indem Abbruch der Revolution auf dem Wege von Zugeständnissen, die für die Schwarzhundert-Großgrundbesitzer und den Absolutismus annehmbar sind" (denn die Kadetten sind für eine freiwillige Vereinbarung). In der bekannten Arbeit K. Kautskys „Die soziale Revolution" wird sehr gut auseinandergesetzt, dass sich die Reform von der Revolution dadurch unterscheidet, dass die Macht in den Händen der Unterdrückerklasse bleibt, die den Aufstand der Unterdrückten mit Hilfe von Zugeständnissen niederhält, die für die Unterdrücker ohne Vernichtung ihrer Macht annehmbar sind.2

Die objektive Aufgabe der liberalen Bourgeoisie in der bürgerlich-demokratischen Revolution besteht gerade darin, um den Preis von „vernünftigen" Zugeständnissen die Monarchie und die Grundbesitzerklasse zu erhalten.

Ist diese Aufgabe zu verwirklichen? Das hängt von den Umständen ab. Als unbedingt unverwirklichbar kann sie der Marxist nicht ansehen. Ein solcher Ausgang der bürgerlichen Revolution aber bedeutet: erstens, geringste Freiheit für die Entwicklung der Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft (der wirtschaftliche Fortschritt Russlands wird bei revolutionärer Vernichtung des Großgrundbesitzes viel schneller vonstatten gehen als bei der Umgestaltung des Großgrundbesitzes nach dem Kadettenplan); zweitens, Nichtbefriedigung der wichtigsten Bedürfnisse der Volksmassen und drittens, Notwendigkeit gewaltsamer Unterdrückung der Volksmassen. Ohne gewaltsame Unterdrückung der Massen ist die kadettische „friedliche" konstitutionelle Entwicklung nicht zu verwirklichen. Das müssen wir fest im Gedächtnis behalten und dem Bewusstsein der Massen einprägen. Der „soziale Frieden" der Kadetten ist ein Friede für den Großgrundbesitzer und für den Fabrikanten, ist der „Friede" des unterdrückten Aufstandes der Bauern und Arbeiter.

Die mit Hilfe der Feldgerichte durchgeführten Stolypinschen Repressalien und die „Reformen" der Kadetten, das sind zwei Hände ein und desselben Unterdrückers.

II.3

Acht Tage sind seit der Veröffentlichung unseres ersten Artikels über dieses Thema verstrichen, und das politische Leben hat schon eine ganze Reihe von wichtigen Ereignissen gezeitigt, die unsere damaligen Ausführungen bestätigt und die damals von uns angeschnittenen aktuellen Fragen ins helle Licht der „vollzogenen (oder sich vollziehenden?) Tatsache" gesetzt haben.

Die Rechtsschwenkung der Kadetten hat schon der Duma ihren Stempel aufgedrückt. Roditschew unterstützt Stolypin dadurch, dass er Mäßigung, Vorsicht, Gesetzlichkeit, Beruhigung, Nichtaufreizung des Volkes propagiert, und Stolypin lässt Roditschew seine Unterstützung, die berühmte „allseitige" Unterstützung zuteil werden – und diese gegenseitige Unterstützung ist schon zu einer Tatsache geworden.4

Diese Tatsache hat die Richtigkeit unserer Analyse der gegenwärtigen politischen Lage bestätigt, der Analyse, die wir noch vor Eröffnung der zweiten Duma in unseren Resolutionsentwürfen gegeben haben, die in der Zeit vom 28. (15.) Februar bis 3. März (18. Februar) ausgearbeitet wurden. Wir haben es abgelehnt, dem Vorschlag des ZK stattzugeben und die „nächsten politischen Aufgaben" zu besprechen, wir haben aufgezeigt, dass ein solcher Vorschlag in einer revolutionären Epoche absolut keiner Kritik standhält, und haben diese Frage der Politik des Augenblicks durch die Frage der Grundlagen der sozialistischen Politik in der bürgerlichen Revolution ersetzt.

Und eine Woche revolutionärer Entwicklung hat vollauf bestätigt, was wir vorausgesehen haben.

Wir haben voriges Mal den Teil unseres Revolutionsentwurfes erörtert, in dem wir unsere Forderungen begründen. Der Mittelpunkt dieses Teiles war die Feststellung der Tatsache, dass die geschwächte Partei der „Mitte", d. h. die liberal-bürgerliche Partei der Kadetten, bestrebt ist, die Revolution mit Hilfe von Zugeständnissen, die für die Schwarzhundert-Großgrundbesitzer und für den Absolutismus annehmbar sind, zum Abschluss zu bringen.

Noch gestern, kann man wohl sagen, haben Plechanow und seine Gesinnungsgenossen vom rechten Flügel der SDAPR diesen Gedanken des Bolschewismus, den wir im Laufe des ganzen Jahres 1906 (und sogar früher, seit 1905, seit dem Erscheinen der Broschüre „Zwei Taktiken") hartnäckig vertreten haben, für eine halb fanatische Mutmaßung, die der Rebellenauffassung von der Rolle der Bourgeoisie entspringt, oder zumindest für eine unzeitgemäße Warnung usw. erklärt.

Heute sehen alle, dass wir recht hatten. Das „Bestreben" der Kadetten beginnt sich zu verwirklichen, und sogar eine solche Zeitung, wie der „Towarischtsch", die wohl mehr als alle anderen den Bolschewismus wegen seiner rücksichtslosen Entlarvung der Kadetten hasst, sagt anlässlich der von der „Rjetsch" dementierten Gerüchte* über die Verhandlungen der Kadetten mit der Schwarzhundertregierung: „Kein Rauch ohne Feuer".5

Es bleibt uns nur übrig, diesen Wiederbeginn der „bolschewistischen Woche" im „Towarischtsch" zu begrüßen. Es bleibt uns nur übrig, zu verzeichnen, dass die Geschichte alle unsere Warnungen und Losungen bestätigt hat, dass die Geschichte den ganzen Leichtsinn (bestenfalls Leichtsinn) jener „Demokraten" und leider sogar gewisser Sozialdemokraten entlarvt hat, die mit einer Handbewegung über unsere Kritik an den Kadetten hinweggegangen sind.

Wer hat in der Epoche der ersten Duma gesagt, dass die Kadetten hinter dem Rücken des Volkes mit der Regierung schachern? Die Bolschewiki. Und dann hat sich herausgestellt, dass solch ein Mensch wie Trepow für eine Kadettenregierung war.

Wer hat am energischsten die Enthüllungskampagne geführt, als Miljukow am 28. (15.) Januar mitten im Wahlkampf (angeblichen Kampf), den die Partei der angeblichen Volksfreiheit gegen die Regierung führte, Stolypin einen Besuch abgestattet hat? Die Bolschewiki.

Wer hat in den Petersburger Wahlversammlungen und in den ersten Tagen der zweiten Duma (siehe die Zeitung „Nowyj Lutsch") daran erinnert, dass die Zwei-Milliarden-Franken-Anleihe von 1906 den Dubassow und Co. tatsächlich mit indirekter Hilfe der Kadetten gegeben worden ist, die Clemenceaus formellen Vorschlag, die Partei solle sich öffentlich gegen diese Anleihe wenden, abgelehnt haben? Die Bolschewiki.

Wer hat am Vorabend der zweiten Duma die Entlarvung des „verräterischen Charakters der Politik der Kadetten" als die Kernfrage der Politik einer folgerichtigen (d. h. proletarischen) Demokratie behandelt? Die Bolschewiki.

Der leiseste Hauch genügte, um alles Gerede von der Unterstützung der Forderung einer Dumaregierung oder einer verantwortlichen Regierung, oder der Forderung, die ausführende Gewalt der gesetzgebenden unterzuordnen usw., wie ein Flöckchen fortzublasen. Plechanows Träume, aus dieser Losung ein Signal zum entscheidenden Kampf oder ein Mittel zur Aufklärung der Massen zu machen, haben sich als Träume eines gutmütigen Philisters erwiesen. Sicherlich wird sich jetzt schon niemand mehr finden, der sich dazu entschließen könnte, ernstlich solche Losungen zu unterstützen. Das Leben hat gezeigt – oder richtiger gesagt, zu zeigen begonnen –, dass es sich hier in Wirklichkeit durchaus nicht um das „Prinzip" einer vollständigeren oder folgerichtigeren Durchführung des „konstitutionellen Prinzips", sondern eben um einen Kuhhandel der Kadetten mit der Reaktion handelt. Das Leben hat gezeigt, dass diejenigen recht hatten, die hinter dem liberalen Äußeren des angeblich fortschrittlichen allgemeinen Prinzips die engen Klasseninteressen des erschrockenen Liberalen erkannten und aufzeigten, der hässliche und schmutzige Sachen mit schönen Worten bezeichnet.

Die Richtigkeit der Schlussfolgerungen unserer ersten Resolution ist somit viel schneller und viel besser, als wir erwarten konnten, bestätigt worden: nicht durch die Logik, sondern durch die Geschichte; nicht durch Worte, sondern durch Taten; nicht durch Beschlüsse der Sozialdemokraten, sondern durch die Ereignisse der Revolution.

Erste Schlussfolgerung: „Die politische Krise, die sich vor unseren Augen entwickelt, ist keine konstitutionelle, sondern eine revolutionäre Krise, die zum unmittelbaren Kampf der Massen des Proletariats und der Bauernschaft gegen den Absolutismus führt."

Zweite Schlussfolgerung, die sich unmittelbar aus der ersten ergibt: „Die bevorstehende Dumakampagne ist daher nur als eine Episode im revolutionären Kampf des Volkes um die Macht zu betrachten und auszunützen."

Worin besteht der Unterschied zwischen einer konstitutionellen und einer revolutionären Krise? Darin, dass die erstere auf dem Boden der gegebenen Grundgesetze und Ordnung des Staates gelöst werden kann, während die zweite einen Bruch dieser Gesetze und der feudalen Ordnung erfordert. Bis jetzt hat die gesamte russische Sozialdemokratie ohne Unterschied der Fraktion den Gedanken geteilt, der in unseren Schlussfolgerungen ausgedrückt wird.

Erst in der allerletzten Zeit hat sich unter den Menschewiki die Richtung verstärkt, die zu der gerade entgegengesetzten Ansicht neigt, dass es nämlich nötig sei, die Gedanken an den revolutionären Kampf aufzugeben, bei der gegebenen „Konstitution" zu bleiben und auf ihrem Boden zu wirken. Hier die bemerkenswerten Punkte des Resolutionsentwurfs über das Verhältnis zur Reichsduma, der von den Genossen Dan, Kolzow, Martynow, Martow, Njegorjew u. a. unter Mitbeteiligung einer Gruppe von Praktikern ausgearbeitet und in Nr. 47 der „Russkaja Schisn" (und auch als besonderes Flugblatt) veröffentlicht worden ist:

„… 2. die Aufgabe des unmittelbaren Kampfes um die Macht, die im Mittelpunkt der russischen Revolution steht, läuft (?) bei dem gegenwärtigen Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte (?) hauptsächlich auf die Frage (?) des Kampfes um (?) die Volksvertretung hinaus;

3. die Wahlen zur zweiten Duma, die eine bedeutende Anzahl von folgerichtigen (?) Anhängern der Revolution ergeben haben, haben gezeigt, dass in den Volksmassen das Bewusstsein der Notwendigkeit dieses (?) Kampfes um die Macht reift" …

So wirr, so konfus auch diese Punkte dargelegt werden, ihre Tendenz ist klar ersichtlich: an Stelle des revolutionären Kampfes des Proletariats und der Bauernschaft um die Macht, Beschränkung der Aufgaben der Arbeiterpartei auf den liberalen Kampf um die gegebene Volksvertretung oder auf den Kampf auf ihrem Boden. Es bleibt abzuwarten, ob alle Menschewiki jetzt oder auf dem 5. Parteitag eine solche Fragestellung wirklich für richtig halten.

Jedenfalls werden die Rechtsschwenkung der Kadetten und die „allseitige" Billigung, die ihnen von Stolypin zuteil wird, bald den rechten Flügel unserer Partei zwingen, klar und deutlich auf die Frage zu antworten: entweder die Politik der Unterstützung der Kadetten fortzusetzen und somit endgültig den Weg des Opportunismus zu beschreiten, oder ganz und gar Schluss zu machen mit der Unterstützung der Kadetten und die Politik der sozialistischen Selbständigkeit des Proletariats und des Kampfes für die Befreiung des demokratischen Kleinbürgertums vom Einfluss und von der Hegemonie der Kadetten anzunehmen.

Dritte Schlussfolgerung unserer Resolution: „Die Sozialdemokratie, als Partei der fortgeschrittensten Klasse, kann in keinem Fall gegenwärtig die Kadettenpolitik im Allgemeinen und eine Kadettenregierung im Besonderen unterstützen. Die Sozialdemokratie muss alle Anstrengungen machen, den verräterischen Charakter dieser Politik vor den Massen aufzudecken, den Massen die revolutionären Aufgaben, die ihrer harren, klarzumachen, ihnen beweisen, dass nur dann, wenn die Massen einen hohen Grad von Bewusstsein und Organisiertheit bekunden, die möglichen Zugeständnisse des Absolutismus sich aus einem Werkzeug des Betrugs und der Korrumpierung in ein Werkzeug der weiteren Entwicklung der Revolution verwandeln können."

Wir stellen nicht überhaupt die Möglichkeit teilweiser Zugeständnisse in Abrede und verschwören uns nicht, sie nicht auszunützen. Der Text der Resolution lässt darüber keinen Zweifel. Es ist auch möglich, dass auch eine Kadettenregierung in dieser oder jener Beziehung in die Kategorie der „Zugeständnisse des Absolutismus" eingereiht werden wird. Aber die Partei der Arbeiterklasse, die es nicht ablehnt, „Ratenzahlungen" (ein Ausdruck Engels'6) anzunehmen, darf keinesfalls eine andere besonders wichtige und von den Liberalen und Opportunisten besonders unbeachtete Seite der Sache vergessen: die Rolle der „Zugeständnisse" als Werkzeug des Betrugs und der Korrumpierung.

Der Sozialdemokrat, der sich nicht in einen bürgerlichen Reformisten verwandeln will, darf diese Seite nicht vergessen. Die Menschewiki vergessen sie unverzeihlicherweise und sagen in der oben genannten Resolution:

„… die Sozialdemokratie wird alle Anstrengungen der Duma, sich die ausführende Gewalt unterzuordnen, unterstützen" …

Die Anstrengungen der Reichsduma, das bedeutet, die Anstrengungen der Dumamehrheit. Wie schon die Erfahrung gezeigt hat, kann sich eine aus Rechten und Kadetten zusammengesetzte und gegen die Linken gerichtete Dumamehrheit bilden. Die „Anstrengungen" einer solchen Mehrheit können sich die „ausführende Gewalt" so unterordnen, dass dadurch die Lage des Volkes verschlechtert oder das Volk offen betrogen wird.

Wir wollen hoffen, dass sich hier die Menschewiki einfach haben hinreißen lassen: alle Bemühungen der Mehrheit der jetzigen Duma in der erwähnten Richtung werden sie nicht unterstützen. Aber es ist natürlich bezeichnend, dass hervorragende Führer des Menschewismus eine solche Formulierung annehmen konnten.

Die Rechtsschwenkung der Kadetten zwingt tatsächlich alle Sozialdemokraten ohne Unterschied der Fraktionen, sich eine Politik zu eigen zu machen, die die Unterstützung der Kadetten ablehnt, eine Politik der Entlarvung ihres Verrats, die Politik der selbständigen und folgerichtig revolutionären Partei der Arbeiterklasse.

1 Lenin meint den Artikel G. Plechanows: „Über die neue Duma" („Russkaja Shisn" Nr. 46 vom 8. März [23. Februar] 1907).

2 Lenin meint folgende Stelle aus der Broschüre K. Kautskys: „Die soziale Revolution. I. Sozialreform und soziale Revolution": „Maßregeln, die dahin streben, den juristischen und politischen Überbau der Gesellschaft den veränderten ökonomischen Bedingungen anzupassen, sind Reformen, wenn sie von Klassen durchgeführt werden, die die Gesellschaft bisher politisch und ökonomisch beherrschten; sie sind Reformen, auch wenn sie nicht freiwillig gegeben, sondern durch das Andrängen der beherrschten Klassen oder durch die Macht der Umstände abgerungen werden. Dagegen sind derartige Maßregeln Ausflüsse einer Revolution, wenn sie von einer Klasse ausgehen, die bisher ökonomisch und politisch unterdrückt gewesen und die nun die politische Macht erobert hat, welche sie in ihrem eigenen Interesse notwendigerweise dazu benützen muss, den ganzen politischen und juristischen Überbau langsamer oder schneller umzuwälzen und neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenwirkens zu schaffen." (Verlag: Buchhandlung Vorwärts, Berlin, dritte durchgesehene Auflage. „Der Begriff der sozialen Revolution", S. 8 u. 9.)

3 Das zweite Kapitel des Artikels „Die Plattform der revolutionären Sozialdemokratie" wurde mehr als eine Woche nach dem ersten geschrieben. Der erste Teil erschien am 17. (4.) März 1907 im Druck („Proletarij" Nr. 14), der zweite am 7. April (25. März) 1907 („Proletarij" Nr. 15).

4 Zwecks Untersuchung der Maßnahmen der Regierung zur Unterstützung der Hungernden schlug die sozialdemokratische Fraktion der zweiten Duma die Bildung einer parlamentarischen Kommission vor, die u. a. die Lage in den betroffenen Gebieten untersuchen sollte. Daraufhin erklärte Roditschew, dass „die Entsendung fahrender Kontrolleure durch die Duma keine amtliche Maßnahme sei" und dass die Kompetenz der Kommission auf die Kontrolle des Ministerialberichtes in Petersburg beschränkt bleiben müsse. („Stenographischer Bericht der zweiten Reichsduma", Bd. I, S. 274.) Stolypin erklärte seinerseits, dass „sich die Regierung restlos und aus ganzem Herzen dem Vorschlag Roditschews anschließe" (ebendort, S. 331).

* Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als wir im Leitartikel der „Rjetsch" vom 26. (13.) März lasen: „Sobald genaue Angaben über die viel genannten Verhandlungen der Kadetten mit der Regierung im Juni vorigen Jahres veröffentlicht werden, wird das Land erfahren, dass man den Kadetten wegen dieser Verhandlungen ,hinter dem Rücken des Volkes' wohl kaum irgend etwas anders vorwerfen kann, als vielleicht nur die Unnachgiebigkeit, von der die .Rossija' spricht." Ja, eben, „sobald sie veröffentlicht werden!" Einstweilen aber veröffentlichen die Kadetten trotz aller Aufforderungen, die an sie gerichtet werden, weder „genaue Angaben" über die Verhandlungen vom Juni 1906, noch über die Verhandlungen vom Januar 1907 (am 28. [15.] Januar fand der Besuch Miljukows bei Stolypin statt) noch über die Verhandlungen im März 1907. Und die Tatsache der Verhandlungen hinter dem Rücken des Volkes bleibt eine Tatsache.

5 Lenin meint den Leitartikel: „Zu den Gerüchten" („Towarischtsch" Nr. 213 vom 24. [11.] März 1907).

6 Lenin zitiert die Arbeit von F. Engels: „Zur Wohnungsfrage". Engels, der sich gegen die proudhonistische Fragestellung betreffend die Ablösung wandte, schrieb: „Überhaupt handelt es sich nicht um die Frage, ob das Proletariat, wenn es zur Macht gelangt, die Produktionsinstrumente, die Rohstoffe und Lebensmittel einfach gewaltsam in Besitz nimmt, ob es sofort Entschädigung zahlt oder das Eigentum daran durch langsame Ratenzahlungen ablöst. Eine solche Frage im Voraus und für alle Fälle beantworten zu wollen, hieße Utopien fabrizieren, und das überlasse ich andern." („Elementarbucher des Kommunismus", Bd. 17, Internationaler Arbeiter-Verlag, Berlin, S. 107.)

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