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Wladimir I. Lenin 19070224 Die zweite Duma und die zweite Welle der Revolution

Wladimir I. Lenin: Die zweite Duma und die zweite Welle der Revolution

[Proletarij" Nr. 13, 24. (11.) Februar 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 492-497]

Die Ereignisse vollziehen sich mit einer Geschwindigkeit, die man als geradezu revolutionär bezeichnen muss. Vor vier Tagen schrieben wir anlässlich der Wahlkampagne in Petersburg, dass man schon erkennen könne, wie sich die politischen Kräfte gruppieren würden: Die revolutionäre Sozialdemokratie allein erhebt selbständig, entschlossen und stolz das Banner des rücksichtslosen Kampfes gegen die Gewalttaten der Reaktion und die Heuchelei der Liberalen. Die kleinbürgerliche Demokratie, einschließlich des kleinbürgerlichen Teiles der Arbeiterpartei, schwankt, sie wendet sich bald den Liberalen, bald den revolutionären Sozialdemokraten zu.

Heute finden die Wahlen in Petersburg statt. Ihre Ergebnisse können das von uns aufgezeigte politische Kräfteverhältnis nicht ändern. Die gestrigen Dumawahlen, bei denen bereits 217 von 524 Dumamitgliedern, d. h. mehr als zwei Fünftel, gewählt wurden, geben ein klares Bild von der Zusammensetzung der zweiten Duma, geben ein klares Bild der politischen Lage, die sich vor unsern Augen gestaltet.

Nach den Angaben der „Rjetsch"1, die natürlich geneigt ist, die Dinge in einem für die Kadetten günstigen Licht zu schildern, verteilen sich die gewählten 205 Dumamitglieder folgendermaßen: Rechte 37, autonomistische Nationalisten 24, Kadetten 48, Progressisten und Parteilose 16, Parteilose Linke 40, Narodniki 20 (13 Trudowiki, 6 Sozialrevolutionäre und Volkssozialisten) und 20 Sozialdemokraten.

Die neue Duma wird also zweifellos radikaler sein als die alte. Wenn die weiteren Wahlen ebensolche Ergebnisse zeitigen, so erhalten wir auf 500 Dumamitglieder ungefähr folgende Zahlen: Rechte 90, Nationalisten 50, Kadetten 125, Progressisten 35, Parteilose Linke 100, Narodniki und Sozialdemokraten je 50. Das ist natürlich nur eine ungefähre Berechnung, die wir der Anschaulichkeit halber machen, indes kann jetzt die Richtigkeit der ungefähren Zahlen wohl kaum mehr angezweifelt werden.

Ein Fünftel Rechte; zwei Fünftel – gemäßigte Liberale (liberale monarchistische Bourgeois, einschließlich der Nationalisten, Kadetten und einer progressistischen Gruppe oder gar aller Progressisten); zwei Fünftel Linke (und zwar ein Fünftel Parteilose und je ein Zehntel Narodniki und Sozialdemokraten) – so dürfte nach unserer Meinung auf Grund der vorläufigen Ergebnisse die zweite Duma zusammengesetzt sein.

Was bedeutet das aber?

Die wildeste, schamloseste Willkür der Schwarzhundertregierung, der reaktionärsten Regierung in ganz Europa. Das reaktionärste Wahlgesetz in ganz Europa. Die revolutionärste Zusammensetzung der Volksvertretung in ganz Europa – in dem zurückgebliebensten Lande! Dieser Widerspruch, der in die Augen springt, lässt mit der größten Anschaulichkeit den Grundwiderspruch des gesamten gegenwärtigen russischen Lebens, lässt das ganze revolutionäre Gepräge des gegenwärtigen Augenblicks erkennen.

Seit dem großen Tag des 22. (9.) Januar 1905 sind zwei Jahre Revolution verstrichen. Wir haben lange und schwere Zeiten wütender Reaktion durchgemacht. Wir haben kurze „Lichtblicke" der Freiheit erlebt. Wir haben zwei große spontane Volksbewegungen erlebt: den Streikkampf und den bewaffneten Kampf. Wir haben eine Duma und zwei Wahlen erlebt, die eine endgültige Gruppierung der Parteien gebracht haben, die die Bevölkerung, die noch vor kurzem keinen Begriff von irgendwelchen politischen Parteien hatte, in ganz scharf voneinander getrennte Gruppen gespalten hat.

Diese zwei Jahre haben den Glauben an die Einheit der Befreiungsbewegung, der bei den einen naiv, bei den andern grob eigennützig war, zerstört und eine Reihe von Illusionen über den friedlichen, konstitutionellen Weg zertrümmert. Im Laufe dieser zwei Jahre haben wir uns die Erfahrung der verschiedenen Formen des Massenkampfes angeeignet, sind bis zu der grausamsten und äußersten, bis zu der letzten denkbaren Kampfesweise gegangen, bis zum bewaffneten Kampf zwischen zwei verschiedenen Teilen der Bevölkerung. Die Bourgeoisie und die Grundherren sind in Zorn und Wut geraten. Der Spießbürger ist müde geworden. Zermürbt und ermattet ist der russische Intellektuelle. Die Partei der liberalen Schwätzer und der liberalen Verräter, der Kadetten, hat ihr Haupt erhoben, sie rechnet auf die Revolutionsmüdigkeit und gibt ihre knechtische Bereitschaft zu jeder erdenklichen Niedertracht für ihre Hegemonie aus.

Unten aber, in der Tiefe der proletarischen Massen und der Massen der zugrunde gerichteten, hungrigen Bauernschaft ist die Revolution vorwärts gegangen, hat unhörbar und unmerklich die Pfeiler des Staates untergraben, die Schläfrigsten durch den Donner des Bürgerkrieges geweckt, die Unbeweglichsten durch den raschen Wechsel von „Freiheiten" und brutalen Unterdrückungsmethoden, von Stille und parlamentarischem Rummel, von Wahlen, Versammlungen und dem Fieber der „Gewerkschafts"-Arbeit aufgerüttelt.

Das Ergebnis ist eine neue, noch radikalere Duma und die Aussicht auf eine neue, noch drohendere und noch unzweifelhaftere revolutionäre Krise.

Auch Blinde müssen jetzt sehen, dass wir eben eine revolutionäre und nicht eine konstitutionelle Krise vor uns haben. Zweifel sind unmöglich. Die Tage der russischen Konstitution sind gezählt. Unerbittlich naht ein neuer Kampf: entweder siegt das revolutionäre Volk, oder die zweite Duma verschwindet ebenso ruhmlos wie die erste, und dann folgt die Aufhebung des Wahlgesetzes und die Rückkehr zum Schwarzhundert-Absolutismus sans phrases2.

Wie kläglich wirken plötzlich unsere „theoretischen" Streitereien aus der jüngsten Vergangenheit – jetzt, wo sie von einem leuchtenden Strahl der aufgehenden Sonne der Revolution ins Helle gerückt werden! Machen die Klagen, in denen sich der traurige, erschrockene, kleinmütige Intellektuelle bei den Wahlen über die Schwarzhundert-Gefahr ergeht, nicht einen lächerlichen Eindruck? Hat sich nicht glänzend bestätigt, was wir im November (Nr. 8 des „Proletarij") gesagt haben: „Mit ihrem Geschrei über die Schwarzhundert-Gefahr führen die Kadetten die Menschewiki an der Nase herum, um die Gefahr, die ihnen von links droht, von sich abzulenken“?

Die Revolution lehrt. Die Revolution führt mit Gewalt diejenigen in die revolutionäre Bahn zurück, die aus Charakterlosigkeit oder Geistesschwäche ständig vom Wege abweichen. Die Menschewiki wollten Blocks mit den Kadetten, wollten die Einheit der „Opposition“, die Möglichkeit, „die Duma als Ganzes auszunützen“. Sie taten alles Mögliche (und alles Unmögliche – sie gingen bis zur Spaltung der Partei, wie z. B. in Petersburg), um eine von Liberalen beherrschte Duma zu bekommen.

Nichts ist dabei herausgekommen. Die Revolution ist stärker, als die opportunistischen Kleingläubigen annehmen. Unter der Hegemonie der Kadetten kann die Revolution nur im Staube liegen, siegen kann sie nur unter der Hegemonie der bolschewistischen Sozialdemokratie.

Wir erhalten genau solch eine Duma, wie wir es in unserer Polemik mit den Menschewiki in Nr. 8 des „Proletarij“ (November 1906) vorausgesagt haben. Es ist eine Duma der schroffsten Gegensätze, eine Duma, deren gemäßigte und sittsame Mitte von der revolutionären Flut weggespült worden ist, eine Duma der Kruschewan und des revolutionären Volkes. Die bolschewistische Sozialdemokratie wird in dieser Duma hoch ihr Banner erheben und der Masse der kleinbürgerlichen Demokraten sagen, was sie ihnen bei den Petersburger Wahlen gesagt hat: wählt zwischen dem Kuhhandel, den die Kadetten mit Stolypin betrieben haben, und dem gemeinsamen Kampf in den Reihen der Volksmassen! Wir, das Proletariat ganz Russlands, sind zu diesem Kampf bereit. Uns folgen alle diejenigen, die wollen, dass das Volk Freiheit, dass der Bauer Land erhalte!

Der Kadett merkt schon, dass der Wind von einer andern Seite zu blasen beginnt, dass das politische Barometer schnell fällt. Nicht umsonst sind alle möglichen Miljukow so nervös geworden, dass sie ihr wahres Gesicht gezeigt haben und über die „roten Fetzen“ auf der Straße jammern (in den Gemächern der Stolypin haben diese Gesellen stets im Geheimen auf den „roten Fetzen" geschimpft!). Nicht umsonst redet die heutige „Rjetsch" (vom 20. [7.] Februar) von den „Sprüngen" des politischen Barometers, von dem Schwanken der Regierung „zwischen der Demission des Kabinetts und irgendeinem Pronunciamento3, oder einem reaktionär-militärischen Pogrom, der schon auf den 27. (14.) anberaumt wird". Und die entmannte Seele des russischen Liberalen weint beklommen: sollte wirklich wieder die „Politik der spontanen Reflexe" einsetzen .. .?

Ja, traurige Helden einer traurigen unheilvollen Zeit! Wieder Revolution. Begeistert begrüßen wir die herannahende Woge des elementaren Volkszornes. Aber wir werden alles tun, was von uns abhängt, um dafür zu sorgen, dass der neue Kampf möglichst wenig spontan, und möglichst bewusst, konsequent und standhaft durchgeführt werde.

Die Regierung hat bereits seit langem alle Räder ihrer Maschine der Gewalttätigkeiten, der Pogrome, der viehischen Rohheiten, des Betrugs und der Verdummung in Gang gesetzt. Jetzt aber sind alle Räder schon ausgeleiert, alles hat man schon versucht, man ist sogar so weit gegangen, Artillerie in Dörfern und Städten auffahren zu lassen. Aber die Kräfte des Volkes sind nicht nur nicht erschöpft, sondern entfalten sich gerade jetzt immer breiter, machtvoller, offener und kühner. Schwarzhundert-Absolutismus und linke Duma. Die Lage ist zweifellos revolutionär. Der Kampf in der schärfsten Form ist zweifellos unabwendbar.

Gerade deshalb aber, weil er unabwendbar ist, hat es keinen Sinn, ihn forcieren, beschleunigen, vorwärts peitschen zu wollen. Mögen die Kruschewan und Stolypin dafür sorgen. Uns liegt die Sorge ob, mit aller Klarheit, gerade und erbarmungslos offen vor dem Proletariat und der Bauernschaft die Wahrheit zu enthüllen, ihnen die Augen zu öffnen über die Bedeutung des heraufziehenden Sturmwindes, ihnen zu helfen, organisiert, mit der Kaltblütigkeit von Leuten, die in den Tod ziehen, den Feind zu erwarten, – so, wie den Feind der Soldat erwartet, der im Schützengraben liegt und bereit ist, nach den ersten Schüssen zum Sturmangriff überzugehen.

Schießt zuerst, ihr Herren Bourgeois!" rief Engels im Jahre 1894 dem deutschen Kapital zu4. „Schießt zuerst, ihr Herren Kruschewan und Stolypin, Orlow und Romanow!" rufen wir. Unsere Sache ist es, der Arbeiterklasse und der Bauernschaft zu helfen, den Schwarzhundert-Absolutismus zu zertreten, sobald er sich selbst auf uns stürzt.

Deshalb keine vorzeitigen Aufrufe zum Aufstand! Keine feierlichen Manifeste an das Volk. Keine Pronunciamentos, keine Proklamationen. Der Sturm kommt auf uns zu. Es ist nicht nötig, mit den Waffen zu klirren.

Es ist nötig, die Waffen vorzubereiten, – im unmittelbaren und im übertragenen Sinne des Wortes. Vor allem und in erster Linie ist es nötig, die Armee des Proletariats zusammenzuschweißen, die stark ist durch ihr Bewusstsein und ihre Entschlossenheit. Es ist nötig, unsere organisatorische und agitatorische Arbeit in der Bauernschaft zu verzehnfachen, sowohl unter allen denjenigen, die im Dorfe hungern, als auch unter denjenigen, die im vorigen Herbst ihre Söhne, die das große Jahr der Revolution miterlebten, zum Militärdienst geschickt haben. Alle ideologischen Hüllen und Schleier, die man über die Revolution gebreitet hat, müssen heruntergerissen werden, alle Zweifel und Schwankungen beseitigt werden. Einfach, ruhig und offen, – so wie es das Volk am besten versteht, müssen wir so laut und deutlich wie möglich sagen: der Kampf ist unvermeidlich. Das Proletariat wird den Kampf aufnehmen. Das Proletariat wird alles hingeben, wird alle seine Kräfte in diesen Kampf für die Freiheit werfen. Möge die russische Bauernschaft, mögen die Soldaten und Matrosen wissen, dass es um das Schicksal der russischen Freiheit geht.

1 Die Angaben wurden in Nr. 31 der „Rjetsch" vom 20. (7.) Februar 1907 in der Notiz: „Die zweite Reichsduma" veröffentlicht.

2 Ohne Umschweife. Die Red.

3 Pronunciamento – ein spanisches Wort zur Bezeichnung einer Militärverschwörung bzw. eines Staatsstreiches unter der Führung eines Häufchens von Militär.

4 Die Redaktion der Werke hat diesen Satz in den Artikeln Engels' von 1894 nicht gefunden. Möglicherweise hat Lenin folgendes Zitat aus dem Artikel: „Der Sozialismus in Deutschland" („Neue Zeit", 1892, Bd. I, S. 583) im Auge:

Wie oft haben die Bourgeois uns nicht zugemutet, wir sollten unter allen Umständen auf den Gebrauch revolutionärer Mittel verzichten und innerhalb der gesetzlichen Grenzen bleiben, jetzt, da das Ausnahmegesetz gefallen, das gemeine Recht wieder hergestellt ist für alle, auch für die Sozialisten! Leider sind wir nicht in der Lage, den Herren Bourgeois diesen Gefallen zu tun. Was aber nicht verhindert, dass in diesem Augenblick nicht wir diejenigen sind, die ,die Gesetzlichkeit kaputt macht'. Im Gegenteil, sie arbeitet so vortrefflich für uns, dass wir Narren wären, verletzten wir sie, so lange dies so vorangeht. Viel näher liegt die Frage, ob es nicht grade die Bourgeois und ihre Regierung sind, die Gesetz und Recht verletzen werden, um uns durch die Gewalt zu zermalmen? Wir werden das abwarten. Inzwischen: .schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois!"

Den gleichen Gedanken wiederholte Engels 1895 im Vorwort zur Arbeit von K. Marx: „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850".

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