Vorwort des Verfassers zur ersten russischen Auflage

Vorwort des Verfassers zur ersten russischen Auflage

Im Laufe dieses Jahres hat eine Reihe von Schriftstellern, die Marxisten sein wollen, einen wahren Feldzug gegen die Philosophie des Marxismus unternommen. In weniger als einem halben Jahre kamen vier Bücher heraus, die hauptsächlich, ja fast ganz aus Angriffen gegen den dialektischen Materialismus bestehen. Hierher gehören vor allem: „Beiträge zur (es müsste heißen: gegen die) Philosophie des Marxismus", Petersburg 1908, eine Artikelsammlung von Basarow, Bogdanow, Lunatscharski, Bermann, Hellfond, Juschkewitsch, Suworow; ferner die Bücher: „Materialismus und kritischer Realismus" von Juschkewitsch; „Die Dialektik vom Standpunkt der modernen Erkenntnistheorie; von Bermann, und „Die philosophischen Konstruktionen des Marxismus" von Valentinow.

Allen diesen Leuten kann nicht unbekannt geblieben sein, dass sowohl Marx wie Engels zu wiederholten Malen ihre philosophischen Anschauungen als dialektischem Materialismus bezeichnet haben. Und alle diese Leute, die trotz scharfer Differenzen in den politischen Ansichten in ihrer Gegnerschaft gegen den dialektischen Materialismus einig sind, nehmen gleichzeitig für sich in Anspruch, in der Philosophie Marxisten zu sein! Die Engelssche Dialektik sei „Mystik" – erklärt Bermann. Die Ansichten von Engels seien „veraltet" bemerkt Basarow so nebenbei, als etwas Selbstverständliches. Unsere tapferen Streiter glauben den Materialismus widerlegt zu haben und berufen sich stolz auf die „moderne Erkenntnistheorie", die „neueste Philosophie" (oder den „neuesten Positivismus"), auf die „Philosophie der modernen Naturwissenschaft" oder gar die „Philosophie der Naturwissenschaft des XX. Jahrhunderts". Gestützt auf alle diese angeblich neuesten Lehren, versteigen sich unsere Vernichter des dialektischen Materialismus furchtlos bis zum reinsten Fideismus* (das tritt bei Lunatscharski am klarsten hervor, aber durchaus nicht nur bei ihm allein). Handelt es sich aber darum, unmittelbar ihre Stellung zu Marx und Engels zu bestimmen, so verlieren sie plötzlich allen Mut und alle Achtung vor ihren eigenen Überzeugungen. In der Tat sagen sie sich vom dialektischen Materialismus, also vom Marxismus, völlig los. In ihren Worten machen sie fortwährend Ausflüchte, versuchen das Wesen der Frage zu umgehen, ihre Abtrünnigkeit zu verdecken, an Stelle des Materialismus überhaupt wird irgendein einzelner Materialist gesetzt, sie verzichten entschieden auf die unmittelbare Analyse der zahllosen materialistischen Äußerungen von Marx und Engels. Eine wahre „Meuterei auf den Knien", wie ein Marxist1 sich treffend ausdrückte. Es ist der typische philosophische Revisionismus; denn nur die Revisionisten haben eine traurige Berühmtheit dadurch erlangt, dass sie den Grundanschauungen des Marxismus abtrünnig geworden, aber zu ängstlich oder unfähig sind, offen, direkt, entschieden und klar mit ihren aufgegebenen Anschauungen „Abrechnung" zu halten. So oft hingegen die Orthodoxen gegen einige veraltete Anschauungen von Marx auftraten (wie z. B. Mehring gegen einige geschichtliche Auslassungen), geschah das stets so bestimmt und ausführlich, dass niemand in einem derartigen literarischen Auftreten je etwas Zweideutiges finden konnte.

Übrigens enthalten die „Beiträge ,zur' Philosophie des Marxismus" doch einen Ausspruch, der der Wahrheit ähnlich sieht. Und zwar ist dies Lunatscharskis Ausspruch: „Vielleicht irren wir" (d. h. allem Anschein nach alle Mitarbeiter der „Beiträge"), „aber wir suchen". (S. 161.) Ich werde mich bemühen, dem Leser in dem vorliegenden Buch mit aller Ausführlichkeit zu beweisen, dass die erste Hälfte dieses Satzes eine absolute, die zweite eine relative Wahrheit enthält. Jetzt will ich nur bemerken, dass unsere Philosophen sich selbst und dem Marxismus mehr Achtung bezeigen würden, wenn sie nicht im Namen des Marxismus, sondern im Namen einiger „suchender" Marxisten sprechen wollten.

Was mich betrifft, so bin ich auch ein „Suchender" in der Philosophie. Nämlich: ich habe es mir in den folgenden Aufzeichnungen zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, welche Tollheit die Leute dazu gebracht hat, uns unter dem Schein des Marxismus ein so unglaublich konfuses, verworrenes und reaktionäres Zeug aufzutischen.

September 1908

* Fideismus ist eine Lehre, die den Glauben an die Stelle des Wissens setzt oder überhaupt dem Glauben Gewicht beilegt.

1 Der Marxist, von dem hier die Rede ist, war Georg Plechanow. Die Red.

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