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Wladimir I. Lenin 19080325 Polizeilich-patriotische Demonstration auf Bestellung

Wladimir I. Lenin: Polizeilich-patriotische Demonstration auf Bestellung

[Proletarij" Nr. 25 25. (12.) März 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 187-192]

Der „große Parlamentstag", die Dumasitzung vom 27. Februar, findet bei unseren bürgerlichen Parteien rührend einmütige Beurteilung. Alle sind zufrieden, alle freuen sich, alle sind gerührt, von den Schwarzhundertern und dem „Nowoje Wremja" bis zu den Kadetten und der „Stolitschnaja Potschta", die „vor dem Tode" gerade noch schreiben konnte (in der Nummer vom 28. Februar):

Der allgemeine Eindruck (von der Dumasitzung vom 27. Februar) ist überaus günstig ... Zum ersten Male im öffentlichen und staatlichen Leben Russlands macht die Regierung das Land mit ihren Auffassungen über außenpolitische Fragen bekannt."

Auch wir geben gerne zu, dass der große Tag im Parlament, wenn auch nicht „zum ersten Male", so doch mit besonderer Anschaulichkeit die tiefste Einmütigkeit von Schwarzhundertern, Regierung, Liberalen und „Demokraten" vom Schlage der „Stolitschnaja Potschta", Einmütigkeit in den Grundfragen des „öffentlichen und staatlichen Lebens", demonstriert hat. Daher scheint es uns unbedingt notwendig, die Stellung, die alle Parteien an diesem Tage und aus seinem Anlass eingenommen haben, gründlich kennenzulernen.

Herr Gutschkow, Führer der Regierungspartei der Oktobristen, richtet „an die Regierungsvertreter die Bitte", über die wirkliche Lage im Fernen Osten Aufschluss zu geben. Er erläutert von der Dumatribüne herab die Bedeutung der Sparsamkeit – z. B. soll der Botschafter in Tokio statt 60.000 Rubel ein Jahresgehalt von 50.000 Rubel beziehen. Wir reformieren, ohne Spaß! Er erklärt ferner, beunruhigende Nachrichten über die Politik im Fernen Osten, über einen drohenden Krieg mit Japan, hätten „in der Presse Eingang gefunden". Dass der russischen Presse ein Maulkorb angelegt ist, davon spricht der kapitalistische Führer natürlich nicht. Wozu auch?Im Programm mag Pressefreiheit stehen. Dies ist unerlässlich für eine „europäische“ Partei. Wirklichen Kampf gegen die Mundtodmachung der Presse, rücksichtslose Enthüllung der notorischen Korruptheit der einflussreichen russischen Presseorgane – es wäre lächerlich, von Herrn Gutschkow wie auch von Miljukow dergleichen zu erwarten. Dafür hat aber Herr Gutschkow über den Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik die Wahrheit gesagt, d. h. er hat ausgeplaudert, was in Wirklichkeit hinter der Komödie steckt, die am 27. Februar von der Duma aufgeführt wurde.

Der Umstand verkündete er , dass wir mit raschen Schritten auf dem Wege der Beruhigung und Befriedung vorwärtsschreiten, muss unseren Gegnern zeigen, dass der Versuch Russlands, seine Interessen zu wahren, diesmal zweifellos von Erfolg gekrönt sein wird.“

Die Schwarzhunderter und Oktobristen spenden Beifall. Wie denn auch nicht! Haben sie doch von Anfang an ausgezeichnet verstanden, dass der Kern der zur Erörterung stehenden Frage und des ganzen feierlichen Auftretens der Regierung in der Person des Herrn Iswolski darin besteht, die konterrevolutionäre Politik unserer Nachfolger „Murawjows, des Henkers“, zu einem Beruhigungs- und Befriedungswerk zu proklamieren. Europa und der ganzen Welt soll gezeigt werden, dass dem „äußeren Feind“ ein „einiges Russland“ gegenübersteht, das ein kleines Häuflein von Rebellen (gar nicht viel – etwa hundert Millionen Arbeiter und Bauern!) zu Ruhe und Frieden bringt, um den „Versuchen, seine Interessen zu wahren“, Erfolg zu sichern.

Ja, Herr Gutschkow hat es verstanden auszusprechen, was er wollte, was die vereinten Gutsbesitzer wollten.

Professor Kapustin, ein „linker“ Oktobrist, die Hoffnung der Kadetten, die Zuversicht der Anhänger des Friedens zwischen Gesellschaft und Staatsmacht, beeilte sich, in die Fußstapfen Gutschkows zu treten und seine Politik durch widerlich salbungsvolle liberale Heuchelei schmackhaft zu machen.

Gebe Gott, es solle ihr (der Duma) nachgerühmt werden, dass sie mit dem Gelde des Volkes spart.“ 50.000 Jahresgehalt für einen Botschafter – ist dies nicht eine Ersparnis von vollen 10.000 Rubeln, Ist es nicht ein „herrliches Beispiel, das unsere höchsten Würdenträger, im Bewusstsein der gegenwärtigen ernsten und schweren Lage Russlands, zeigen werden“ ... „Auf den verschiedensten Lebensgebieten stehen wir vor durchgreifenden Reformen, und dies erfordert große Mittel.“

Juduschka Golowlew ist ein Waisenknabe im Vergleich mit diesem Parlamentarier! Ein Professor auf der Dumatribüne, in Verzückung über das „herrliche Beispiel" höchster Würdenträger ... Aber was soll man schon von einem Oktobristen reden, wenn liberale und bürgerliche Demokraten in puncto Stiefelleckerei nicht viel besser sind.

Nunmehr zur Rede des Ministers des Auswärtigen, des Herrn Iswolski. Etwas Besseres als einen solchen Anhaltspunkt, wie Kapustin ihn auf dem Tablett präsentierte, konnte er sich gar nicht wünschen. Und so redete er des Langen und Breiten über die Notwendigkeit, die Ausgaben einzuschränken – oder den Personaletat zu revidieren, um Botschaftern, die „keine eigenen Mittel" besitzen, zu helfen. Iswolski betont, dass er mit Genehmigung Nikolaus II. spricht, und preist

Kraft, Vernunft und Patriotismus des russischen Volkes", das „seine gesamten Kräfte, die materiellen sowohl wie die geistigen, einsetzen wird, um Russland seine heutigen asiatischen Besitzungen zu sichern und sie zu allseitiger Entwicklung zu bringen."

Der Minister sagte, was zu sagen ihn die Kamarilla beauftragt hatte. Das Wort gehört nunmehr dem Oppositionsführer Herrn Miljukow. Er erklärt auf der Stelle:

Die Partei der Volksfreiheit, in Gestalt ihrer hier anwesenden Fraktion, vernahm mit tiefer Genugtuung die Worte des Ministers des Auswärtigen und hält es für ihre Pflicht, seine erste Rede zu begrüßen, die der Volksvertretung über Fragen der russischen Außenpolitik Auskunft gibt. Es steht außer Zweifel, dass in der heutigen Situation ... die russische Regierung ... sich bei Verfolgung ihrer Ziele auf die russische öffentliche Meinung stützen muss."

In der Tat, das steht ganz außer Zweifel. Die Regierung der Konterrevolution muss bei Verfolgung ihrer Ziele sich darauf stützen, was im Ausland als die öffentliche Meinung aufgefasst (oder was dafür ausgegeben) werden kann. Sie muss es tun insbesondere, um eine Anleihe zu bekommen, ohne die der ganzen Stolypinschen Politik des Zarismus, berechnet auf viele Jahre systematischer und massenhafter Gewaltmaßnahmen gegen das Volk, Bankrott und Zusammenbruch drohen.

Herr Miljukow ist der wahren Bedeutung des feierlichen Auftretens der Herren Iswolski, Gutschkow und Co. ganz nahe gekommen. Dieses Auftreten war von der Schwarzhunderterbande Nikolaus II. bestellt. Jede Einzelheit dieser polizeilich patriotischen Demonstration war im Voraus abgekartet. Die Dumamarionetten tanzten in dieser Komödie nach der Pfeife der absolutistischen Kamarilla: ohne Unterstützung der westeuropäischen Bourgeoisie kann sich Nikolaus II. nicht halten. So muss die ganze allrussische Bourgeoisie, die rechte sowohl als auch die linke, bewogen werden, der Regierung, ihrer „Friedenspolitik", ihrer Festigkeit, ihren Absichten und Fähigkeiten zur „Beruhigung und Befriedung" feierlichst ihr Vertrauen auszudrücken. Die Regierung brauchte das als Blankounterschrift auf einem Wechsel. Das ist der Zweck, warum man den den Kadetten am meisten „genehmen" Herrn Iswolski vorgeschoben, warum man diese ganze unverschämte Heuchelei über das Sparen der Volksmittel, über Reformen, über „offenes" Auftreten der Regierung mit „Klarstellung" der Außenpolitik bestellt hat, obwohl es jedermann klar ist, dass man da nichts klarstellen wollte und auch nichts klargestellt hat.

Und die liberale Opposition ließ sich von der reaktionär-polizeilichen Monarchie gehorsam als Marionette gebrauchen! Während eine entschlossene Verkündung der Wahrheit durch die bürgerliche Dumaminderheit zweifellos eine große Rolle gespielt und der Regierung die Aufnahme einer Milliardenanleihe zu neuen Strafexpeditionen, Galgen, Gefängnissen und „verstärktem Schutz"1 unmöglich gemacht (oder erschwert) hätte – fiel die Kadettenpartei dem „vergötterten Monarchen zu Füßen" und machte sich lieb Kind. Herr Miljukow mühte sich aus Leibeskräften, seinen Patriotismus zu beweisen. Er spielte sich als Kenner der Außenpolitik auf, einzig auf Grund dessen, dass er in irgendwelchen Vorzimmern Informationen über den Liberalismus Iswolskis gesammelt hat. Dadurch, dass er den Minister des Zaren im Namen der ganzen Kadettenpartei feierlich „begrüßte" und dabei ausgezeichnet wusste, am nächsten Tage würden alle europäischen Zeitungen wie auf Kommando erklären: die Duma hat einstimmig (mit Ausnahme der Sozialdemokraten) der Regierung ihr Vertrauen ausgesprochen, sie hat ihre Außenpolitik gebilligt, – hat Herr Miljukow im vollen Bewusstsein dessen, was er tat, den Wechsel unterschrieben ...

In einer Zeitspanne von drei Jahren hat der russische Liberalismus eine Entwicklung durchgemacht, für die in Deutschland über 30 Jahre, in Frankreich sogar über 100 Jahre erforderlich waren: die Evolution vom Freiheitsanhänger zum willenlosen und niederträchtigen Helfer des Absolutismus. Die spezifische Waffe, über die die Bourgeoisie im Kampfe verfügt – die Möglichkeit, auf den Geldbeutel zu drücken, die Aufbringung von Geldmitteln zu erschweren, „fein gesponnene" Schliche zum Erhalt neuer Anleihen zu durchkreuzen – diese Waffe zu gebrauchen, hatten die Kadetten in der russischen Revolution vielfach Gelegenheit. Doch jedes Mal, sowohl im Frühjahr 1906 als auch im Frühjahr 1908, lieferten sie dem Feinde eigenhändig ihre Waffen aus, leckten den Pogrommachern die Hände und schworen ihnen Loyalität.

Herr Struve hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass diese Praxis auf eine feste theoretische Grundlage gestellt werde2. In der Zeitschrift „Russkaja Mysl"3, die in Wirklichkeit „Tschernossotennaja Mysl"4 heißen müsst, propagiert Herr Struve bereits den Gedanken eines „Großen Russland", den Gedanken des bürgerlichen Nationalismus, zetert über die „feindselige Einstellung der Intellektuellen dem Staat gegenüber" und streckt den „russischen Revolutionarismus", den „Marxismus", die „Abtrünnigkeit", den „Klassenkampf", den „banalen Radikalismus" zum tausendsten Mal in den Sand.

Über diese ideelle Evolution des russischen Liberalismus können wir uns nur freuen. Denn in Wirklichkeit hat sich dieser Liberalismus in der russischen Revolution bereits gerade von der Beschaffenheit erwiesen, wie sie Herr Struve auf systematische, geschlossene, durchdachte, „philosophische" Art und Weise erreichen will. Die Herausarbeitung einer konsequent-konterrevolutionären Ideologie ist ein Schlüssel, sobald es eine bereits ganz ausgebildete Klasse gibt, die in den wichtigsten Lebensperioden des Landes konterrevolutionär gehandelt hat. Eine der Klassenstellung und Klassenpolitik der Bourgeoisie entsprechende Ideologie wird allen und jedem helfen, die Überreste des Glaubens an den „Demokratismus" der Kadetten zu überwinden. Die Überwindung dieser Überreste aber ist nützlich, ja sie ist notwendig, damit man im wirklichen Massenkampf um die Demokratisierung Russlands vorwärtsgehen kann. Herr Struve will einen offen konterrevolutionären Liberalismus. Auch wir wollen ihn, denn die „Offenherzigkeit" des Liberalismus wird sowohl die demokratische Bauernschaft als auch das sozialistische Proletariat am besten aufklären.

Wenn wir uns nun erneut der Dumasitzung vom 27. Februar zuwenden, so müssen wir sagen, dass das einzig ehrliche und stolze demokratische Wort von einem Sozialdemokraten gesprochen wurde. Der Abgeordnete Tschcheïdse betrat die Tribüne, erklärte, die sozialdemokratische Fraktion werde gegen den Gesetzentwurf stimmen, und begann, diese Abstimmung zu begründen. Doch bereits nach seinen ersten Worten: „Unsere Diplomatie im Westen war stets eine Stütze der Reaktion und der Interessen" ... machte der Vorsitzende den Arbeitervertreter mundtot. „Die Geschäftsordnung gestattet die Begründung der Abstimmung" – stammelten die Kadetten. „Außer den Gründen ist auch die Form von Bedeutung" – antwortete der Bandit, der sich Vorsitzender der III. Duma nennt.

Er hatte von seinem Standpunkt aus Recht: was soll da die Geschäftsordnung, wenn es um die geschlossene Durchführung einer polizeilich bestellten patriotischen Demonstration geht?

Der Arbeitervertreter stand in dieser Frage isoliert da. Um so größer sein Verdienst. Das Proletariat muss und wird zeigen, dass es fähig ist, allen Verrätereien des Liberalismus und allen Schwankungen des Kleinbürgertums zum Trotz, die Gebote der demokratischen Revolution zu verteidigen.

1 Kleiner Belagerungszustand. Die Red.

2 In seinem Artikel „Das Große Russland. Gedanken über das Problem der russischen Macht" („Russkaja Mysl", 1908, Heft 1) propagiert Struve eine imperialistische und offensive Außenpolitik. In Heft 3 der gleichen Zeitschrift wendet sich Struve gegen seine Kritiker im Artikel „Über verschiedene Themen. Syndikalismus und Machajew-Richtung (anlässlich des Artikels von N. M. Maiski). – Zum Streit über ,das Große Russland' ". Im Jahre 1910 – 1911 erschien im Verlag von W. P. Rjabuschinski und unter nächster Beteiligung Struves als Redakteur das Werk „Das Große Russland – Eine Aufsatzsammlung über militärische und soziale Fragen", Buch 1 und 2.

3 „Der russische Gedanke". Die Red.

4 „Schwarzhunderter-Gedanke". Die Red.

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