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Wladimir I. Lenin 19080408 Über die „Natur" der russischen Revolution

Wladimir I. Lenin: Über die „Natur" der russischen Revolution

[Proletarij" Nr. 27, 8. April (26. März) 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 214-218]

Jag' die Natur zur Tür hinaus, so fliegt sie zum Fenster herein – ruft die Kadettenzeitung „Rjetsch" in einem ihrer letzten Leitartikel aus.1 Diese wertvolle Erkenntnis des offiziellen Organs unserer konterrevolutionären Liberalen muss besonders hervorgehoben werden, denn es handelt sich um die Natur der russischen Revolution. Und man kann nicht genug betonen, wie sehr die Ereignisse die Grundansicht des Bolschewismus über diese „Natur" der bäuerlich-bürgerlichen Revolution bestätigen, die nur gegen den schwankenden, wankelmütigen, konterrevolutionären bürgerlichen Liberalismus siegen kann.

Vor der I. Duma, Anfang 1906, schrieb Herr Struve: „Der Bauer in der Duma wird Kadett sein." Das war damals die dreiste Behauptung eines Liberalen, der noch daran dachte, den Bauer aus einem naiven Monarchisten zu einem Anhänger der Opposition zu machen. Das war damals, als das Organ der Bürokratie, die Zeitung der Lakaien des Herrn Witte, „Russkoje Gossudarstwo", versicherte, das „Bäuerlein werde es schon machen", d. h. dass eine breite Vertretung der Bauern für den Absolutismus günstig sein würde. Meinungen ähnlicher Art waren damals (weit zurückliegende Zeiten! Ganze zwei Jahre trennen uns von ihnen!) so weit verbreitet, dass sogar in den menschewistischen Reden auf dem Stockholmer Parteitag verwandte Töne merklich durchklangen.

Aber schon die I. Duma zerstörte unwiderruflich diese Illusionen der Monarchisten und die Illusionen der Liberalen. Der ganz unklare, unentwickelte, politisch jungfräuliche und parteimäßig nicht organisierte Muschik erwies sich unendlich weiter links stehend als die Kadetten. Der Kampf der Kadetten gegen den „Trudowiki-Geist" und die Trudowiki-Politik stellt die Quintessenz der liberalen „Tätigkeit zur Zeit der ersten zwei Dumas dar. Und als nach der Auseinanderjagung der II. Duma Herr Struve – unter den liberalen Konterrevolutionären ein Mann des Fortschritts – seine zornigen Äußerungen über die Trudowiki hinwarf und einen Kreuzzug gegen die „in Radikalismus machenden intelligenzlerischen" Führer der Bauernschaft proklamierte, da offenbarte er damit den völligen Zusammenbruch des Liberalismus.2

Der Liberalismus erlebte nach den Erfahrungen von zwei Dumas ein vollständiges Fiasko: es gelang ihm nicht, „den Muschik gefügig zu machen". Es gelang ihm nicht, ihn bescheiden, nachgiebig und zu einem Kompromiss mit dem gutsherrlichen Absolutismus geneigt zu machen. Der Liberalismus der bürgerlichen Advokaten, Professoren und des übrigen intellektuellen Geschmeißes vermochte sich dem „trudowikischen" Bauernpöbel nicht „anzupassen." Er blieb politisch und ökonomisch hinter ihm zurück. Und die ganze historische Bedeutung der ersten Periode der russischen Revolution kann in den Worten zusammengefasst werden: der Liberalismus hat sein konterrevolutionäres Wesen, seine Unfähigkeit, eine bäuerliche Revolution zu leiten, bereits endgültig bewiesen, die Bauernschaft hat noch nicht vollständig begriffen, dass nur auf revolutionär-republikanischem Wege, unter Führung des sozialistischen Proletariats, ein wirklicher Sieg errungen werden kann.

Der Zusammenbruch des Liberalismus bedeutete den Triumph der gutsherrlichen Reaktion. Und jetzt kann der von dieser Reaktion eingeschüchterte, erniedrigte und angespiene Liberalismus, der sich in einen leibeigenen Handlanger der Stolypinschen Verfassungskomödie verwandelt hat, nicht umhin, zuweilen um das Vergangene zu weinen. Gewiss, der Kampf gegen den Trudowiki-Geist war schwer, unerträglich schwer. Aber... immerhin... werden wir ein zweites Mal nicht dabei gewinnen, wenn dieser Geist wieder erstarkt? Werden wir dann die Rolle des Maklers nicht glücklicher spielen? Hat nicht unser ehrwürdiger, unser berühmter P. Struve schon vor der Revolution geschrieben, dass die Mittelparteien durch die Zuspitzung des Kampfes zwischen den extremen immer gewinnen?

Und siehe da, die im Kampf mit den Trudowiki heruntergekommenen Liberalen trumpfen gegenüber der Reaktion mit der Wiedergeburt des Trudowiki-Geistes auf!

Die soeben in der Reichsduma eingebrachten Agrarprojekte der rechten Bauern und der Geistlichen – schreibt die „Rjetsch" in dem erwähnten Leitartikel – zeigen den alten Trudowiki-Geist. In der Tat: einen Trudowiki-Geist und nicht einen kadettischen ... Das eine Projekt rührt von den Bauern her und ist von einundvierzig Mitgliedern der Reichsduma unterschrieben. Das andere stammt von den Geistlichen. Das erste ist radikaler als das zweite, aber auch das zweite lässt in mancher Hinsicht (man höre die kadeltische „Rjetsch''!) das kadettische Projekt der Agrarreform weit hinter sich."

Die Liberalen sind gezwungen anzuerkennen, dass nach all den Siebungen des Wählers, die durch das berühmte Gesetz vom 6. Juni in Angriff genommen und verwirklicht worden sind, diese Tatsache (wie wir bereits früher bemerkten: s. Nummer 22 des „Proletarij") nicht für die Zufälligkeit, sondern für die Naturnotwendigkeit der russischen Revolution spricht.

Die Bauern haben – schreibt die „Rjetsch" – den Agrarfonds nicht als eine Übermittlungsinstanz, sondern als eine ständige Institution."

Die Kadetten anerkennen das, schweigen sich aber bescheiden darüber aus, wie sie, von dem Wunsche beseelt, sich der Reaktion anzubiedern und ihr zu dienen, beim Übergang von der I. zur II. Duma den Agrarfonds (d. h. die Anerkennung der Nationalisierung der Bodens auf die eine oder andere Weise und bis zu dem einen oder anderen Grade) aus ihrem Programm strichen und sich auf den Gurkoschen3 Standpunkt des uneingeschränkten Privateigentums am Grund und Boden stellten.

Laut den Bauern – schreibt die „Rjetsch" – soll das Land auf Grund einer gerechten Bewertung (also auf kadettische Art und Weise) erworben werden, aber – ein bedeutsames „aber"! – die Bewertung erfolgt durch örtliche Agrarkörperschaften, „die von der gesamten Bevölkerung des jeweiligen Ortes gewählt werden."

Und wieder müssen die Herren Kadetten etwas verschweigen. Sie müssen verschweigen, dass diese Wahl durch die ganze Bevölkerung an das bekannte „trudowikische" Projekt der I. wie der II. Duma erinnert, an das Projekt der lokalen Agrarkomitees, die durch allgemeine, direkte, gleiche und geheime Abstimmung gewählt werden sollten. Sie müssen darüber schweigen, welch niederträchtigen Kampf die Liberalen der ersten zwei Dumas gegen dieses, vom demokratischen Standpunkt einzig mögliche Projekt geführt haben, wie sie kläglich Ausflüchte suchten und sich wanden, weil sie das, was sie in ihrer Presse, in einem Leitartikel der „Rjetsch", der später von Miljukow („Ein Kampfjahr")4 abgedruckt wurde, in dem Projekt von Kurier und in dem Aufsatz von Tschuprow (die kadettische „Agrarfrage", zweiter Band)5 sagten, auf der Tribüne der Duma nicht ganz sagen wollten. In der Tat: sie anerkannten in ihrer Presse etc., dass nach ihrer Absicht die örtlichen Agrarkomitees paritätisch aus Vertretern der Bauern und der Gutsherren mit einem Regierungsvertreter als dritter Person sich zusammensetzen sollen. Mit andern Worten: die Kadetten lieferten den Muschik mit Haut und Haar dem Gutsherrn aus, indem sie diesem überall die Mehrheit sicherten (die Gutsherren und der Vertreter des gutsherrlichen Absolutismus befinden sich gegenüber den Bauern immer in der Mehrheit).

Wir begreifen vollkommen, weshalb die Gauner des parlamentarischen bürgerlichen Liberalismus darüber schweigen müssen. Nur hoffen sie vergebens, die Arbeiter und Bauern könnten diese wichtigsten Marksteine auf dem Wege der russischen Revolution vergessen.

Sogar die Geistlichen, diese Ultrareaktionäre, die von der Regierung speziell besoldeten Schwarzhunderter und Finsterlinge, sind in ihrem Agrarentwurf weiter gegangen als die Kadetten. Selbst sie sprechen von Herabsetzung der „künstlich hinauf geschraubten" Bodenpreise, von progressiver Bodenbesteuerung mit voller Steuerfreiheit der die Verbrauchsnorm nicht übersteigenden Parzellen. Wie kommt es, dass der Dorfgeistliche, dieser Landgendarm der orthodoxen Staatskirche, mehr auf der Seite des Muschiks steht als die bürgerlichen Liberalen? Weil der Dorfgeistliche Seite an Seite mit dem Bauer lebt, in tausend Fällen von ihm abhängig ist, ja zuweilen sogar – bei kleinbäuerlicher Wirtschaft der Geistlichen auf Kirchenboden – das gleiche durchzumachen hat wie der Bauer. Der Dorfgeistliche wird selbst aus der echtesten und rechtesten Subatowschen Duma ins Dorf zurückkehren müssen; ins Dorf aber, selbst in das durch Strafexpeditionen und Stolypinsche chronische militärische Einquartierung gesäuberte Dorf, kann keiner zurückkehren, der sich auf die Seite der Gutsherren gestellt hat. So erweist es sich, dass es für den stockreaktionären Popen schwerer ist, den Muschik dem Gutsherren auszuliefern, als für den aufgeklärten Advokaten und Professor.

Ja, ja! Jag' die Natur zur Tür hinaus, so fliegt sie zum Fenster herein. Die Natur der großen bürgerlichen Revolution im bäuerlichen Russland ist aber derart, dass nur der Sieg des Bauernaufstandes, der aber ohne die führende Rolle des Proletariats undenkbar ist, diese Revolution, der immanenten konterrevolutionären Natur des bürgerlichen Liberalismus zum Trotz, zum Siege führen kann.

Den Liberalen bleibt nichts anderes übrig, als entweder die Kraft des Trudowiki-Geistes zu leugnen – was aber angesichts der Tatsachen unmöglich ist – oder aber auf einen neuen politischen Schwindel zu hoffen. Hier das Programm dieses Schwindels, enthalten in den abschließenden Worten der „Rjetsch":

Nur die ernste praktische Aufrollung dieser Art von Reform (nämlich – der Agrarreform „auf breitester demokratischer Basis") vermag das Volk von utopistischen Versuchen zu kurieren."

Lies: Ew. Exzellenz, Herr Stolypin, Sie haben trotz aller Ihrer Galgen, trotz aller Ihrer Gesetze vom 3. Juni nicht vermocht, die Bevölkerung vom „utopistischen Trudowiki-Geist" zu „kurieren". Erlauben Sie uns, dass wir's noch einmal versuchen: wir werden dem Volk die breiteste demokratische Reform versprechen, in Wirklichkeit aber wollen wir es mit Hilfe von Ablösungsgeldern an die Gutsherren und mit Hilfe der Vorherrschaft der Gutsherren in den örtlichen Agrarinstitutionen „kurieren"!

Wir unsererseits danken den Herren Miljukow, Struve und Co. von ganzem Herzen für den Eifer, mit dem sie das Volk vom „utopistischen" Glauben an die friedlichen konstitutionellen Wege „kurieren". Sie kurieren es und werden es aller Wahrscheinlichkeit nach auch auskurieren.

1 Lenin zitiert den Leitartikel aus der „Rjetsch" Nr. 65 vom 29. (16.) März 1908.

2 Gegen die Trudowiki und die „sich radikal gebärdenden" Intellektuellen wandte sich Struve in der „Russkaja Mysl" mit den Artikeln „Der Konservativismus des Intelligenzler-Denkens. Gedanken über die russische Revolution" in Nr. 7, 1907, und „Taktik oder Ideen", mit dem gleichen Untertitel „Gedanken über die russische Revolution" in Nr. 8, 1907.

3 Der „Gurko-Standpunkt", so benannt nach dem stellvertretenden Innenminister W. I. Gurko. In der I. Reichsduma trat er im Namen des Ministeriums auf und verteidigte dabei die Unantastbarkeit des privaten Grundbesitzes. In der Broschüre „Zur Agrarfrage" (St. Petersburg 1906) behauptet er, die Übergabe des gesamten Bodens oder auch nur eines bedeutenden Teiles desselben an die Bauernschaft werde deren Wohlstand nicht steigern, sondern sie im Gegenteil in tiefstes Elend stürzen. Diesen Gedanken weiter entwickelnd, schrieb er, die Übergabe des Bodens aus schließlich an die Bauernschaft sei praktisch undurchführbar und wäre in wirtschaftlicher Beziehung für das Land verderblich.

4 Lenin spricht hier vom Buch P. Miljukows „Ein Jahr des Kampfes. Publizistische Chronik 1905–1906", Verlag „Obschtschestwennaja Polsa", St. Petersburg 1907. Der von Lenin erwähnte Leitartikel der „Rjetsch" (1906, Nr. 82 vom 25. Mai) ist in diesem Buch abgedruckt unter dem Titel „Aufgaben der lokalen Agrarkomitees in sozialdemokratischer und kadettischer Auffassung", S. 457–460. Dort schrieb Miljukow: „Wir glauben nicht an die Möglichkeit einer organisierten Massenaktion heutzutage … Wir werden bestrebt sein, soweit es von uns abhängt, den untergeordneten und rein sachlichen Charakter der lokalen Agrarkomitees zu erhalten … Unserer Auffassung nach dürfen die lokalen Agrarkommissionen natürlich nur den nächsten Zielen der Reform dienen, nicht aber der Organisierung des Landes zu einem fanatischen revolutionären Vorstoß."

5 Lenin spricht hier, außer von dem oben erwähnten Artikel von Miljukow (siehe vorige Anmerkung), von folgenden kadettischen Schriften: A. I. Tschuprow „Zur Frage der nächsten Reform" und N. Kutler „Gesetzentwurf über Maßnahmen zur Erweiterung und Verbesserung des bäuerlichen Grundbesitzes"; alle Aufsätze befinden sich in Band II des kadettischen Sammelbandes „Die Agrarfrage", zwei Bände, herausgegeben von P. Dolgorukow und I. Petrunkewitsch.

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