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Wladimir I. Lenin 19080303 Die neue Agrarpolitik

Wladimir I. Lenin: Die neue Agrarpolitik

[Proletarij" Nr. 22, 3. März (19. Februar) 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 166-170]

Am Mittwoch, dem 13. Februar, fand der Empfang von 307 Abgeordneten der III. Duma durch Nikolaus II. statt. Die liebenswürdige Unterhaltung des Zaren mit den Schwarzhundertern Bobrinski und Tschelyschew gehört zur komischen Seite der neuen Umarmungen des Absolutismus mit der Schwarzhunderterbande. Viel ernster ist Nikolaus' Erklärung, die Duma müsse bald neue Agrargesetze annehmen und dabei jeden Gedanken an eine Zwangsenteignung fallen lassen, da er, Nikolaus II., ein solches Gesetz niemals bestätigen werde. Wie der Korrespondent der „Frankfurter Zeitung" berichtet, machte die Rede des Zaren auf die bäuerlichen Dumaabgeordneten einen deprimierenden Eindruck.

Unzweifelhaft ist die agitatorische Bedeutung dieser vom Zaren selbst abgegebenen „Agrarerklärung" sehr groß, und wir können den talentvollen Agitator nur begrüßen. Aber außer der agitatorischen Bedeutung hat dieser gegen die Zwangsenteignung gerichtete grimmige Ausfall noch eine große Bedeutung als Zeichen dafür, dass die gutsherrliche Monarchie in der Agrarpolitik endgültig einen neuen Weg betreten hat.

Die auf Grund des Gesetzartikels 87, ohne die Duma, erlassenen berühmten Ukase – der vom 9. November 1906 und die weiteren – haben die Ära dieser neuen Agrarpolitik der Zarenregierung eingeleitet. Stolypin hat sie in der II. Duma bestätigt, die Abgeordneten der Rechten und der Oktobristen haben sie gebilligt, die Kadetten (eingeschüchtert durch die in den Vorzimmern der Kamarilla aufgelesenen Gerüchte von der Dumaauflösung) haben darauf verzichtet, sie offen zu missbilligen. Jetzt, in der III. Duma, hat die Agrarkommission in den letzten Tagen die Grundzüge des Gesetzes vom 9. November 1906 angenommen, ja sie ist noch weiter gegangen, indem sie die Landanteile der Bauern in allen Gemeinden, in denen in den letzten 24 Jahren keine Neuverteilung des Grund und Bodens stattgefunden hat, als Privatbesitz anerkannt hat. Auf dem Empfang vom 13. Februar hat das Haupt des Russland der Fronherren und Gutsbesitzer diese Politik laut und vernehmlich gebilligt, indem er die Abgeordneten anschnauzte – offenbar, damit die parteilosen Bauern es sich merken –, er werde einem Zwangsenteignungsgesetz zugunsten der Bauernschaft seine Zustimmung niemals erteilen.

Die endgültige Parteinahme der Regierung des Zaren, der Großgrundbesitzer und der Großbourgeoisie (der Oktobristen) für die neue Agrarpolitik ist eine Tatsache von größter geschichtlicher Bedeutung. Die Geschicke der bürgerlichen Revolution in Russland – nicht allein der gegenwärtigen Revolution, sondern auch der in Zukunft möglichen demokratischen Revolutionen – hängen vor allem vom Erfolg oder Misserfolg dieser Politik ab.

Worin besteht das Wesen der Wendung? Darin, dass die Unantastbarkeit des alten, mittelalterlichen, auf Landanteilen beruhenden Bauernbesitzes und der „angestammten" Dorfgemeinde bis jetzt ihre eifrigsten Verteidiger in den herrschenden Klassen des reaktionären Russland fand. Die fronherrlichen Gutsbesitzer – die herrschende Klasse des Russland vor der Reform1 und die politisch ausschlaggebende Klasse während des ganzen 19. Jahrhunderts – trieben im großen und ganzen eine Politik der Aufrechterhaltung der alten bäuerlichen Dorfgemeindeordnung.

Die Entwicklung des Kapitalismus hat diese Ordnung gegen den Beginn des 20. Jahrhunderts endgültig untergraben. Die alte ständische Dorfgemeinde, die Fesselung der Bauern an die Scholle, die herkömmliche Arbeitsweise des halb hörigen Dorfes gerieten in schärfsten Widerspruch zu den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Dialektik der Geschichte brachte es mit sich, dass die Bauernschaft – in andern Ländern unter halbwegs (vom Standpunkte der Erfordernisse des Kapitalismus) geregelten Agrarverhältnissen eine Stütze der Ordnung – in Russland in der Revolution mit den umstürzlerischsten Forderungen auftrat, die bis zur Enteignung des Großgrundbesitzes und der Nationalisierung des Grund und Bodens gingen (die Trudowiki in der I. und II. Duma).

Diese radikalen, ja sogar vom Ideenkreis des kleinbürgerlichen Sozialismus angehauchten Forderungen waren durchaus keine Folgeerscheinung eines „Sozialismus" des Muschiks, sondern die Folge der ökonomischen Notwendigkeit, den verschlungenen Knoten des fronherrlichen Bodenbesitzes zu durchhauen, auf dem von allen mittelalterlichen Schranken befreiten Lande den Weg für den freien Farmer (den Unternehmer in der Landwirtschaft) zu ebnen.*

Der Kapitalismus hat bereits unabänderlich alle Grundlagen der alten Agrarordnung Russlands untergraben. Ohne Zerstörung dieser Ordnung kann er sich nicht weiter entwickeln; er wird diese Zerstörung unbedingt und unvermeidlich herbeiführen; keine Macht der Welt kann ihn daran hindern. Doch diese Ordnung kann gestürzt werden auf junkerliche oder auf bäuerliche Weise, um die Bahn für einen gutsherrlichen oder für einen bäuerlichen Kapitalismus freizumachen. Eine den Interessen der Großgrundbesitzer entsprechende Zerstörung der alten Agrarordnung bedeutet die gewaltsame Zerschlagung der Dorfgemeinde und den beschleunigten Ruin, die Ausrottung der Masse der verarmten Kleinlandwirte zugunsten eines Häufleins Kulaken. Eine den Interessen der Bauern entsprechende Zerstörung der alten Agrarordnung bedeutet die Enteignung des Großgrundbesitzes und die Übergabe des gesamten Grund und Bodens an die freie Farmerschaft aus den Reihen der Bauern („das gleiche Recht auf Grund und Boden" der Herren Narodniki bedeutet in Wirklichkeit ein Recht der selbständigen Landwirte auf Grund und Boden unter Vernichtung aller mittelalterlichen Schranken).

Und die Regierung der Konterrevolution hat diese Lage begriffen. Stolypin hat die Sache richtig erfasst: ohne Zerstörung der alten Grundbesitzverfassung kann die wirtschaftliche Entwicklung Russlands nicht gewährleistet werden. Stolypin und die Großgrundbesitzer haben mutig einen revolutionären Weg beschritten, indem sie die alte Ordnung mit der größten Rücksichtslosigkeit niederreißen und die Bauernmassen vollkommen den Gutsbesitzern und Kulaken zur Ausplünderung ausliefern.

Die Herren Liberalen und kleinbürgerlichen Demokraten – von den halb oktobristischen „Meonen" über die „Russkije Wjedomosti" bis zu Herrn Pjeschechonow aus dem „Russkoje Bogatstwo"2 schlagen jetzt fürchterlichen Lärm wegen der Zerstörung der Dorfgemeinde durch die Regierung und klagen diese Regierung des Revolutionarismus an. Der Bastardcharakter des bürgerlichen Liberalismus in der russischen Revolution ist noch nie so krass in Erscheinung getreten. Nein, ihr Herren, mit Lamentationen über die Zerstörung angestammter Grundpfeiler kann der Sache nicht geholfen werden. Drei Jahre Revolution haben die versöhnlerischen und kompromisslerischen Illusionen vernichtet. Die Frage ist klar gestellt. Entweder ein kühner Aufruf zu einer Bauernrevolution, die bis zur Republik fortschreitet, und eine allseitige ideelle und organisatorische Vorbereitung einer solchen Revolution im Bunde mit dem Proletariat. Oder leeres Greinen, politische und ideelle Impotenz gegenüber dem von Stolypin, den Großgrundbesitzern und den Oktobristen geführten Angriff auf die Dorfgemeinde.

Wählt – ihr, die ihr euch noch ein Tröpfchen Bürgermut und Mitgefühl mit der Lage der Bauernmasse bewahrt habt! Das Proletariat hat seine Wahl schon getroffen, und jetzt wird die sozialdemokratische Arbeiterpartei entschlossener denn je die Parole des Bauernaufstandes im Bunde mit dem Proletariat klarmachen, propagieren, in die Massen tragen, als das einzig mögliche Mittel, die Stolypinsche Methode der „Erneuerung" Russlands zu verhindern.

Wir werden nicht behaupten, dass diese Methode undurchführbar sei – sie wurde in Europa verschiedentlich in kleineren Dimensionen erprobt –, aber wir werden die Volksmassen darüber aufklären, dass sie nur durch eine jahrzehntelange, grenzenlose Vergewaltigung der Mehrheit durch die Minderheit, durch eine Massenausrottung der fortschrittlichen Bauernschaft verwirklicht werden kann. Unsere Sorge wird sich nicht auf Flickarbeit an den revolutionären Projekten Stolypins, nicht auf Versuche zu ihrer Verbesserung, zur Abschwächung ihrer Wirkung usw. richten. Wir werden sie beantworten mit einer Steigerung unserer Agitation in den Volksmassen, besonders in jenen Schichten des Proletariats, die mit der Bauernschaft verbunden sind. Die Bauernabgeordneten – sogar die durch viele Polizeisiebe gesiebten, durch Großgrundbesitzer ausgewählten, durch die erzreaktionären „Auerochsen" in der Duma eingeschüchterten – haben vor ganz kurzer Zeit ihr wahres Streben offenbart. Wie aus den Zeitungen bekannt ist, hat eine Gruppe parteiloser und zum Teil auch rechter Bauernabgeordneter sich für die Zwangsenteignung und für von der Gesamtbevölkerung zu wählende örtliche Agrarorgane erklärt! Nicht umsonst erklärte ein Kadettenabgeordneter in der Agrarkommission, dass die rechten Bauern weiter links stehen als die Kadetten. Ja, in der Agrarfrage stehen die „rechten" Bauern aller drei Dumas links von den Kadetten, womit sie den Beweis dafür liefern, dass der Monarchismus des Muschiks eine absterbende Naivität ist, im Gegensatz zum Monarchismus der liberalen Politikaster, die Monarchisten aus Klasseninteresse sind.

Der Zar der Fronherren hat die parteilosen Bauern angeschnauzt, er werde die Zwangsenteignung niemals zulassen. Die Arbeiterklasse muss dies damit beantworten, dass sie die Millionen „parteiloser" Bauern zum Massenkampf für den Sturz des Zarismus und für die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes aufruft.

1 Bauernreform des Jahres 1861. Die Red.

* Die hier geäußerten Ansichten stehen in engem Zusammenhang mit der Kritik an unserem Parteiprogramm. In Nr. 21 des „Proletarij" wurde diese Kritik als Privatäußerung angedeutet; in den folgenden Nummern soll die Frage ausführlich behandelt werden. {Lenin meint hier seinen Artikel „Politische Notizen" in Nummer 21 des „Proletarij" (siehe Seite 152 des vorliegenden Bandes). Mit der Revision des Agrarprogramms beschäftigte sich Lenin eingehender in den Aufsätzen: „Wie P. Maslow die Konzepte von Marx korrigiert" („Proletarij" Nr. 33 vom 23. Juli 1908) und „Muss zur Widerlegung des Narodnikitums auch Karl Marx widerlegt werden?" Diese beiden Aufsätze sind in Kap. 3 des Buchs „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution 1905–1907" aufgenommen.}

2 Lenin meint hier zwei Artikel in den „Russkije Wjedomosti" 1908: den Artikel von A. Kaufmann „Besinnt Euch!", in Nr. 32 vom 21. (8.) Februar, und den Leitartikel in Nr. 34 vom 23. (10.) Februar sowie die Artikel von A. Pjeschechonow „Über Tagesfragen" und „Umgekehrte Revolution" in „Russkoje Bogatstwo", Heft 1–2, Jahrgang 1908. Obige Artikel beschäftigen sich mit dem Beschluss der Agrarkommission der Reichsduma betreffend das Verbot von Neuaufteilungen des Gemeindebodens. Im Leitartikel der „Russkije Wjedomosti" heißt es, dieser Beschluss sei ein Musterbeispiel leichtfertiger bürokratischer Arbeit, wie es solche selbst in der „vorkonstitutionellen Zeit" wenige gibt. A. Pjeschechonow erörtert eingehend das Vorgehen der Regierung in der Agrarfrage, bezeichnet es als „umgekehrte Revolution" und kommt zu dem Schluss: „Ohne Revolution geht es einmal nicht, und die Regierung wird sie vollziehen, aber nur in einer dem Willen des Volkes gerade entgegengesetzten Richtung – in der Richtung des individuellen, nicht des kollektiven Eigentums, in der Richtung einer bürgerlichen, nicht auf eigener Arbeit aufgebauten Wirtschaft."

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