Lenin‎ > ‎1909‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19090100 Entwurf einer Resolution zur augenblicklichen Lage und zu den Aufgaben der Partei

Wladimir I. Lenin: Entwurf einer Resolution zur augenblicklichen Lage

und zu den Aufgaben der Partei

[Januar 1909 (Dezember 1908). Nach Ausgewählte Werke, Band 4, Wien 1933, S. 13-16]

Die augenblickliche politische Lage wird durch die folgenden Züge charakterisiert:

a) Der alte fronherrliche Absolutismus verwandelt sich in eine bürgerliche Monarchie, die den Absolutismus durch pseudo-konstitutionelle Formen bemäntelt. Das Bündnis des Zarismus mit dem Schwarzen Hundert der Gutsbesitzer und den Spitzen der Handels- und Industriebourgeoisie ist durch den Staatsstreich vom 16. (3.) Juni und die Schaffung der dritten Duma offen festgelegt und anerkannt worden. Der Absolutismus, der notgedrungenerweise endgültig die Bahn der kapitalistischen Entwicklung Russlands betreten hat und bestrebt ist, gerade eine solche Bahn einzuhalten, die den fronherrlichen Gutsbesitzern ihre Macht und ihre Einkünfte sichert, laviert zwischen dieser Klasse und den Vertretern des Kapitals. Ihre kleinlichen Zwiste werden zur Unterstützung des Absolutismus ausgenützt, der zusammen mit dieser Klasse einen wütenden konterrevolutionären Kampf gegen das sozialdemokratische Proletariat und die demokratische Bauernschaft führt, die in dem jüngsten Massenkampf ihre Kraft offenbart haben.

b) Durch den gleichen bürgerlich-bonapartistischen Charakter zeichnet sich auch die Agrarpolitik des heutigen Zarismus aus. Er hat jeglichen Glauben an die naive Ergebenheit der Bauernmassen gegenüber der Monarchie verloren. Er sucht ein Bündnis mit den reichen Bauern und liefert ihnen das Dorf zur Ausplünderung aus. Der Absolutismus macht krampfhafte Anstrengungen, um den gesamten Anteilbodenbesitz der Dorfgemeinschaft möglichst rasch zu zerschlagen und ausschließlich das Privateigentum an Grund und Boden zu festigen. Eine solche Politik verschärft hundertfach alle Gegensätze des Kapitalismus auf dem flachen Lande und beschleunigt die Scheidung der Landbevölkerung in eine verschwindende Minderheit von Reaktionären und in eine revolutionäre proletarische und halb proletarische Masse.

c) Die liberale Bourgeoisie mit der Partei der Kadetten an der Spitze, die die konterrevolutionäre Bahn bereits bei den ersten größeren Aktionen der Massen in der Revolution beschritt, geht diesen Weg nach wie vor weiter, nähert sich noch mehr den Oktobristen und besorgt mit ihrer zaristisch-nationalistischen Agitation — die die Zunahme des Selbstbewusstseins der Bourgeoisie als Klasse zum Ausdruck bringt — faktisch die Geschäfte des Absolutismus und der fronherrlichen Gutsbesitzer.

d) Die Bauernmassen stehen, wie sogar ihre niedergedrückte und verschandelte Vertretung in der dritten Duma zeigt, trotz aller Verfolgungen der demokratischen Elemente des flachen Landes, ungeachtet aller ihrer Schwankungen, nach wie vor auf der Seite der revolutionär-demokratischen Agrarumwälzung, die durch die vollständige Abschaffung des gnundherrlichen Bodenbesitzes eine möglichst rasche, breite und freie Entwicklung der Produktivkräfte in einem kapitalistischen Russland sichern würde. Das Gesetz vom 22. (9.) November beschleunigt lediglich die Scheidung der Bauernmassen in unversöhnlich-feindliche und politisch-bewusste Kräfte.

e) Das Proletariat bekam und bekommt die Schläge sowohl des Absolutismus als auch des sich rasch vereinigenden und angreifenden Kapitals am stärksten zu spüren. Ungeachtet dessen bewahrt das Proletariat, im Vergleich zu anderen Klassen, die größte Geschlossenheit sowie die größte Treue gegenüber seiner Klassenpartei, mit der die Revolution es verschmolzen hat. Das Proletariat setzt den Kampf für seine Klasseninteressen fort und vertieft sein sozialistisches Klassenbewusstsein, wobei es die einzige Klasse bleibt, die den neuen revolutionären Kampf konsequent zu leiten vermag.

f) Im Großen und Ganzen steht unzweifelhaft fest, dass die objektiven Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland ungelöst bleiben. Die anhaltende Wirtschaftskrise, die Erwerbslosigkeit und die Hungersnöte zeigen, dass die neueste Politik des Absolutismus die Bedingungen für die kapitalistische Entwicklung Russlands nicht zu gewährleisten vermag. Diese Politik führt unvermeidlich zur Vertiefung des Konfliktes der demokratischen Massen mit den herrschenden Klassen, zur Zunahme der Unzufriedenheit in neuen Schichten der Bevölkerung, zur Zuspitzung und Vertiefung des politischen Kampfes der verschiedenen Klassen. Die neue revolutionäre Krise reift unter einer solchen wirtschaftlichen und politischen Lage mit Unvermeidlichkeit heran.

g) Die allgemeine Verschärfung auf dem Weltmarkte, die sich in der Hauptsache durch die in der industriellen Lage Westeuropas eingetretenen Verschiebungen in der Richtung der Krise, die 1908 die Form einer Depression annahm, und durch die revolutionären Bewegungen im Osten erklärt, die die Bildung nationaler kapitalistischer Staaten anzeigen — diese Verschärfung verstärkt die Konkurrenz, führt zu einer rascheren Aufeinanderfolge internationaler Zusammenstöße, verschärft dadurch den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat und gestaltet die allgemeine internationale Lage immer revolutionärer.

Ausgehend von dieser Lage der Dinge, stellt die Reichskonferenz der SDAPR fest, dass die Hauptaufgaben der Partei im gegenwärtigen Augenblick die folgenden sind:

1) Aufklärung der breiten Volksmassen über den Sinn und die Bedeutung der neuesten Politik des Absolutismus sowie über die Rolle des sozialistischen Proletariats, das, bei Befolgung einer selbständigen Klassenpolitik, die demokratische Bauernschaft in der gegenwärtigen Politik sowie in dem bevorstehenden revolutionären Kampfe zu führen bat.

2) Allseitiges Studium und umfassende Popularisierung der Erfahrungen des Massenkampfes der Jahre 1905-1907, die für die revolutionäre sozialdemokratische Taktik unersetzliche Lehren gebracht haben.

3) Festigung der SDAPR, wie sie sich in der revolutionären Epoche herausgebildet hat; Pflege der Überlieferungen ihres unversöhnlichen Kampfes sowohl gegen den Absolutismus und die reaktionären Klassen als auch gegen den bürgerlichen Liberalismus; Kampf gegen das Abrücken vom revolutionären Marxismus, gegen das Beschneiden der Losungen der SDAPR und die Versuche zur Liquidierung ihrer illegalen Organisation, wie sie unter einigen dem Einfluss des Zerfalls unterlegenen Elementen in der Partei aufgetaucht sind.

Dabei ist im Auge zu behalten, dass man nur dann, wenn man den bereits klar in Erscheinung getretenen Prozess des Übergangs der Parteifunktionen in die Hände der Sozialdemokraten selbst fördert, nur dann, wenn man illegale Parteiorganisationen bildet und festigt, die Partei auf den Weg ihrer richtigen Entwicklung führen kann.

4) Allseitige Unterstützung des wirtschaftlichen Kampfes der Arbeiterklasse, entsprechend den Resolutionen des Londoner und des Stuttgarter Kongresses.

5) Ausnützung der Duma und der Dumatribüne für die revolutionäre sozialdemokratische Propaganda und Agitation.

6) Auf die Tagesordnung rückt vor allem die langwierige Arbeit der Erziehung, der Organisierung und des Zusammenschlusses der klassenbewussten Massen des Proletariats. Ferner ist die dieser Aufgabe unterzuordnende Ausdehnung der organisatorischen Arbeit auf die Bauernschaft und die Armee besonders in der Form der Propaganda und der Agitation durch das gedruckte Wort notwendig, wobei die Hauptaufmerksamkeit auf die sozialistische Erziehung der proletarischen und halb proletarischen Elemente in der Bauernschaft und in der Armee zu richten ist.

Kommentare