Lenin‎ > ‎1916‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19161000 Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung Teil 10

Wladimir I. Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung1

Oktober 1916

[Geschrieben im Herbst 1916 Veröffentlicht im Oktober 1916 in „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 1. Nach Ausgewählte Werke, Band 5, Der Imperialismus und der imperialistische Krieg. Wien 1933, S. 318-323]

10. Der irische Aufstand 1916

Unsere Thesen sind vor diesem Aufstand verfasst worden, der als Material zur Überprüfung der theoretischen Ansichten dienen soll.

Die Ansichten der Gegner der Selbstbestimmung führen zu der Schlussfolgerung, dass die Lebensfähigkeit der kleinen, vom Imperialismus unterdrückten Nationen schon erschöpft sei, dass sie nicht imstande seien, dem Imperialismus gegenüber irgendeine Rolle zu spielen, dass die Unterstützung ihrer rein nationalen Bestrebungen zu nichts führe usw. Die Erfahrung des imperialistischen Krieges 1914/16 bedeutet eine tatsächliche Widerlegung dieser Schlussfolgerungen.

Der Krieg war eine Epoche der Krise für die westeuropäischen Nationen, für den gesamten Imperialismus. Jede Krise räumt auf mit dem Konventionellen, sprengt die äußeren Hüllen, fegt das Überlebte hinweg, deckt die tieferliegenden Triebfedern und Kräfte auf. Was hat sie vom Standpunkt der Bewegung der unterdrückten Nationen ans Tageslicht gebracht? In den Kolonien eine Reihe von Aufstandsversuchen, die die Unterdrückernationen natürlich mit Hilfe der Militärzensur auf jede Art zu verheimlichen suchten. Trotzdem ist es bekannt, dass die Engländer in Singapur die Meuterei ihrer indischen Truppen in grausamster Weise unterdrückt haben; dass im französischen Annam (siehe Nasche Slowo) und im deutschen Kamerun (siehe Junius-Broschüre) Aufstände versucht worden sind; dass es in Europa einerseits zum Aufstand in Irland kam, dessen die „freiheitsliebenden“ Engländer durch Hinrichtungen Herr zu werden suchten, ohne jedoch zu wagen, für die Iren die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, und dass anderseits die österreichische Regierung Abgeordnete des böhmischen Landtages wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilte und tschechische Soldaten für dasselbe „Verbrechen“ regimenterweise erschießen ließ.

Natürlich ist diese Liste lange nicht vollständig. Und doch zeigt sie, dass Flammen nationaler Aufstände im Zusammenhang mit der Krise des Imperialismus sowohl in den Kolonien als auch in Europa aufloderten, dass die nationalen Sympathien und Antipathien trotz allen Drohungen und drakonischen Maßnahmen zum Ausbruch gelangten. Und dabei war die Krise des Imperialismus noch weit entfernt vom Höhepunkt ihrer Entwicklung: die Macht der imperialistischen Bourgeoisie war damals noch nicht untergraben (der Krieg „bis zur Erschöpfung“ kann dahin führen, hat es aber noch nicht getan); die proletarischen Bewegungen innerhalb der imperialistischen Staaten sind noch ganz schwach. Was wird aber sein, wenn der Krieg zur vollen Erschöpfung führt oder wenn die Macht der Bourgeoisie, sei es auch nur in einem Lande, unter den Schlägen des proletarischen Kampfes so ins Wanken gerät wie die Macht des Zarismus im Jahre 1905?

In der „Berner Tagwacht“, dem Organ der Zimmerwalder einschließlich einiger Linken, erschien am 9. Mai 1916 anlässlich des irischen Aufstandes ein mit K. R. gezeichneter Artikel unter dem Titel: „Ein ausgespieltes Lied“. Der irische Aufstand wird dort kurz und bündig für einen „Putsch“ erklärt, denn „die irische Frage sei eine Agrarfrage“ gewesen, die Bauern seien durch Reformen beruhigt worden, die nationalistische Bewegung sei jetzt eine „rein städtische, kleinbürgerliche Bewegung, hinter der trotz des vielen Lärms, den sie machte, sozial nicht viel steckte.“

Kein Wunder, dass dieses in seinem Doktrinarismus und seiner Pedanterie so ungeheuerliche Urteil mit dem eines russischen Nationalliberalen, des Kadetten A. Kulischer („Rjetsch, 15. April 1916, Nr. 102), übereinstimmt, der den Aufstand ebenfalls als „Dubliner Putsch“ bezeichnete.2

Man darf wohl hoffen, dass nach dem Sprichwort „Alles Schlechte hat auch sein Gutes“ vielen Genossen, die nicht begriffen, in welchen Sumpf sie geraten, wenn sie die „Selbstbestimmung“ ablehnen und die nationalen Bewegungen der kleinen Nationen mit Geringschätzung behandeln, jetzt, unter dem Eindruck dieses „zufälligen“ Übereinstimmens des Urteils eines Vertreters der imperialistischen Bourgeoisie mit dem Urteil eines Sozialdemokraten die Augen aufgehen werden!!

Von einem „Putsch“ im wissenschaftlichen Sinne des Wortes kann man nur dann reden, wenn ein Aufstandsversuch nur einen Zirkel von Verschwörern oder unsinnigen Narren zutage fördert und in den Massen keinerlei Sympathien erweckt. Die irische nationale Bewegung, die schon auf Jahrhunderte zurückblickt und durch verschiedene Etappen und Kombinationen der Klasseninteressen hindurchgegangen ist, fand unter anderem in dem von großen Massen beschickten irischen Nationalkongress in Amerika ihren Ausdruck („Vorwärts“ vom 20. März 19163), der sich für die Unabhängigkeit Irlands aussprach; sie kam zum Ausdruck in den Straßenkämpfen eines Teiles des städtischen Kleinbürgertums und eines Teiles der Arbeiter, nach lang dauernder Agitation unter den Massen, nach Demonstrationen, Zeitungsverboten usw. Wer einen solchen Aufstand einen Putsch nennt, ist entweder der schlimmste Reaktionär oder ein hoffnungsloser Doktrinär, der unfähig ist, sich die soziale Revolution als eine lebendige Erscheinung vorzustellen.

Denn zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teiles des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung rückständiger proletarischer und halb proletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische und nationale Unterdrückung usw. – das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll wohl so sein, dass an einer Stelle sich ein Heer sammelt und erklärt: „Wir sind für den Sozialismus“, an einer anderen Stelle eine anderes Heer, das erklärt: „Wir sind für den Imperialismus“, und dies dann die soziale Revolution ist! Nur unter einem solchen pedantischen und lächerlichen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen „Putsch“ zu schimpfen.

Wer eine „reine“ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der die wirkliche Revolution nicht versteht.

Die russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische Revolution. Sie bestand aus einer Reihe von Kämpfen aller unzufriedenen Klassen, Gruppen und Elemente der Bevölkerung. Darunter gab es Massen mit den absurdesten Vorurteilen, mit den unklarsten und phantastischsten Kampfzielen, es gab Grüppchen, die von Japan Geld nahmen, es gab Spekulanten und Abenteurer usw. Objektiv untergrub die Bewegung der Massen den Zarismus und bahnte der Demokratie den Weg, darum wurde sie von den klassenbewussten Arbeitern geführt.

Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich –, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantasien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, disharmonischen, bunten und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu koordinieren und zu lenken, die Macht zu erobern, von den Banken Besitz zu ergreifen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhassten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlage der kleinbürgerlichen Schlacken „entledigen“ wird.

Die Sozialdemokratie – lesen wir in den polnischen Thesen (1. 4) –

hat die gegen den europäischen Imperialismus gerichteten Kämpfe der jungen kolonialen Bourgeoisie zur Verschärfung der revolutionären Krise in Europa auszunützen“ (gesperrt von den Verfassern).

Ist es nicht klar, dass es in dieser Beziehung am wenigsten zulässig ist, Europa den Kolonien entgegenzustellen? Ein Kampf der unterdrückten Nationen in Europa, der imstande wäre, zu Aufständen und Straßenkämpfen, zur Verletzung der eisernen Disziplin des Heeres und zum Belagerungszustand zu führen, – ein solcher Kampf würde „die revolutionäre Krise in Europa“ in ungleich höherem Maße „verschärfen“ als ein viel weiter entwickelter Aufstand in einer entlegenen Kolonie. Ein Schlag von gleicher Stärke, der der Macht der englischen imperialistischen Bourgeoisie durch einen Aufstand in Irland versetzt wird, hat eine hundertmal größere politische Bedeutung als ein gleicher Schlag in Asien oder in Afrika.

Vor kurzem meldete die französische chauvinistische Presse, dass in Belgien die 80. Nummer der illegalen Zeitung „La Libre BeIgique“ („Das freie Belgien“) erschienen sei. Die chauvinistische Presse Frankreichs lügt natürlich sehr oft, aber diese Meldung sieht aus, als ob sie wahr wäre. Während der chauvinistische und die kautskyanische deutsche Sozialdemokratie es in zwei Jahren des Krieges nicht fertiggebracht hat, sich eine freie Presse zu schaffen, sondern knechtisch das Joch der Kriegszensur trägt (nur die linksradikalen Elemente, zu ihrer Ehre sei es gesagt, haben nicht-zensurierte Broschüren und Flugschriften herausgebracht), beantwortet eine unterdrückte, kulturell hochstehende Nation das unerhörte Wüten der militärischen Unterdrückung mit der Schaffung eines Organs des revolutionären Protestes! Die Dialektik der Geschichte ist die, dass die kleinen Nationen, die als selbständiger Faktor im Kampf gegen den Imperialismus machtlos sind, die Rolle eines der Fermente, eines der Bazillen spielen, die dem wahren Gegenspieler des Imperialismus, dem sozialistischen Proletariat, auf den Plan zu treten helfen.

Die Generalstäbe sind im gegenwärtigen Krieg eifrig bemüht, jede nationale und revolutionäre Bewegung im Lager ihrer Gegner auszunutzen, die Deutschen – den irischen Aufstand, die Franzosen – die tschechische Bewegung usw. Und von ihrem Standpunkt aus handeln sie vollkommen richtig. Man kann sich einem ernsten Kriege gegenüber nicht ernsthaft verhalten, ohne die geringste Schwäche des Gegners auszunutzen, ohne jede Chance aufzugreifen, um so mehr, als man nicht im Voraus wissen kann, in welchem Augenblick und mit welcher Kraft hier oder dort dieses oder jenes Pulverfass „explodiert“. Wir wären sehr schlechte Revolutionäre, wenn wir es nicht verstünden, im großen Befreiungskampf des Proletariats für den Sozialismus jede Volksbewegung gegen die einzelnen Drangsale des Imperialismus zur Verschärfung und Ausbreitung der Krise auszunutzen. Wenn wir einerseits auf tausenderlei Art zu erklären und zu wiederholen begännen, dass wir „gegen“ jede nationale Unterdrückung sind, anderseits aber den heldenhaften Aufstand des beweglichsten und intelligentesten Teiles gewisser Klassen einer unterdrückten Nation gegen ihre Unterdrücker als „Putsch“ bezeichneten – so würden wir auf ein ebenso stumpfsinniges Niveau hinab gleiten wie die Kautskyaner.

Das Unglück der Iren ist, dass ihr Aufstand nicht zeitgemäß war, da der Aufstand des europäischen Proletariats noch nicht herangereift ist. Der Kapitalismus ist nicht so harmonisch aufgebaut, dass die verschiedenen Aufstandsherde sich ganz von selbst, ohne Misserfolge und Niederlagen, miteinander auf einmal vereinigen könnten. Im Gegenteil, gerade der Umstand, dass die Aufstände zu verschiedener Zeit und an verschiedenen Orten ausbrechen, dass sie verschieden geartet sind, gewährleistet die Breite und Tiefe der allgemeinen Bewegung; nur in unzeitgemäßen, partiellen, zersplitterten und darum misslingenden revolutionären Bewegungen werden die Massen Erfahrungen machen, werden sie lernen, werden sie ihre Kräfte sammeln, ihre wahren Führer, die sozialistischen Proletarier, erkennen und dadurch den allgemeinen Ansturm vorbereiten, ebenso wie einzelne Streiks, Demonstrationen in einzelnen Städten und im ganzen Land, Meutereien im Heer, Bauernunruhen usw. den allgemeinen Ansturm im Jahre 1905 vorbereitet haben.

1 In dem Artikel „Die Ergebnisse der Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht“, der im Oktober 1916 in Nummer 1 des „Sbornik Sozialdemokrata“ erschien, fasste Lenin die Ergebnisse dieser Diskussion innerhalb der Zimmerwalder Linken in den Jahren 1915-1916 zusammen, wobei er die bereits in seinen Thesen „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ enthaltene Position beibehielt. Die im Kapitel X von Lenin entwickelten Gedanken über die Rolle und die Bedeutung der nationalen Befreiungsbewegung in den abhängigen und in den Kolonialländern für die sozialistische Weltrevolution stehen mit dem revolutionären Aufschwung in Zusammenhang, der zu dieser Zeit in Verbindung mit dem imperialistischen Kriege in diesen Ländern zu bemerken war. Trotz der strengen Zensur war aus den spärlichen Mitteilungen der Presse zu ersehen, wie der Krieg zugleich mit der Erweckung der revolutionären Bewegung in den kriegführenden Ländern, besonders in Russland, auch die von ihnen unterdrückten Nationen zur Erhebung bringt.

2 Gemeint ist der Artikel „Der Dubliner Putsch“ von A. Kulischer („Rjetsch“ vom 15./28. April 1915), in dem Kulischer schrieb, dass die irländischen Nationalisten „mit deutschem Geld“ den „jetzigen Putsch in Dublin vorbereitet haben“. [„Sämtliche Werke“, Band 19, Anm. 123]

Radek halte in seinem Artikel u. a. geschrieben: „Diese Bewegung der Sinn-feiner war nur eine Bewegung des städtischen Kleinbürgertums, die trotz des großen Lärms, den sie erhob, keine breite soziale Basis hatte. Wenn sie sich in der Hoffnung auf deutsche Hilfe zum Aufstand entschlossen, so kam es nur zu einem Putsch, mit dem die englische Regierung leicht fertig wurde.“ In dem Artikel des Kadetten Kulischer hieß es zum Schluss: „Die allgemeine Nichtachtung der Sinn-feiner gab ihnen augenscheinlich die Möglichkeit, mit Hilfe deutscher Freunde und deutschen Geldes den jetzigen Dubliner Putsch vorzubereiten, der höchstwahrscheinlich auch nicht der letzte in seiner Art gewesen sein wird. Eines kann mit Sicherheit gesagt werden: dass auch dieser Versuch Deutschlands, England zu verwunden, an demselben unüberwindlichen Hindernis scheitern wird: an der englischen Flotte und an der englischen Freiheit.“

3 Die Notiz über den Kongress, der am 4. und 5. März stattfand, ist im „Vorwärts“ Nr. 79 vom 20. März 1916 unter dem Titel „Ein Kongress der amerikanischen Irländer“ abgedruckt. [„Sämtliche Werke“, Band 19, Anm. 124]

In der Notiz des Zentralorgans der deutschen Sozialdemokratie, des „Vorwärts“, auf die sich Lenin beruft (,Ein Kongress der amerikanischen Irländer", Nummer 79 vom 20. März 1916), wurde über den Kongress der amerikanischen Irländer berichtet, der am 4. und 5. März 1916 in New York stattgefunden hatte. Bei der Eröffnung waren 2.000, als er geschlossen wurde, 3.000 Menschen anwesend. Der Kongress beschloss eine Resolution, in der die Selbständigkeit Irlands gefordert wurde, und gründete eine Organisation, die sich „Freunde Irlands“ nannte.

Kommentare