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Belebung der revolutionären Bewegung 1915

Die Artikel „Die Niederlage Russlands und die revolutionäre Krise“, „Einige Thesen“ und „Über zwei Linien der Revolution“ stehen miteinander in untrennbarem Zusammenhang. Sie wurden in der Zeit von September bis November 1915 geschrieben und gehen von der Niederlage Russlands im Weltkrieg (die zu dieser Zeit schon offenkundig vorauszusehen war) und von der Belebung der revolutionären Bewegung aus. Darum ist in ihnen von der herannahenden Revolution in Russland, vom Kräfteverhältnis der Klassen und der Parteien in dieser Revolution sowie von deren Aussichten die Rede, wobei die Losungen des Manifestes des ZK von 1914 und der Berner Konferenz von 1915 auf Russland angewandt werden. Der erste dieser drei Artikel wurde damals nicht veröffentlicht und gelangte erst am 7. November 1928 durch das Lenin-Institut in der „Prawda“ zur Veröffentlichung. Bei allem gewaltigen Unterschied zwischen den Jahren 1905 und 1915 (1915 eine höhere Stufe der Entwicklung des Kapitalismus in Russland, das im Vergleich mit dem Jahr 1905 bedeutend stärkere Anwachsen des Imperialismus im Lande, der unerhörte Umfang des Krieges mit seinem bisher unerhörten Elend für die breitesten Massen des Proletariats und der Bauernschaft) war das Kräfteverhältnis der Klassen, wie Lenin im dritten Artikel darlegt, im Grunde das gleiche wie früher, und darum bewegte sich auch der neue Aufschwung der sozialen Bewegung im Jahre 1915 ebenso wie 1905 auf den beiden Hauptlinien der Revolution – der Linie des entschiedenen Sieges des bürgerlich-demokratischen Umsturzes, welche auf dessen Hinüberwachsen in einen sozialistischen Umsturz berechnet ist, und der bürgerlich-reformistischen Linie.

Der durch den Ausbruch des imperialistischen Krieges unterbrochene Kampf des Proletariats lebte im April 1915 wieder auf und erreichte seinen Höhepunkt in diesem Jahre im September (nach zweifellos zu niedrigen Angaben der offiziellen Statistik betrug die Zahl der streikenden Arbeiter im Jahre 1915 rund 540.000). Der Kampf des Proletariats trug einen ausgesprochen revolutionären Charakter und verlief unter der Losung des Sturzes des Zarismus. Die bolschewistische Partei führte unter den außergewöhnlich schweren Verhältnissen der Illegalität während des Krieges diese Bewegung und vermerkte sorgfältig jeden ihrer Schritte in der Presse. Die Arbeiterbewegung beschritt ihren alten Weg, und auch die Bourgeoisie bewegte sich in ihrem alten Geleise. Im ersten Kriegsjahre unterstützte die Bourgeoisie allseitig den Absolutismus unter der Losung: „Wir stellen weder Bedingungen noch Forderungen“, die der Führer der Kadetten Miljukow in der Reichsduma zu Beginn des Krieges ausgegeben hatte. Im Jahre 1915 begann die Bourgeoisie im Zusammenhang mit den Niederlagen Russlands „nach links“ zu gehen, sie organisierte einen „Angriff“ auf den Absolutismus auf dem Wege von Verhandlungen mit der zaristischen Regierung und Deputationen zum Zaren selbst mit der untertänigsten Bitte um die Ernennung eines Ministeriums aus Personen, „die das Vertrauen des Landes genießen“; unter diesen wurden solche Leute, Kadetten, Oktobristen usw., verstanden wie Gutschkow, Miljukow, Schingarjow, Konowalow, die später zu verschiedenen Zeiten der provisorischen Regierung von 1917 angehörten. Miljukow formulierte in einer seiner Reden im Jahre 1915 diese Taktik der Bourgeoisie folgendermaßen: „Die friedliche Revolution hinter dem Rücken und mit der Sanktion der Regierung selbst durchzuführen, nachdem wir die Wachsamkeit ihrer Organe durch rein äußerliche Treue- und Ergebenheitserklärungen der Kadetten eingeschläfert haben.“ Auf Grund dieser Plattform wurde auch der sogenannte „Fortschrittliche Block“ gebildet, den Lenin am Anfang seines Artikels „Die Niederlage Russlands und die revolutionäre Krise“ erwähnt. In Wirklichkeit war dieser bürgerlich-gutsherrliche Block der Kadetten und der sogenannten „Fortschrittler“ (eine kleine Gruppe, die die „linken“ Kreise der Spitzen der Industriebourgeoisie vertrat) mit den Oktobristen sowie mit noch weiter rechts stehenden Gruppen in der Reichsduma und im Staatsrat ein Block, der bis zu den offen reaktionären Elementen und den Schwarzhundertern reichte. Die Hauptlosung dieses Blocks war die „Bildung einer Regierung aus jenen Personen, die das Vertrauen des Landes genießen“, zum Zwecke der Fortführung des Krieges bis zum siegreichen Ende. Dieser Block stellte sich dem sogenannten „schwarzen Block“ entgegen, der sich um Nikolaus II., seine Frau und den Pfaffen Rasputin bildete und der einen Sonderfrieden mit Deutschland im Sinne hatte. Im Grunde war das nächste Ziel des fortschrittlichen Blocks nur das eine: au die Stelle des schwarzen Blocks zu treten und Einfluss auf den Zaren zu erlangen. Der schwarze Block beantwortete die Bildung des fortschrittlichen Blocks und die Verhandlungen mit den Regierungskreisen mit dem Auseinanderjagen der Reichsduma. Die „dumalose“ Periode war die Periode der weiteren Organisierung der Kräfte der Bourgeoisie auf der Plattform des fortschrittlichen Blocks. Zu diesem Zwecke wurden die schon früher zur Unterstützung der Kriegsführung und zur Ausnützung des Krieges im Interesse der Kapitalisten gegründeten Kriegsindustriekomitees sowie der Hilfsvereinigungen der Städte und der Semstwos für die Kranken und Verwundeten mobilisiert. Die im September abgehaltenen Kongresse der städtischen und der Semstwovereinigungen standen im Zeichen der Forderungen des „fortschrittlichen Blockes“, und beide Kongresse wählten Deputationen zum Zaren, die Petitionen um Einberufung der Reichsduma und „Erneuerung der Regierungsmacht“ auf der Grundlage des Vertrauens des Landes und seines Zusammenschlusses mit der rechtmäßigen Regierung“ überreichte. Der Zar weigerte sich einfach, die vereinigte Deputation der beiden Kongresse zu empfangen. Damit endete jener „Angriff“ auf den Absolutismus, jene „friedliche Revolution“, auf die die Bourgeoisie rechnete. Wie sich der „fortschrittliche Block“ nicht zu dieser „friedlichen Revolution“, sondern zur wirklichen Revolution stellte, die in den Arbeitermassen heranreifte, Ist aus einer Rede des Führers dieses Blocks, des Kadetten Miljukow, zu ersehen: „Behüte uns Gott davor, diese Feuersbrunst erblicken zu müssen!“ – rief er im Juni 1915 aus –, „das wäre keine Revolution, das wäre jener ,schreckliche, sinnlose und unbarmherzige russische Aufruhr', der bereits Puschkin in Angst und Zittern versetzte. Das wäre ein … ein Bacchanal des Pöbels.“

Das Proletariat begann schon damals jenen „unbarmherzigen Aufruhr“, der die Bourgeoisie in Angst und Zittern versetzte, und zwar durch seine Streikbewegung, durch seine Demonstrationen und nach Tausenden zählenden Versammlungen. Und die proletarische bolschewistische Partei, vertreten durch Lenin, formulierte in den hier vorliegenden Artikeln die Aufgaben dieses „Aufruhrs“. Davon ausgehend, dass das Kräfteverhältnis der Klassen im Grunde so geblieben ist, wie es 1905 war, stellt Lenin dem Proletariat und seiner Partei in Russland – wie im Jahre 1905 – als nächstes Ziel die Aufgabe, zusammen mit der ganzen Bauernschaft eine demokratische Umwälzung zu vollbringen, die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats zu errichten, und von dieser Umwälzung, von dieser Diktatur sofort zum sozialistischen Umsturz überzugehen. Bei der Formulierung dieser Aufgabe, die bereits 1905 gestellt worden war, nämlich der Aufgabe des Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische, hebt Lenin gleichzeitig den engen Zusammenhang hervor, der infolge des imperialistischen Krieges zwischen der revolutionären Krise in Russland und der allgemeinen revolutionären Krise in Westeuropa, von der die sozialistische Revolution dort auf die Tagesordnung gestellt wurde, besteht. Wie auch im Jahre 1905 hält Lenin den Sieg dieser Revolution im Westen durchaus nicht für eine Voraussetzung eines Sieges der Revolution in Russland. [...] Aus dem Zusammenhang zwischen der revolutionären Krise in Russland und der allgemeinen revolutionären Krise in Westeuropa zieht er eine ganz andere Schlussfolgerung. Er stellt dem russischen Proletariat – ebenso wie im Jahre 1905 – die Aufgabe, gleichzeitig mit der Aufgabe der demokratischen Umwälzung und ihrer sofortigen Ausnutzung für die Vollbringung der sozialistischen Revolution in Russland „im Bunde mit dem Proletariat Westeuropas“ – die sozialistische Revolution im Westen mit dem gleichen Verbündeten zu entfachen, wobei er auf die außerordentliche Annäherung dieser beiden Aufgaben angesichts der revolutionären, durch den Krieg ausgelösten Krise im Westen sowie auf die in den gegenwärtigen Verhältnissen eintretende Verwandlung der russischen Revolution selbst aus einem Prolog in einen Bestandteil der europäischen sozialistischen Resolution hinweist.

Von diesen Grundgedanken sind alle drei Artikel Lenins durchwirkt. Aus ihnen ergeben sich alle einzelnen Losungen, die in dem Artikel „Einige Thesen“ aufgestellt werden. Aus ihnen ergibt sich auch die Kritik an der Haltung des Menschewismus, die in den zwei anderen Artikeln geübt wird. Die Bourgeoisie schleicht zur Macht „hinter dem Rücken und mit der Sanktion der Regierung selbst“, wie Miljukow mit Recht sagte. Und die Menschewiki, durch ihre sozialchauvinistische Haltung im imperialistischen Krieg noch enger als vorher mit der Bourgeoisie verbunden, trachten genau so wie 1905 danach, sich der liberal-monarchistischen Bourgeoisie anzuschließen. Sie richten sich nach ihr, sie setzen alle ihre Hoffnungen, auch die Hoffnung auf die Verteidigung des „Vaterlandes“, auf diese Bourgeoisie, sie drängen sie zur Macht, tun das aber sehr vorsichtig, um ja nicht die Niederlage des „Vaterlandes“ und die Bolschewiki zu fördern. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 33]

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