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Wladimir I. Lenin 19180225 Eine harte, aber notwendige Lehre

Wladimir I. Lenin: Eine harte, aber notwendige Lehre

[Abendausgabe der „Prawda" Nr. 35 – 25. Februar 1918 Gezeichnet: Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 313-317]

Die Woche vom 18. (5.) bis zum 24. (11.) Februar 1918 wird als einer der größten historischen Wendepunkte in die Geschichte der russischen und der internationalen Revolution eingehen.

Am 12. März (27. Februar) 1917 stürzte das russische Proletariat zusammen mit dem durch den Gang der militärischen Ereignisse aufgerüttelten Teil der Bauernschaft und zusammen mit der Bourgeoisie die Monarchie. Am 4. Mai (21. April) 1917 stürzte es die Alleinherrschaft der imperialistischen Bourgeoisie, übergab die Macht an die kleinbürgerlichen Politiker, die mit der Bourgeoisie paktierten. Am 16. (3.) Juli erhob sich das städtische Proletariat spontan zur Demonstration und erschütterte die Regierung der Kompromisspolitiker. Am 7. November (25. Oktober) stürzte es diese Regierung und errichtete die Diktatur der Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft.

Dieser Sieg musste im Bürgerkrieg verteidigt werden. Dazu brauchte es ungefähr drei Monate, von dem Sieg über Kerenski bei Gatschina, den Siegen über die Bourgeoisie, die Junker, einen Teil der konterrevolutionären Kosaken in Moskau, Irkutsk, Orenburg, Kiew, bis zum Sieg über Kaledin, Kornilow und Alexejew in Rostow am Don.

Das Feuer der proletarischen Erhebung flammte in Finnland auf, es griff auf Rumänien über.

Die Siege an der inneren Front waren verhältnismäßig leicht, denn der Feind besaß weder technisches noch organisatorisches Übergewicht und hatte außerdem keine ökonomische Basis, keine Stütze unter den Massen der Bevölkerung. Die Leichtigkeit der Siege musste dazu führen, dass viele Führer von einem Rausch erfasst wurden. Es verbreitete sich die Stimmung: „Für uns ist alles eine Kleinigkeit."

Man blickte so mir nichts dir nichts auf die ungeheure Zersetzung der sich rasch demobilisierenden Armee, die die Front verließ. Man berauschte sich an der revolutionären Phrase. Man übertrug diese Phrase auf den Kampf gegen den Weltimperialismus. Man hielt das zeitweilige „Freisein" Russlands von dessen Ansturm für etwas Normales, während sich in Wirklichkeit dieses „Freisein" nur durch die Pause erklärte, die im Kriege des deutschen Räubers mit den anglo-französischen Räubern eingetreten war. Man hielt den Beginn der Massenstreiks in Österreich und Deutschland für eine Revolution, die uns angeblich bereits von der ernsten Gefahr befreite, die vom deutschen Imperialismus drohte. An Stelle einer ernsten, sachlichen, konsequenten Arbeit zur Unterstützung der deutschen Revolution, die unter besonders schwierigen Verhältnissen entsteht, erklärte man mit lebhafter Gebärde: „Was können uns die deutschen Imperialisten anhaben, zusammen mit Liebknecht werden wir sie zum Teufel jagen!"

Die Woche vom 18. bis 24. Februar 1918, von der Einnahme Dünaburgs bis zur Einnahme Pskows (das später wieder zurückerobert wurde), die Woche der militärischen Offensive des imperialistischen Deutschlands gegen die sozialistische Sowjetrepublik war eine bittere, beschämende, harte, aber notwendige, nützliche, wohltätige Lehre. Wie unendlich lehrreich war der Vergleich der zwei Gruppen Telegramme und telefonischen Mitteilungen, die in dieser Woche im Regierungszentrum eintrafen! Einerseits die schrankenlose Flut der „resoluten" revolutionären Phrase, der Steinbergschen Phrase, könnte man sagen, wenn man sich an die Rekordleistung in diesem Stil, an die Rede des „linken" (!!) Sozialrevolutionärs Steinberg in der Sonnabendsitzung des Zentralexekutivkomitees erinnert.1 Andrerseits die qualvollen, schändlichen Mitteilungen, dass die Regimenter sich weigern, die Stellungen zu halten, sich weigern, sogar die Narwalinie zu halten, sich weigern, den Befehl, beim Rückzug alles zu vernichten, auszuführen, ganz zu schweigen von der Desertion, dem Chaos, der Hilflosigkeit, der Kopflosigkeit, der Schlamperei.

Eine bittere, beschämende, harte – notwendige, nützliche, wohltätige Lehre!

Aus dieser historischen Lehre wird der klassenbewusste, denkende Arbeiter drei Schlussfolgerungen ziehen: über unsere Stellung zur Verteidigung des Vaterlandes, zur Wehrhaftigkeit des Landes, zum revolutionären, sozialistischen Krieg; über die Bedingungen unseres Kampfes mit dem Weltimperialismus; über die richtige Stellung der Frage unserer Beziehungen zur internationalen sozialistischen Bewegung.

Wir sind jetzt, d. h. seit dem 7. November (25. Oktober) 1917, Vaterlandsverteidiger, wir sind seit diesem Tage für die Verteidigung des Vaterlandes. Denn wir haben durch Taten bewiesen, dass wir mit dem Imperialismus gebrochen haben. Wir haben die schmutzigen und blutigen imperialistischen Verträge und Verschwörungen annulliert und veröffentlicht. Wir haben unsere Bourgeoisie gestürzt. Wir haben den von uns unterdrückten Völkern die Freiheit gegeben. Wir haben dem Volke Land und Arbeiterkontrolle gegeben. Wir sind für die Verteidigung der Sozialistischen Sowjetrepublik Russland.

Aber gerade, weil wir für die Verteidigung des Vaterlandes sind, fordern wir eine ernste Stellungnahme zur Frage der Wehrhaftigkeit und militärischen Vorbereitung des Landes. Wir erklären der revolutionären Phrase vom revolutionären Krieg einen erbarmungslosen Kampf. Der revolutionäre Krieg erfordert eine langwierige, ernste Vorbereitung, die beginnt mit der wirtschaftlichen Hebung des Landes, dem Ingangbringen der Eisenbahnen (denn ohne Eisenbahnen ist ein moderner Krieg eine leere Phrase), der Wiederherstellung einer strengen revolutionären Disziplin und Selbstdisziplin überall.

Vom Standpunkt der Verteidigung des Vaterlandes ist es ein Verbrechen, einen militärischen Kampf mit einem unendlich stärkeren und vorbereiteteren Feind aufzunehmen, wenn man absolut keine Armee besitzt. Wir sind vom Standpunkt der Verteidigung des Vaterlandes verpflichtet, den schwersten, drückendsten, räuberischsten, schändlichsten Frieden zu unterzeichnen, nicht, um vor dem Imperialismus zu „kapitulieren", sondern um zu lernen und sich auf einen ernsthaften, gründlichen Kampf gegen ihn vorzubereiten.

Die verflossene Woche hat die russische Revolution auf eine unendlich höhere Stufe der welthistorischen Entwicklung emporgehoben. Die Geschichte ist in diesen Tagen mehrere Stufen auf einmal hinaufgestiegen.

Bisher hatten wir vor uns elende, verächtliche, klägliche (vom Standpunkt des Weltimperialismus) Feinde, den Idioten Romanow, den Prahlhans Kerenski, Banden von Junkern und Bourgeoissöhnchen. Jetzt hat sich gegen uns ein Riese des zivilisierten, technisch erstklassig ausgerüsteten, großartig organisierten Weltimperialismus erhoben. Mit ihm muss man kämpfen. Mit ihm muss man zu kämpfen verstehen. Das durch den dreijährigen Krieg entsetzlich zerstörte Bauernland, das die sozialistische Revolution begonnen hat, muss einem militärischen Kampf aus dem Wege gehen, solange man ihn selbst um den Preis der schwersten Opfer vermeiden kann – gerade um die Möglichkeit zu bekommen, irgend etwas Ernstes in dem Augenblick zu tun, wo der „letzte entscheidende Kampf" entbrennen wird.

Dieser Kampf wird erst dann entbrennen, wenn die sozialistische Revolution in den vorgeschrittenen imperialistischen Ländern ausbricht. Eine solche Revolution reift zweifelsohne heran, sie wird von Monat zu Monat, von Woche zu Woche stärker. Dieser heranreifenden Kraft muss man helfen. Man muss verstehen, ihr zu helfen. Man hilft nicht, sondern schadet ihr, wenn man die benachbarte Sozialistische Sowjetrepublik in einem Moment, wo sie absolut keine Armee besitzt, der Vernichtung ausliefert.

Man darf die große Losung: „Wir setzen auf den Sieg des Sozialismus in Europa!" nicht zu einer Phrase machen. Das ist eine Wahrheit, wenn man den langen und schwierigen Weg zum vollständigen Sieg des Sozialismus nicht außer acht lässt. Das ist eine unbestreitbare philosophisch-historische Wahrheit, wenn man die ganze „Ära der sozialistischen Revolution" in ihrer Gesamtheit nimmt. Aber jede abstrakte Wahrheit wird zur Phrase, wenn man sie auf jede beliebige konkrete Situation anwendet. Es ist unbestreitbar, dass „in jedem Streik die Hydra der sozialen Revolution steckt". Es ist unsinnig zu behaupten, dass man von jedem Streik sofort zur Revolution übergehen kann. Wenn wir „auf den Sieg des Sozialismus in Europa setzen" in dem Sinne, dass wir vor dem Volke die Bürgschaft übernehmen, dass die europäische Revolution unbedingt in den nächsten Wochen ausbrechen und siegen werde, unbedingt, bevor die Deutschen imstande sein werden, Petrograd, Moskau, Kiew zu erreichen und unser Eisenbahnwesen „ganz zu vernichten", so handeln wir nicht wie ernste Revolutionäre und Internationalisten, sondern wie Abenteurer.

Wenn Liebknecht die Bourgeoisie in zwei bis drei Wochen besiegt (das ist nicht ausgeschlossen), so wird er uns von allen Schwierigkeiten befreien. Das ist unbestreitbar. Aber wenn wir unsere heutige Taktik im Kampf gegen den jetzigen Imperialismus auf die Hoffnung gründen, dass Liebknecht ganz bestimmt gerade in den nächsten Wochen siegen muss, dann werden wir nur Spott verdienen. Wir werden die großen revolutionären Losungen der Gegenwart zu einer revolutionären Phrase machen.

Genossen, Arbeiter! Lernt aus den harten, aber nützlichen Lehren der Revolution. Bereitet euch ernsthaft, fieberhaft, unaufhörlich auf die Verteidigung des Vaterlands, auf die Verteidigung der Sozialistischen Sowjetrepublik vor.

1 Lenin meint die Rede von I. Steinberg in der gemeinsamen Sitzung der Fraktionen der Bolschewiki und der linken Sozialrevolutionäre im Allrussischen Zentralexekutivkomitee vom 23. Februar. Ein ausführlicher Bericht über die Rede Steinbergs ist nicht erschienen.

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