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Wladimir I. Lenin 19180723 Referat auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der Betriebskomitees

Wladimir I. Lenin: Referat auf der Moskauer Gouvernementskonferenz

der Betriebskomitees

23. Juli 1918

[„Prawda" Nr. 153. 24. Juli 1918. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 184-188]

Die letzten Tage waren gekennzeichnet durch die äußerste Zuspitzung der Dinge für die Sowjetrepublik, die sowohl durch die internationale Lage des Landes als auch durch die konterrevolutionären Verschwörungen und die damit eng zusammenhängende Lebensmittelkrise hervorgerufen worden ist.

Gestattet mir, bei der internationalen Lage zu verweilen. Die russische Revolution ist lediglich eine der Abteilungen der internationalen sozialistischen Armee, von deren Aktion der Erfolg und der Triumph des von uns vollzogenen Umsturzes abhängt. Diese Tatsache wird von keinem von uns vergessen. Genau so berücksichtigen wir, dass die erste Rolle, die das Proletariat Russlands in der Arbeiterbewegung der Welt spielt, sich nicht aus der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes erklärt. Ganz im Gegenteil, sie erklärt sich aus der Rückständigkeit Russlands, aus der Unfähigkeit der sogenannten vaterländischen Bourgeoisie, mit den Heeren des Proletariats fertig zu werden, aus ihrer Unfähigkeit, die politische Macht zu ergreifen und ihre Klassendiktatur zu verwirklichen. Das russische Proletariat ist sich seiner Isoliertheit im revolutionären Kampfe bewusst und erkennt klar, dass die gemeinsame Aktion der Arbeiter der ganzen Welt oder einiger in kapitalistischer Hinsicht fortgeschrittener Länder die notwendige Bedingung und grundlegende Voraussetzung seines Sieges ist. Das russische Proletariat weiß aber ausgezeichnet, dass es in jedem Lande sowohl offene als auch heimliche Freunde hat. So gibt es kein Land, in dem die Gefängnisse nicht überfüllt wären mit Internationalisten, die mit Sowjetrussland sympathisieren; so gibt es kein Land, wo nicht der revolutionäre Gedanke bald in der legalen, bald in der illegalen Presse seinen Ausdruck fände. Deshalb eben, weil wir unsere wahren Freunde kennen, lehnen wir jeden Kompromiss mit den Menschewiki ab, die Kerenski und seine Offensive unterstützt haben. In Bezug auf die letzte Frage ist sehr charakteristisch ein Brief der Internationalistin Rosa Luxemburg (dem Umfang nach klein, im Wesen aber ausgeprägt internationalistisch) in der englischen Zeitung „Workers Dreadnought" aus Anlass der Junioffensive. Rosa Luxemburg findet, dass dem internationalen Charakter der Großen Russischen Revolution durch die von Kerenski unternommene Offensive und durch die Sanktion, mit welcher der I. Allrussische Sowjetkongress diese Offensive geweiht und gebilligt habe, Abbruch getan worden sei. Diese Offensive des revolutionären Russland hat die Entwicklung der Revolution im Westen aufgehalten, und nur die Diktatur des Proletariats, der Übergang der ganzen Macht an das Proletariat, führte zur Zerreißung sämtlicher Geheimverträge, zur Enthüllung ihres räuberischen, imperialistischen Wesens und folglich auch zur Beschleunigung einer revolutionären Lösung in Europa. Einen ebenso mächtigen Einfluss auf das Erwachen und die Entfaltung der proletarischen Energie im Westen hatte auch unser Aufruf an alle Völker über den Abschluss eines demokratischen Friedens ohne Annexionen und Kontributionen. Alle diese revolutionären Akte haben den Arbeitern der ganzen Welt die Augen geöffnet, und keinerlei krampfhafte Anstrengungen der bürgerlichen und sozialverräterischen Gruppierungen wird es gelingen, deren erwachtes Klassenbewusstsein zu verdunkeln. Der Empfang, den die englischen Arbeiter Kerenski bereiteten, hat das mit genügender Klarheit bestätigt. Der Zauber der russischen Revolution fand in einer höchst grandiosen Aktion der deutschen Arbeiter – der ersten während des Krieges – seinen Ausdruck. Sie reagierten auf die Brester Verhandlungen mit einem kolossalen Streik in Berlin und anderen Industriezentren. Diese Aktion des Proletariats in einem Lande, das von nationalistischem Taumel trunken und vom Gift des Chauvinismus berauscht ist, ist eine Tatsache von erstklassiger Wichtigkeit und bezeichnet einen Wendepunkt in den Stimmungen des deutschen Proletariats.

Man weiß nicht, wie sich die revolutionäre Bewegung in Deutschland jetzt gestalten wird. Unzweifelhaft ist nur, dass dort eine ungeheure revolutionäre Kraft vorhanden ist, die mit eiserner Notwendigkeit in Erscheinung treten muss. Und zu Unrecht erhebt man gegen die deutschen Arbeiter die Beschuldigung, dass sie die Revolution nicht machten. Mit dem gleichen Rechte könnte man den russischen Arbeitern vorwerfen, dass sie im Laufe von 10 Jahren, von 1907 bis 1917, keine Revolution fabriziert haben. Aber so ist das doch nicht. Revolutionen werden nicht auf Bestellung gemacht, sie werden nicht im Voraus auf den einen oder anderen Zeitpunkt festgesetzt, sondern reifen im Prozess der historischen Entwicklung heran und brechen aus in einem Moment, der durch das Zusammenwirken einer ganzen Reihe innerer und äußerer Ursachen bedingt ist. Dieser Moment ist nahe und wird unvermeidlich und unausbleiblich eintreten. Für uns war es leichter, die Revolution anzufangen, aber es ist für uns außerordentlich schwer, sie fortzusetzen und zu vollenden. Furchtbar schwer kommt die Revolution in einem so hochentwickelten Lande wie Deutschland, in einem Lande mit einer so ausgezeichnet organisierten Bourgeoisie, zustande, desto leichter wird es jedoch sein, die sozialistische Revolution siegreich zu Ende zu führen, nachdem sie in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Europas entflammt sein wird und zu brennen beginnt.

Zu Unrecht macht man uns Vorwürfe wegen des Abschlusses des Brester Vertrags – eines außerordentlich erniedrigenden und drückenden Gewaltfriedens – und erblickt darin die völlige Preisgabe unserer Ideale und Unterwürfigkeit gegenüber dem deutschen Imperialismus. Es ist charakteristisch, dass diese Beschuldigung von bürgerlichen Kreisen und von sozial-kompromisslerischen Elementen ausgeht, die jetzt, wie die Menschewiki in der Ukraine, in Finnland und im Kaukasus, die deutschen Junker mit offenen Armen empfangen. Eine ebensolche Beschuldigung wird uns auch von den hirnlosen linken Sozialrevolutionären an den Kopf geworfen. Wir sind uns der ganzen Schwere des Brester Vertrages sehr wohl bewusst. Auch wissen wir genau, dass wir nach diesem Gewaltvertrag laut den Berechnungen unserer in Berlin tagenden Wirtschaftsdelegation Deutschland etwa sechs Milliarden Rubel werden bezahlen müssen. Die Lage ist unbedingt schwer, doch durch die gemeinsamen Anstrengungen des Proletariats und der Dorfarmut kann und muss ein Ausweg gefunden werden. Der wahnsinnige Versuch der linken Sozialrevolutionäre, uns durch die Ermordung Mirbachs in den Krieg hineinzuziehen, das ist kein Mittel, dem Brester Vertrag zu entgehen. Im Gegenteil – dieses Abenteuer kam den deutschen Kriegsparteien nur gelegen, deren Stellung natürlich schwächer werden muss infolge des Wachsens des Defätismus, nicht nur unter den deutschen Arbeitern, sondern auch unter der Bourgeoisie. Denn jetzt, nach dem Brester Frieden, ist es für alle geradezu handgreiflich, dass Deutschland einen Raubkrieg mit offen imperialistischen Zielen führt.

Außerordentlich schwer ist die Ernährungslage Sowjetrusslands, das von allen Seiten von imperialistischen Räubern umgeben ist, die von den rastlosen Konterrevolutionären im Innern unterstützt werden. Und auf die Aufgaben der Bekämpfung der Hungersnot, dieses besten Kampfmittels der Bourgeoisie gegen die proletarische Diktatur, muss die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse konzentriert sein. Eins müssen wir uns jedoch zum Grundsatz machen: bei der Bezwingung der Hungersnot werden wir kategorisch auf die bürgerlichen Kampfmethoden verzichten, die die Massen zu einem Hungerdasein verurteilen im Interesse der Reichen und Dorfwucherer, wir werden rein sozialistische Kampfverfahren anwenden. Diese aber bestehen in der Einführung des Getreidemonopols im Interesse der Arbeiter, sowie in der Festsetzung fester Preise.

Die Bourgeoisie und ihre Handlanger, die Sozialkompromissler, verfechten den freien Handel und die Aufhebung der festen Preise. Der freie Handel hat aber schon in einer ganzen Reihe von Städten seine Resultate gezeitigt. Sofort nach seiner Einführung sind die Brotpreise auf ein Vielfaches gestiegen, und darum ist das Produkt selbst vom Markte verschwunden: die Kulaken haben es in der Hoffnung auf weitere Preissteigerungen versteckt.

Der erbittertste Feind des Proletariats und Sowjetrusslands ist der Hunger. Auf dem Wege zu seiner Überwindung stößt das Proletariat jedoch auf die Dorfbourgeoisie, die keineswegs an der Beseitigung des Hungers interessiert ist, sondern im Gegenteil aus ihm ihre Gruppen- und Klassenvorteile schöpft. Das Proletariat muss dies im Auge behalten und muss im Bunde mit der hungernden Dorfarmut einen verzweifelten, unversöhnlichen Kampf gegen das Dorfkulakentum führen. Zum gleichen Zweck muss die schon begonnene Organisierung von Abteilungen für die Beschaffung von Lebensmitteln fortgesetzt werden, an deren Spitze ehrliche Kommunisten gestellt werden müssen, die das Vertrauen der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen genießen. Nur dann wird die Lebensmittelversorgung geregelt und die Sache der Revolution gerettet werden.

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