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Wladimir I. Lenin 19180628 Schlusswort zum Bericht über die gegenwärtige Lage

Wladimir I. Lenin: Schlusswort zum Bericht über die gegenwärtige Lage

auf der IV. Konferenz der Gewerkschaften und der Betriebskomitees Moskaus, 28. Juni 1918

[Veröffentlicht 1918 in dem Buch: „Protokolle der IV. Konferenz der Betriebskomitees und Gewerkschaften Moskaus". Verlag des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 115-128]

Genossen, erlaubt mir vor allem, auf einige Sätze des Korreferenten Paderin, der sich gegen mich gewandt hat, einzugehen. Aus dem Stenogramm sehe ich, dass er gesagt hat: „Wir müssen alles tun, was getan werden kann, damit das Proletariat, in erster Linie das englische und das deutsche Proletariat, die Möglichkeit habe, sich gegen seine Unterdrücker zu erheben. Was muss aber zu diesem Zweck getan werden? Sollen wir etwa diesen Unterdrückern Vorschub leisten? Dadurch, dass wir in unserer Mitte Zwist entfachen, dadurch, dass wir das Land zerrütten, dass wir es schwächen, festigen wir außerordentlich die Position der englischen, französischen und deutschen Imperialisten, die sich letzten Endes vereinigen werden, um die Arbeiterklasse Russlands zu erdrosseln." Das sind Betrachtungen, die zeigen, wie wenig fest die Menschewiki stets in ihrem Kampf, in ihrer Opposition gegen den imperialistischen Krieg waren; denn diese von mir verlesene Argumentation ist nur zu begreifen im Munde eines Menschen, der sich einen Vaterlandsverteidiger nennt, der völlig die Position des Imperialismus bezieht, eines Menschen, der den imperialistischen Krieg dadurch rechtfertigt, dass er den bürgerlichen Schwindel wiederholt, die Arbeiter verteidigten in diesem Krieg ihr Vaterland. In der Tat: stellt man sich auf den Standpunkt, dass die Arbeiter in diesem Krieg das Land nicht zerrütten und nicht schwächen dürfen, so bedeutet das, die Arbeiter aufzufordern, im imperialistischen Krieg das Vaterland zu verteidigen. Ihr wisst aber, was die bolschewistische Regierung getan hat, die es als ihre erste Pflicht erachtete, die Geheimverträge zu veröffentlichen, zu enthüllen, an den Pranger zu stellen. Ihr wisst, dass die Alliierten im Interesse der Geheimverträge Krieg führten, und dass die Kerenskiregierung, die ihre Existenz der Hilfe und der Unterstützung der Menschewiki und der rechten Sozialrevolutionäre verdankte, die Geheimverträge nicht nur nicht aufhob, sondern sie nicht einmal veröffentlichte. Ihr wisst, dass das russische Volk Krieg führte wegen jener Geheimverträge, in denen den russischen Gutsbesitzern und Kapitalisten für den Fall des Sieges die Annexion Konstantinopels, der Meerengen, Lembergs, Galiziens und Armeniens versprochen worden war. Wenn wir also auf dem Standpunkt der Arbeiterklasse stehen, wenn wir gegen den Krieg sind, – wie könnten wir dann diese Geheimverträge dulden? Solange wir die Geheimverträge duldeten, solange wir bei uns die Macht der Bourgeoisie duldeten, nährten wir bei den deutschen Arbeitern die chauvinistische Überzeugung, in Russland gebe es keine klassenbewussten Arbeiter, ganz Russland segle im Fahrwasser des Imperialismus, Russland führe den Krieg, um Österreich und die Türkei auszuplündern. Umgekehrt, um die deutschen Imperialisten zu schwächen, die deutschen Arbeiter von ihnen loszulösen, tat die Arbeiter- und Bauernregierung so viel, wie keine einzige Regierung der Welt. Denn als diese Geheimverträge veröffentlicht und vor der ganzen Welt entlarvt waren, mussten selbst die deutschen Chauvinisten, selbst die deutschen Vaterlandsverteidiger, selbst jene Arbeiter, die ihrer Regierung folgen, in ihrem Zentralorgan, dem „Vorwärts", zugeben, dass das „ein Akt einer sozialistischen Regierung, ein wahrer revolutionärer Akt" sei. Sie mussten das anerkennen, denn keine einzige der in den Krieg verstrickten imperialistischen Regierungen hat das getan, nur unsere Regierung allein hat die Geheimverträge zerrissen.

Natürlich, im Herzen jedes deutschen Arbeiters, wie gehetzt, geduckt und von den Imperialisten bestochen er auch sein mag, regt sich der Gedanke: hat etwa unsere Regierung keine Geheimverträge? (Zwischenruf: „Sprechen Sie über die Schwarzmeerflotte!") Gut, ich werde davon sprechen, obwohl das nicht zum Thema gehört. Bei jedem deutschen Arbeiter regte sich der Gedanke: wenn der russische Arbeiter so weit gegangen ist, die Geheimverträge zu zerreißen – hat etwa die deutsche Regierung keine Geheimvertrage? Als es zu den Brester Verhandlungen kam, da hallten die Enthüllungen des Genossen Trotzki durch die ganze Welt. Und hat nicht etwa diese Politik dazu geführt, dass in einem feindlichen Land, das in einem furchtbaren imperialistischen Krieg gegen andere Regierungen steht, unsere Politik nicht Erbitterung der Volksmassen auslöste, sondern ihre Unterstützung hervorrief? Unsere Regierung war die einzige Regierung dieser Art. Unsere Revolution hat erreicht, dass während des Krieges in einem feindlichen Land eine gewaltige revolutionäre Bewegung entsteht, hervorgerufen einzig dadurch, dass wir die Geheimverträge zerrissen, dass wir erklärten: wir weichen vor keinerlei Gefahren zurück. Wenn wir wissen, wenn wir sagen – nicht durch Worte, sondern durch Taten –, dass nur die Weltrevolution Rettung aus dem Weltkrieg, aus dem imperialistischen Völkergemetzel bringen kann, dann müssen wir in unserer Revolution auf dieses Ziel hinsteuern, ohne Rücksicht auf alle Schwierigkeiten, auf alle Gefahren. Und als wir diesen Weg betraten, entbrannte zum ersten Mal in der Welt während des Krieges in dem allerimperialistischsten, in dem diszipliniertesten Land, in Deutschland, im Januar ein Massenstreik, der hoch aufloderte. Gewiss, es gibt Leute, die da glauben, eine Revolution könne in einem fremden Land auf Bestellung, nach Übereinkunft entstehen. Diese Leute sind entweder Toren oder Provokateure. In den letzten zwölf Jahren haben wir zwei Revolutionen durchgemacht. Wir wissen, dass sie weder auf Bestellung noch nach Vereinbarung gemacht werden können, dass sie dann ausbrechen, wenn Millionen und aber Millionen zu dem Schluss kommen, man könne so nicht mehr weiterleben. Wir wissen, unter welchen Schwierigkeiten die Revolutionen von 1905 und 1917 geboren wurden, und wir haben niemals erwartet, dass die Revolution mit einem Schlag, auf einen Aufruf hin, auch in anderen Ländern ausbrechen werde. Dass sie in Deutschland und Österreich heranzureifen beginnt, ist ein großes Verdienst der russischen Oktoberrevolution. Heute lesen wir in unseren Zeitungen, dass in Wien, wo die Brotrationen noch kleiner sind als bei uns, wo keine Ausplünderung der Ukraine zu helfen vermag, wo die Bevölkerung sagt, sie habe noch niemals so entsetzlichen Hunger gelitten, dass dort ein Arbeiterrat entstanden ist. In Wien brechen schon wieder allgemeine Streiks aus.

Und da sagen wir uns: da habt ihr den zweiten Schritt, da habt ihr den zweiten Beweis, dass die russischen Arbeiter durch das Zerreißen der imperialistischen Geheimverträge, durch die Vertreibung ihrer Bourgeoisie einen konsequenten Schritt als klassenbewusste Arbeiter, als Internationalisten getan haben. Sie haben dadurch dem Wachsen der Revolution in Deutschland und Österreich geholfen, so wie noch keine Revolution der Welt einer Revolution in einem feindlichen Staat geholfen hat, der sich im Kriegszustand, im Zustand allergrößter Erbitterung befindet.

Wollte man voraussagen, wann die Revolution ausbrechen werde, wollte man versprechen, dass sie morgen kommen werde, so hieße das euch betrügen. Erinnert euch, besonders diejenigen von euch, die beide russische Revolutionen durchgemacht haben: wer von euch konnte im November 1904 dafür bürgen, dass zwei Monate später hunderttausend Petrograder Arbeiter zum Winterpalast ziehen und die große Revolution eröffnen werden?

Erinnert euch: Wie hätten wir im Dezember 1916 verbürgen können, dass zwei Monate später die Zarenmonarchie im Verlauf weniger Tage niedergeworfen sein wird? Wir in unserem Lande, wo man zwei Revolutionen durchgemacht hat, sehen und wissen, dass man den Verlauf der Revolution nicht voraussagen, dass man sie nicht hervorrufen kann. Man kann nur für die Revolution arbeiten. Wenn man konsequent arbeitet, wenn man selbstlos arbeitet, wenn diese Arbeit mit den Interessen der unterdrückten Massen, die die Mehrheit bilden, verbunden ist, dann kommt die Revolution – aber wo, wie, in welchem Augenblick, aus welchem Anlass, das lässt sich nicht sagen. Darum werden wir uns auf keinen Fall erlauben, die Massen zu täuschen und zu sagen: die deutschen Arbeiter werden uns morgen helfen, sie werden übermorgen ihren Kaiser stürzen. Das kann man nicht sagen.

Unsere Lage ist um so schwieriger, als die russische Revolution den anderen Revolutionen vorausgeeilt ist. Dass wir aber nicht allein sind, das zeigen uns die fast jeden Tag eintreffenden Nachrichten darüber, wie sich die besten deutschen Sozialdemokraten alle für die Bolschewiki aussprechen, wie in der legalen deutschen Presse Clara Zetkin für die Bolschewiki eintritt; dann Franz Mehring, der jetzt in einer Reihe von Artikeln den deutschen Arbeitern beweist, dass nur die Bolschewiki den Sozialismus richtig begriffen haben; wie vor kurzem im württembergischen Landtag der Sozialdemokrat Hoschka mit aller Bestimmtheit erklärt hat, nur in den Bolschewiki erblicke er ein Musterbeispiel von Konsequenz und richtig geführter revolutionärer Politik. Glaubt ihr, dass derlei Dinge keinen Widerhall finden unter Dutzenden, Hunderten, Tausenden deutscher Arbeiter, die sich ihnen von vornherein anschließen werden? Wenn es in Deutschland und Österreich so weit kommt, dass sich Arbeiterräte bilden und ein zweiter Massenstreik ausbricht, dann dürfen wir ohne die geringste Übertreibung, ohne jegliche Selbsttäuschung sagen, dass dies den Beginn der Revolution bedeutet. Wir stellen mit absoluter Genauigkeit fest: Unsere Politik war eine richtige Politik, unser Weg war der richtige Weg, wir haben den österreichischen und den deutschen Arbeitern geholfen, sich nicht als unsere Feinde zu fühlen, die die russischen Arbeiter für die Interessen des Kaisers, für die Interessen der deutschen Kapitalisten würgen; wir haben ihnen geholfen, sich als Brüder der russischen Arbeiter zu fühlen, die dieselbe revolutionäre Arbeit leisten.

Ich möchte noch auf eine Stelle in der Rede Paderins hinweisen, die meines Erachtens um so mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie sich teilweise mit dem Gedanken des Vorredners deckt. Diese Stelle lautet: „Wir sehen, dass jetzt der Bürgerkrieg innerhalb der Arbeiterklasse geführt wird. Dürfen wir das etwa zulassen?" Ihr seht also, der Bürgerkrieg wird als Krieg innerhalb der Arbeiterklasse oder, wie der Vorredner ihn nannte, als Krieg gegen die Bauern bezeichnet. Wir wissen aber ausgezeichnet, dass weder das eine noch das andere wahr ist. Der Bürgerkrieg in Russland ist ein Krieg der Arbeiter und der armen Bauern gegen die Gutsbesitzer und die Kapitalisten. Dieser Krieg wird verlängert, zieht sich hin, weil die russischen Gutsbesitzer und Kapitalisten im Oktober und im November mit verhältnismäßig geringen Opfern besiegt wurden, besiegt wurden durch den Ansturm der Volksmassen unter Verhältnissen, wo ihnen sofort augenscheinlich war, dass sie vom Volk keine Unterstützung erwarten können. Es kam so weit, dass selbst im Dongebiet, wo die reichen Kosaken, die von Ausbeutung der Lohnarbeit leben, am zahlreichsten, wo die Hoffnungen auf die Konterrevolution am größten sind, dass sogar dort Bogajewski, der Führer des konterrevolutionären Aufstandes, anerkennen musste und öffentlich anerkannte: „Unsere Sache ist verspielt, weil selbst bei uns die übergroße Mehrheit der Bevölkerung für die Bolschewiki ist."

So lagen die Dinge, so haben die Gutsbesitzer und Kapitalisten im Oktober und November ihr Spiel, ihr konterrevolutionäres Spiel verloren.

Das ist es, was bei ihrem Abenteuer herauskam, als sie versuchten, aus Fähnrichen, aus Offizieren, aus Gutsbesitzer- und Kapitalistensöhnchen eine weiße Garde gegen die Arbeiter- und Bauernrevolution zu bilden. Und wisst ihr denn jetzt nicht – lest die heutigen Zeitungen –, dass das tschechoslowakische Abenteuer mit dem Geld der englischen und französischen Kapitalisten gespeist wird, die Truppen dingen, um uns wieder in den Krieg hineinzuziehen? Habt ihr etwa nicht gelesen, wie die Tschechoslowaken in Samara erklärten: Wir werden uns mit Dutow, mit Semjonow vereinigen und werden die Arbeiter Russlands und das russische Volk zwingen, zusammen mit England und Frankreich von Neuem gegen Deutschland Krieg zu führen; wir werden die Geheimverträge wiederherstellen und werden euch für vielleicht noch vier Jahre in den imperialistischen Krieg stürzen im Bunde mit der Bourgeoisie. Statt dessen führen wir heute Krieg gegen unsere Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie der anderen Länder, und nur weil wir diesen Krieg führen, haben wir die Sympathie und die Unterstützung der Arbeiter anderer Länder gewonnen. Wenn der Arbeiter des einen kriegführenden Landes sieht, dass in dem anderen kriegführenden Land zwischen den Arbeitern und der Bourgeoisie eine enge Verbindung geschaffen wird, so spaltet das die Arbeiter nach Nationen, schweißt sie mit ihrer Bourgeoisie zusammen. Das ist das allergrößte Übel, das ist der Zusammenbruch der sozialistischen Revolution, der Zusammenbruch und der Untergang der ganzen Internationale.

Im Jahre 1914 ist die Internationale zugrunde gegangen, weil die Arbeiter aller Länder sich mit ihrer nationalen Bourgeoisie vereinigten und sich untereinander spalteten. Heute geht diese Spaltung ihrem Ende entgegen. Ihr habt vielleicht vor kurzem gelesen, dass in England der schottische Volksschullehrer und Gewerkschaftler Maclean zum zweiten Mal, diesmal für fünf Jahre, ins Gefängnis geworfen wurde. Das erste Mal kam er auf 18 Monate ins Gefängnis, weil er den Krieg bloßgestellt und von dem verbrecherischen Charakter des englischen Imperialismus gesprochen hatte. Als er auf freien Fuß gesetzt worden war, gab es in England schon einen Vertreter der Sowjetregierung, Litwinow; er ernannte Maclean sofort zum Konsul, zum Vertreter der Russischen Föderativen Sowjetrepublik in England. Die schottischen Arbeiter nahmen das mit Begeisterung auf. Die englische Regierung leitete nun zum zweiten Mal ein Verfahren gegen Maclean ein, nicht nur als schottischen Volksschullehrer, sondern auch als Konsul der Föderativen Sowjetrepublik. Maclean sitzt im Gefängnis, weil er offen als Vertreter unserer Regierung aufgetreten ist. Wir aber haben diesen Mann niemals gesehen, er gehörte niemals unserer Partei an. Er ist der geliebte Führer der schottischen Arbeiter. Wir haben uns mit ihm vereinigt; der russische und der schottische Arbeiter haben sich gegen die englische Regierung vereinigt, ungeachtet dessen, dass diese die Tschechoslowaken kauft und eine fieberhafte Politik der Hineinziehung der Russischen Republik in den Krieg betreibt. Da habt ihr Beweise, dass in allen Ländern, unabhängig von ihrer Stellung im Krieg, sowohl in Deutschland, das gegen uns kämpft, als auch in England, das Bagdad an sich reißen, die Türkei endgültig erdrosseln will – dass sich überall die Arbeiter mit den russischen Bolschewiki, mit der russischen bolschewistischen Revolution zusammenschließen. Wenn hier der Redner, dessen Worte ich zitiert habe, sagte, der Bürgerkrieg werde von Arbeitern und Bauern gegen Arbeiter und Bauern geführt, so wissen wir ausgezeichnet, dass das nicht wahr ist. Die Arbeiterklasse, das ist eine Sache, eine andere Sache aber sind Gruppen, kleine Schichten dei Arbeiterklasse. Die deutsche Arbeiterklasse war von 1871 bis 1914, fast ein halbes Jahrhundert lang, für die ganze Welt ein Vorbild sozialistischer Organisation. Wir wissen, dass sie eine Partei von einer Million Mitglieder besaß, dass sie Gewerkschaften mit zwei, drei, vier Millionen Mitgliedern geschaffen hatte, aber nichtsdestoweniger blieben während dieses halben Jahrhunderts Hunderttausende deutscher Arbeiter in klerikalen, pfäffischen Organisationen vereinigt und traten glühend für die Pfaffen, für die Kirche, für ihren Kaiser ein. Wer vertrat da in Wirklichkeit die Arbeiterklasse: die riesige deutsche sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften, oder die Hunderttausende klerikaler Arbeiter? Die Arbeiterklasse, die die große Mehrheit der klassenbewussten, fortgeschrittenen, denkenden Arbeiter zusammenschließt, das ist eine Sache, eine andere Sache aber sind die einzelne Fabrik, der einzelne Betrieb, die einzelne Ortschaft oder einige Arbeitergruppen, die im Lager der Bourgeoisie verbleiben.

Die Arbeiterklasse Russlands in ihrer gigantischen, erdrückenden Mehrheit – das zeigen euch alle Wahlen zu den Sowjets, zu den Betriebskomitees, zu den Konferenzen –, sie steht zu 99 Prozent auf der Seite der Sowjetmacht, denn sie weiß, dass diese Macht den Krieg gegen die Bourgeoisie, gegen die Kulaken führt, nicht aber gegen die Arbeiter und Bauern. Es ist das ein gewaltiger Unterschied, wenn sich eine ganz geringfügige Gruppe von Arbeitern findet, die fortfahren, in sklavischer Abhängigkeit von der Bourgeoisie zu bleiben. Wir führen den Krieg nicht gegen sie, sondern gegen die Bourgeoisie, und um so schlimmer für jene geringfügigen Gruppen, die bis zum heutigen Tage im Bunde mit der Bourgeoisie bleiben.

Es gibt eine Frage, die mir hier auf einem Zettel übergeben wurde. Sie lautet: „Warum erscheinen bis heute noch konterrevolutionäre Zeitungen?" Einer der Gründe dafür ist der, dass es auch unter den Buchdruckern Elemente gibt, die von der Bourgeoisie bestochen sind.1 (Lärm, Rufe: „Das ist nicht wahr".) Ihr könnt schreien, soviel ihr wollt, aber ihr werdet mich nicht daran hindern, eine Wahrheit auszusprechen, die alle Arbeiter kennen und die ich eben zu erläutern begonnen habe. Wenn ein Arbeiter von seinem Arbeitslohn in der bürgerlichen Presse viel hält und wenn er sagt: Ich will mir meinen hohen Arbeitslohn erhalten, den ich dafür bekomme, dass ich der Bourgeoisie helfe, Gift zu verkaufen, das Volk zu vergiften – dann sage ich, diese Arbeiter sind so gut wie von der Bourgeoisie bestochen, nicht in dem Sinne, als ob irgend jemand von ihnen als einzelner von der Bourgeoisie gedungen wäre. Nicht in diesem Sinne wollte ich das sagen, sondern in jenem Sinn, in dem alle Marxisten von den englischen Arbeitern gesprochen haben, die mit ihren Kapitalisten ein Bündnis schließen. Ihr alle, die ihr Gewerkschaftsliteratur gelesen habt, kennt auch das Beispiel, dass es in England nicht nur Arbeiterverbände gibt, sondern dass dort Arbeiter und Kapitalisten desselben Berufs in Verbänden organisiert sind, die den Zweck verfolgen, die Preise in die Höhe zu treiben und alle übrigen auszuplündern. Alle Marxisten, sämtliche Sozialisten aller Länder weisen mit dem Finger auf solche Beispiele. Angefangen mit Marx und Engels, sprachen sie von Arbeitern, die infolge ihres mangelnden Klassenbewusstseins, infolge ihrer beschränkten Zunftinteressen von der Bourgeoisie bestochen worden sind. Diese Arbeiter verkaufen ihr Erstgeburtsrecht, ihr Recht auf die sozialistische Revolution, indem sie gegen die gewaltige Mehrheit der Arbeiter und der unterdrückten werktätigen Schichten in ihrem eigenen Land, gegen ihre eigene Klasse ein Bündnis mit ihren Kapitalisten schlossen. Das gleiche sehen wir denn auch bei uns, da sich bei uns einzelne Arbeitergruppen finden, die sagen: Was geht es uns an, wenn das, was wir setzen, Opium, Gift ist, das zu Lüge und Provokation führt. Ich erhalte meinen sehr hohen Lohn, auf die anderen kann ich pfeifen. Diese Arbeiter werden wir brandmarken, diesen Arbeitern haben wir immer, in unserer ganzen Literatur, gesagt und offen gesagt: Solche Arbeiter wenden sich von der Arbeiterklasse ab und gehen auf die Seite der Bourgeoisie über.

Genossen! Ich komme nunmehr zur Behandlung der mir gestellten Fragen, aber zunächst will ich, um das nicht zu vergessen, die Frage nach der Schwarzmeerflotte beantworten, die offenbar gestellt worden ist, um uns festzunageln. Ich kann euch sagen, dass dort Genosse Raskolnikow gearbeitet hat, den die Moskauer und Petrograder Arbeiter aus seiner Agitation und seiner Parteiarbeit ausgezeichnet kennen. Genosse Raskolnikow wird selber hier erscheinen und euch erzählen, wie er dafür agitiert hat, wir sollten die Flotte lieber vernichten, als zulassen, dass die deutschen Truppen mit ihr gegen Noworossijsk vorrücken. So verhielt es sich mit der Schwarzmeerflotte. Die Volkskommissare Stalin, Schljapnikow und Raskolnikow treffen bald in Moskau ein. Sie werden uns berichten, wie die Sache war. Ihr werdet sehen, dass unsere Politik ebenso wie die Politik des Brester Friedens wohl viel schwere Not über uns gebracht hat, dass sie aber die einzige war, die der Sowjetmacht und der sozialistischen Arbeiterrevolution die Möglichkeit gegeben hat, vor den Arbeitern aller Länder ihre Fahne hochzuhalten. Wenn jetzt in Deutschland mit jedem Tag die Zahl der Arbeiter wächst, die ihre alten Vorurteile gegen die Bolschewiki abstreifen und die Richtigkeit unserer Politik begreifen, so ist das das Verdienst jener Taktik, die wir, angefangen mit dem Brester Vertrag, befolgen.

Von den Fragen, die mir gestellt wurden, möchte ich auf die zweite Frage, die die Getreidezufuhr betrifft, eingehen. Einzelne Arbeiter sagen: Warum verbietet ihr die Zufuhr von Getreide durch einzelne Arbeiter, wenn sie es für ihre Familie herbei transportieren? Die Antwort darauf ist einfach: überlegt, was herauskäme, wenn die Tausende Pud, die für eine bestimmte Ortschaft, eine bestimmte Fabrik, einen bestimmten Bezirk oder einen bestimmten Stadtteil notwendig sind, durch Tausende von Menschen herangebracht würden? Wenn wir das zuließen, so würde der völlige Zusammenbruch der Verpflegungsorganisationen beginnen. Wir sprechen jenen hungrigen, geplagten Menschen absolut nicht schuldig, der als einzelner auf die Suche nach Brot geht und es mit allen möglichen Mitteln zu beschaffen sucht, aber wir sagen: Wir sind als Arbeiter- und Bauernregierung nicht dazu da, um den Verfall und den Zusammenbruch anzuspornen und zu legalisieren. Dazu bedarf es keiner Regierung. Die Regierung ist dazu da, um die Arbeiter zu vereinigen, sie zu organisieren, sie zum bewussten Kampf gegen die Unbewusstheit zusammenzuschließen. Man kann nicht diejenigen schuldig sprechen, die aus Unbewusstheit alles hinwerfen, auf nichts Rücksicht nehmen, um sich mit jedem beliebigen Mittel heraus zu helfen – um sich Brot zu beschaffen. Schuldig sprechen muss man aber diejenigen, die Parteimitglieder sind, und die, obwohl sie das Getreidemonopol propagieren, das geschlossene und bewusste Handeln nicht genügend unterstützen. Ja, der Kampf gegen Hamsterei und Schleichhandel, gegen die individuelle Getreidezufuhr isl ein schwieriger Kampf, weil das ein Kampf gegen die Unwissenheit, gegen die Unbewusstheit, gegen die Unorganisiertheit der breiten Massen ist, aber auf diesen Kampf werden wir niemals verzichten. Jedes Mal, wenn Leute sich auf die individuelle Beschaffung stürzen, werden wir sie immer wieder zu proletarischen, sozialistischen Methoden der Bekämpfung des Hungers auffordern: Schließen wir uns zusammen, lasst uns die krank gewordenen Abteilungen für Lebensmittelbeschaffung durch neue Kräfte ersetzen, ersetzen wir sie durch frische, stärkere, ehrlichere, bewusstere, erprobtere Leute, und wir werden die gleiche Getreidemenge, die gleichen Tausende Pud heranbringen, die von 200 Personen mit zersplitterten Kräften einzeln zu je 15 Pud herbeigeschleppt werden, wobei sie die Preise steigern, die Spekulation verstärken. Wir hingegen werden diese 200 Mann zusammenschließen, wir werden eine geschlossene, starke Arbeiterarmee schaffen. Wenn uns das nicht auf den ersten Anhieb gelingt, so werden wir unsere Anstrengungen wiederholen; wir werden in jedem Betrieb, in jeder Fabrik danach trachten, dass die klassenbewussten Arbeiter mehr Kräfte, zuverlässigere Leute für den Kampf gegen die Spekulation stellen, und wir sind überzeugt, dass das Klassenbewusstsein, die Disziplin und die Organisiertheit der Arbeiter letzten Endes alle schweren Prüfungen überwinden werden. Wenn die Menschen sich aus eigener Erfahrung davon überzeugt haben werden, dass Hunderttausende Hungernder durch Hamsterei der einzelnen nicht gerettet werden können, dann werden wir sehen, dass die Organisiertheit und das Klassenbewusstsein siegen und dass wir auf dem Wege des Zusammenschlusses die Bekämpfung des Hungers organisieren und eine richtige Brotverteilung erreichen werden.

Man fragt mich hier: Warum ist für andere Industrieerzeugnisse, die ebenso notwendig sind wie das Getreide, kein Monopol eingeführt? Darauf antworte ich: Die Sowjetmacht ergreift alle Maßnahmen dazu. Ihr wisst, dass die Tendenz besteht, die Textilfabriken, die Textilindustrie zu organisieren, zu vereinigen. Ihr wisst, dass in den meisten leitenden Zentralstellen dieser Organisation Arbeiter sitzen, ihr wisst, dass die Sowjetmacht die Nationalisierung der Industriezweige in Angriff nimmt, ihr wisst, dass die Schwierigkeiten, die sich uns auf diesem Weg entgegenstellen, gewaltig sind, und dass es hier vieler Kräfte bedarf, um das alles in organisierter Weise zu bewerkstelligen. Wir fassen diese Sache nicht so an, wie es Regierungen tun, die sich auf Beamte stützen. So ist es leicht zu regieren: soll der eine vierhundert Rubel bekommen, soll der andere mehr, soll er tausend Rubel bekommen, unsere Sache ist es, zu befehlen, und sie haben das auszuführen. So wird in allen bürgerlichen Ländern regiert, man stellt gegen hohe Gehälter Beamte an, man stellt eben die Söhnchen der Bourgeoisie an und beauftragt sie mit der Verwaltung. Die Sowjetrepublik kann nicht in dieser Weise verwalten. Sie hat keine Beamten, um die Vereinigung aller Textilfabriken, die Registrierung, die Einführung des Monopols für alle notwendigen Bedarfsartikel und ihre richtige Verteilung zu leiten und zu führen. Wir rufen auch hier die Arbeiter dazu heran, wir rufen Vertreter der Gewerkschaften der Textilarbeiter und sagen ihnen: Ihr müsst im leitenden Kollegium der Textilzentralstelle die Mehrheit bilden und ihr werdet die Mehrheit in ihm bilden, so wie ihr in den leitenden Kollegien des Obersten Volkswirtschaftsrates die Mehrheit habt. Genossen Arbeiter, nehmt selbst diese überaus wichtigen Staatsangelegenheiten in Angriff; wir wissen, dass das schwerer ist, als sachkundige Beamte anzustellen, aber wir wissen auch, dass es keinen anderen Weg gibt. Man muss die Macht in die Hände der Arbeiterklasse legen und ungeachtet aller Schwierigkeiten die fortgeschrittenen Arbeiter lehren, aus eigener Erfahrung, aus der Erfahrung an ihrem eigenen Leibe, aus eigener Kraft dahinter zu kommen, wie alle Waren, alle Textilfabrikate im Interesse der Werktätigen zu verteilen sind.

Das ist der Grund, warum die Sowjetmacht für die Einführung des staatlichen Monopols, für die Einführung fester Preise alles tut, was sie in der gegebenen Lage tun kann. Sie tut das durch die Arbeiter, gemeinsam mit den Arbeitern, sie gibt ihnen die Mehrheit in jeder Verwaltung, in jeder einzelnen Zentralstelle, sei es der Oberste Volkswirtschaftsrat, sei es die Vereinigung der Metallbetriebe oder die Vereinigung der im Laufe weniger Wochen nationalisierten Zuckerfabriken. Dieser Weg ist ein schwieriger Weg, aber ich wiederhole: ohne Schwierigkeiten ist nicht zu erreichen, dass Arbeiter, die früher gewöhnt waren, und von der Bourgeoisie Jahrhunderte hindurch nur dazu abgerichtet wurden, die Befehle der Bourgeoisie sklavisch auszuführen, – dass diese Arbeiter eine andere Haltung annehmen, dass sie fühlen: die Staatsmacht, das sind wir. Wir sind Herr der Industrie, Herr des Getreides, Herr aller Produkte im Lande. Wenn eben dieses Bewusstsein tief in die Arbeiterklasse eindringt, wenn sie durch eigene Erfahrung, durch eigene Arbeit ihre Kräfte verzehnfachen wird, erst dann werden alle Schwierigkeiten der sozialistischen Revolution besiegt sein.

Zum Schluss wende ich mich an die Konferenz der Betriebskomitees noch einmal mit einem Appell: Hier, in der Stadt Moskau, wo die Schwierigkeiten besonders groß sind, denn Moskau ist ein gewaltiges Zentrum des Handels und der Spekulation, wo zehntausende Menschen während vieler Jahre nur dadurch existierten, dass sie durch Handel und Spekulation ihren Lebensunterhalt erwarben, hier sind die Schwierigkeiten besonders groß, aber hier gibt es dafür auch solche Kräfte, die es in keiner kleinen Stadt gibt. Mögen diese Arbeiterorganisationen, mögen die Betriebskomitees sich nur alles gut merken und fest einprägen, was alle gegenwärtigen Ereignisse, was die jetzige Hungersnot, die die Werktätigen Russlands betroffen hat, sie lehrt. Nur immer neue, immer breitere Organisationen der klassenbewussten und fortgeschrittenen Arbeiter können die Revolution davor retten, dass die Macht an die Gutsbesitzer und Kapitalisten zurückfällt. Diese Arbeiter bilden jetzt die Mehrheit, aber das genügt nicht; sie müssen sich mehr der allgemeinen Staatsarbeit annehmen. In Moskau gibt es eine Unmasse von Fällen, wo die Spekulanten sich den Hunger zunutze machen, sich am Hunger bereichern, das Getreidemonopol durchbrechen, wo die Reichen alles haben, was das Herz nur begehrt. In Moskau gibt es 8000 Mitglieder der Kommunistischen Partei, in Moskau werden die Gewerkschaften 20.000 bis 30.000 Leute stellen, für die sie bürgen können, die zuverlässige, standhafte Träger der proletarischen Politik sein werden. Fasst sie zusammen, schafft Hunderttausende von Abteilungen, kämpft für die Sache der Ernährung, kämpft für die Haussuchung bei der ganzen reichen Bevölkerung – und ihr werdet das erreichen, was ihr braucht.

Ich habe euch voriges Mal geschildert, welche Erfolge in dieser Sache in Jelez erzielt worden sind; aber in Moskau ist das schwieriger zu machen. Ich sagte, Jelez sei die am besten organisierte Stadt. Es gibt viele Städte, wo die Dinge viel schlechter liegen, weil das eine schwierige Sache ist; weil es sich hier nicht um Mangel an Waffen handelt – ihrer gibt es, soviel man will –, sondern die Schwierigkeit besteht darin, dass es gilt, auf die leitenden, verantwortlichen Posten Hunderte und Tausende unbedingt zuverlässiger Arbeiter vorrücken zu lassen, die zu begreifen vermögen, dass sie nicht für ihre lokalen Interessen, sondern für die Sache ganz Russlands wirken; Arbeiter, die fähig sind, als Vertreter der ganzen Klasse auf ihrem Posten zu stehen, nach einem bestimmten, straffen Plan die Arbeit zu organisieren und das auszuführen, was vorgeschrieben ist, das was der Moskauer Sowjet, die Organisationen des ganzen proletarischen Moskau beschließen. Die ganze Schwierigkeit besteht darin, das Proletariat zu organisieren, dass es bewusster werde, als es bisher war. Schaut euch die Petrograder Wahlen an, und ihr werdet sehen, wie dort – trotzdem der Hunger dort noch viel schlimmer wütet als in Moskau, trotzdem dort das Elend noch viel drückender hereinbrach – die Hingabe an die Arbeiterrevolution wächst, wie dort Organisiertheit und Geschlossenheit zunehmen, und dann werdet ihr euch sagen, dass mit dem Wachstum der Nöte, die über uns hereingebrochen sind, auch die Entschlossenheit der Arbeiterklasse wächst, alle diese Schwierigkeiten zu überwinden. Beschreitet diesen Weg, verstärkt eure Energie, schickt neue Abteilungen von Tausenden auf diesen Weg, um dem Verpflegungswesen zu helfen, und wir werden mit euch, gestützt auf eure Hilfe, den Hunger besiegen und eine richtige Verteilung erreichen.

1 W. I. Lenin meint jene unbedeutenden Gruppen von Arbeitern, die in der ersten Periode der Revolution, im Schlepptau der Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre, gegen die Sowjetmacht auftraten. Eine besondere Rolle spielte hierbei der „Verband der Buchdrucker", dessen Leitung sich in den Händen der Menschewiki befand.

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