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Wladimir I. Lenin 19201230 Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler des Genossen Trotzki

Wladimir I. Lenin: Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage

und die Fehler des Genossen Trotzki

Rede, gehalten in der gemeinsamen Sitzung der Mitglieder der KPR (B) unter den Delegierten des VIII. Sowjetkongresses sowie den Mitgliedern des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften und des Moskauer Gouvernementsgewerkschaftsrates, 30. Dezember 1920

[Veröffentlicht 1921 in dem Buch: „Über die Rolle der Gewerkschaften in der Produktion“. Nach Sämtliche Werke, Band 26, Moskau 1940, S. 77-102]

Genossen, ich muss mich vor allem entschuldigen, dass ich gegen die Geschäftsordnung verstoße, denn zur Beteiligung an der Diskussion gehört es sich natürlich, dass man das Referat, das Korreferat und die Diskussionsreden anhört. Leider fühle ich mich so unpässlich, dass ich außerstande bin, dem nachzukommen. Aber ich hatte gestern die Möglichkeit, die gedruckt vorliegenden Hauptdokumente durchzulesen und meine Bemerkungen vorzubereiten. Es ist nur natürlich, dass der Verstoß gegen die Ordnung, von dem ich gesprochen habe, für euch Unbequemlichkeiten mit sich bringt: ich werde, da ich nicht weiß, was die anderen gesagt haben, möglicherweise manches wiederholen und das unbeantwortet lassen, worauf geantwortet werden müsste. Aber anders konnte ich es nicht machen.

Als Hauptmaterial diente mir die Broschüre des Genossen Trotzki „Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften“. Wenn ich diese Broschüre mit den Thesen, die er im Zentralkomitee vorgelegt hat, vergleiche und mich in sie vertiefe, dann staune ich, welch eine Unmenge theoretischer Fehler und himmelschreiender Unrichtigkeiten in ihr zusammengetragen ist. Wie konnte man, wenn man sich zu einer großen Parteidiskussion über diese Frage anschickte, anstatt etwas ganz gründlich Durchdachtes vorzulegen, ein so missratenes Zeug fabrizieren? Ich will kurz die hauptsächlichen Punkte hervorheben, in denen meiner Meinung nach die grundlegenden theoretischen Unrichtigkeiten enthalten sind.

Die Gewerkschaften sind nicht nur eine historisch notwendige, sondern eine historisch unvermeidliche Organisation des Industrieproletariats, das unter den Verhältnissen der Diktatur des Proletariats fast restlos von ihr erfasst wird. Das ist die fundamentalste Erwägung und das wird vom Genossen Trotzki ständig vergessen, davon geht er nicht aus, das versteht er nicht zu würdigen. Ist doch das von ihm angeschnittene Thema „Die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften“ ein unermesslich breites Thema.

Aus dem Gesagten ergibt sich schon, dass bei der ganzen Verwirklichung der Diktatur des Proletariats die Rolle der Gewerkschaften äußerst wesentlich ist. Aber welcher Art ist diese Rolle? Wenn ich zur Erörterung dieser Frage, einer der grundlegendsten theoretischen Fragen, übergehe, gelange ich zu der Schlussfolgerung, dass wir es hier mit einer außerordentlich eigenartigen Rolle zu tun haben. Einerseits sind die Gewerkschaften, die die Industriearbeiter restlos erfassen und in die Reihen der Organisation einbeziehen, eine Organisation der machthabenden, herrschenden, regierenden Klasse, der Klasse, die die Diktatur verwirklicht, der Klasse, die den staatlichen Zwang ausübt. Aber sie sind keine staatliche Organisation, keine Organisation des Zwanges, sie sind eine erzieherische Organisation, eine Organisation zur Heranziehung, zur Schulung; sie sind eine Schule, eine Schule des Verwaltens, eine Schule des Wirtschaftens, eine Schule des Kommunismus. Das ist eine Schule von ganz ungewöhnlicher Art, denn wir haben es nicht mit Lehrern und Schülern zu tun, sondern mit einer gewissen außerordentlich eigenartigen Kombination dessen, was der Kapitalismus hinterlassen hat und unvermeidlich hinterlassen musste, mit dem, was die revolutionären Vortrupps, sozusagen die revolutionäre Avantgarde des Proletariats, aus ihren Reihen hervorbringen. Und will man von der Rolle der Gewerkschaften reden, ohne diese Wahrheiten zu beherzigen, so gelangt man unvermeidlich zu einer Reihe von Unrichtigkeiten.

Ihrem Platz im System der Diktatur des Proletariats nach stehen die Gewerkschaften, wenn man sich so ausdrücken darf, zwischen der Partei und der Staatsmacht. Beim Übergang zum Sozialismus ist die Diktatur des Proletariats unvermeidlich, aber diese Diktatur wird nicht durch eine die gesamte Industriearbeiterschaft erfassende Organisation verwirklicht. Warum nicht? Das können wir nachlesen in den Thesen des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale über die Rolle der politischen Partei überhaupt. Hier will ich darauf nicht eingehen. Es ergibt sich also, dass die Partei sozusagen die Avantgarde des Proletariats in sich aufsaugt und dass diese Avantgarde die Diktatur des Proletariats verwirklicht. Ohne ein solches Fundament wie die Gewerkschaften zu besitzen, kann die Diktatur nicht verwirklicht, können die staatlichen Funktionen nicht ausgeübt werden. Ausgeübt werden müssen sie mit Hilfe einer Reihe besonderer Institutionen wiederum neuer Art, nämlich: mit Hilfe des Sowjetapparats. Worin besteht die Eigenart dieser Lage hinsichtlich der praktischen Schlussfolgerungen? Darin, dass die Gewerkschaften die Verbindung der Avantgarde mit den Massen herstellen, dass die Gewerkschaften durch ihre tägliche Arbeit die Massen überzeugen, die Massen der Klasse, die einzig und allein imstande ist, uns vom Kapitalismus zum Kommunismus hinzuführen. Das einerseits. Anderseits sind die Gewerkschaften das „Reservoir“ der Staatsmacht. Das also sind die Gewerkschaften in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus. Überhaupt lässt sich dieser Übergang nicht bewerkstelligen ohne die Hegemonie derjenigen Klasse, die als einzige vom Kapitalismus für die Großproduktion geschult wurde und als einzige von den Interessen des Kleineigentümers losgelöst worden ist. Aber durch eine das Gesamtproletariat erfassende Organisation lässt sich die Diktatur des Proletariats nicht verwirklichen, denn nicht nur bei uns, in einem der rückständigsten kapitalistischen Länder, sondern auch in allen anderen kapitalistischen Ländern ist das Proletariat immer noch so zersplittert, so zu Boden gedrückt, hier und da so korrumpiert (nämlich durch den Imperialismus in den einzelnen Ländern), dass eine das Gesamtproletariat erfassende Organisation seine Diktatur unmittelbar nicht zu verwirklichen vermag. Die Diktatur kann nur von der Avantgarde verwirklicht werden, die die revolutionäre Energie der Klasse in sich aufgenommen hat. So bekommen wir gewissermaßen eine Reihe von Zahnrädern. Und so ist der Mechanismus der eigentlichen Grundlage der Diktatur des Proletariats, der Mechanismus des innersten Wesens des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus beschallen. Schon daraus ist ersichtlich, wenn Genosse Trotzki in der ersten These unter Hinweis auf die „ideologische Verworrenheit“ von einer Krise besonders und gerade der Gewerkschaften spricht, dass hier im Kern etwas prinzipiell falsch ist. Spricht man von einer Krise, so könnte man von ihr lediglich nach einer Analyse der politischen Lage sprechen. Eine „ideologische Verworrenheit“ ergibt sich gerade bei Trotzki, weil er eben in der Grundfrage nach der Rolle der Gewerkschaften unter dem Gesichtswinkel des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus außer Acht gelassen, nicht in Rechnung gestellt hat, dass man es hier mit einem komplizierten System mehrerer Zahnräder und nicht mit einem einfachen System zu tun hat, da die Diktatur des Proletariats sich durch das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat nicht verwirklichen lässt. Die Diktatur lässt sich nicht verwirklichen ohne einige „Transmissionen“ von der Avantgarde zur Masse der fortgeschrittenen Klasse und von dieser zur Masse der Werktätigen. In Russland ist diese Masse die Bauernmasse, in anderen Ländern gibt es eine solche Masse nicht, aber selbst in den am weitesten vorgeschrittenen Ländern gibt es eine nicht-proletarische oder nicht rein proletarische Masse. Schon daraus ergibt sich tatsächlich eine ideologische Konfusion. Nur macht sie Trotzki ganz zu Unrecht anderen zum Vorwurf.

Wenn ich die Frage nach der Rolle der Gewerkschaften in der Produktion nehme, so sehe ich bei Trotzki die grundlegende Unrichtigkeit, dass er darüber die ganze Zeit „im Prinzip“ spricht, vom „allgemeinen Prinzip“ redet. Er behandelt in allen seinen Thesen die Dinge vom Standpunkt des „allgemeinen Prinzips“. Die Problemstellung ist deswegen schon grundfalsch. Ich will schon gar nicht davon reden, dass der IX. Parteitag sich mit der Rolle der Gewerkschaften in der Produktion genug und übergenug beschäftigt hat. Ich will auch nicht davon reden, dass Trotzki selbst in seinen eigenen Thesen die durchaus klaren Äußerungen von Losowski und Tomski zitiert, die bei ihm, wie die Deutschen sagen, als „Prügelknaben“ herhalten müssen, oder als Objekt, an dem man sich im Polemisieren üben kann. Prinzipielle Differenzen liegen nicht vor, und höchst unglücklich sind dafür Tomski und Losowski ausgesucht, da sie Dinge geschrieben haben, die von Trotzki selbst zitiert werden. Auf dem Gebiet prinzipieller Meinungsverschiedenheiten wird man hier nichts Ernsthaftes finden, so eifrig man auch danach suchen mag. Überhaupt besteht der kolossale Fehler, der prinzipielle Fehler, darin, dass Genosse Trotzki die Partei und die Sowjetmacht rückwärts zerrt, wenn er jetzt die Frage „prinzipiell“ stellt. Wir sind Gott sei Dank von den Prinzipien zur praktischen, sachlichen Arbeit übergegangen. Im Smolny haben wir des Langen und Breiten über Prinzipien geredet, und sicherlich mehr, als es notwendig war. Heute, nach drei Jahren, liegen zu allen Punkten der Produktionsfrage, zu einer ganzen Reihe von Bestandteilen dieser Frage Dekrete vor, die – ein so traurig Ding sind diese Dekrete – unterzeichnet und dann von uns selbst vergessen und von uns selbst nicht durchgeführt werden. Und dann wird über Prinzipien räsoniert, werden prinzipielle Meinungsverschiedenheiten erfunden. Ich werde noch auf ein Dekret zu sprechen kommen, das die Frage nach der Rolle der Gewerkschaften in der Produktion betrifft, ein Dekret, das von allen vergessen worden ist, auch von mir, was ich reuevoll bekennen muss.

Die wirklichen Differenzen, die vorhanden sind, betreffen durchaus nicht Fragen allgemeiner Prinzipien, wenn man von denen absieht, die ich aufgezählt habe. Die von mir aufgezählten „Meinungsverschiedenheiten“ zwischen mir und dem Genossen Trotzki musste ich jedoch erwähnen, denn Genosse Trotzki, der das umfangreiche Thema „Die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften“ angeschnitten hat, ist meiner Überzeugung nach in eine Reihe von Fehlern verfallen, die mit dem innersten Wesen der Frage der Diktatur des Proletariats zusammenhängen. Wenn man das aber beiseite lässt, dann entsteht die Frage, weshalb es bei uns in der Tat nicht zu dem einmütigen Zusammenarbeiten kommt, das wir so sehr brauchen. Eben wegen der Differenzen über die Methoden, wie man an die Massen herantreten, die Massen gewinnen, sich mit den Massen verbinden soll. Das ist der springende Punkt. Und gerade darin besteht die Eigenart der Gewerkschaften als einer Einrichtung, die unter dem Kapitalismus geschaffen wurde, die beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus unumgänglich ist und die in fernerer Zukunft fraglich werden wird. Erst in ferner Zukunft werden die Gewerkschaften in Frage gestellt sein; unsere Enkel werden sich darüber unterhalten. Heute aber geht es darum, wie man an die Massen herantreten, wie man sie gewinnen, wie man sich mit ihnen verbinden soll, wie man die komplizierten Transmissionen der Arbeit (der Arbeit zur Verwirklichung der Diktatur des Proletariats) anlegen soll. Wohlgemerkt, wenn ich von den komplizierten Transmissionen der Arbeit spreche, denke ich nicht an den Sowjetapparat. Was wir dort noch für komplizierte Transmissionen haben werden, ist ein Kapitel für sich. Ich spreche zunächst nur abstrakt und grundsätzlich über das Verhältnis zwischen den Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft; dort gibt es das Proletariat, gibt es die nichtproletarischen werktätigen Massen, gibt es das Kleinbürgertum und gibt es die Bourgeoisie. Schon von diesem Standpunkt aus ergibt sich bereits – auch wenn kein Bürokratismus im Sowjetapparat vorhanden wäre – eine außerordentliche Kompliziertheit der Transmissionen infolge der Verhältnisse, die durch den Kapitalismus geschaffen wurden. Und daran sollte man vor allem denken, wenn man fragt,, worin die Schwierigkeit der „Aufgabe“ der Gewerkschaften besteht. Die wirklichen Differenzen liegen, ich wiederhole es, durchaus nicht da, wo sie Genosse Trotzki sieht, sondern in der Frage, wie die Massen zu gewinnen sind, in der Frage, wie man an sie herantritt, sich mit ihnen verbindet. Ich muss sagen: wenn wir unsere eigene Praxis, unsere Erfahrung, sei es auch nur in geringem Umfange, eingehend und gründlich studierten, würden wir hunderte überflüssige „Meinungsverschiedenheiten“ und grundsätzliche Fehler vermeiden, von denen die Broschüre des Genossen Trotzki wimmelt. Zum Beispiel sind ganze Thesen in dieser Broschüre der Polemik gegen den „Sowjet-Tradeunionismus“ gewidmet. Man hatte weiter keine Sorgen und erfand einen neuen Popanz! Und wer ist dieser Popanz? Genosse Rjasanow! Ich kenne den Genossen Rjasanow seit reichlich zwanzig Jahren. Ihr kennt ihn nicht so lange Zeit, aber seinen Taten nach nicht weniger als ich. Ihr wisst sehr gut, dass die Einschätzung von Losungen nicht zu seinen starken Seiten gehört, die er ja besitzt. Und da sollen wir in den Thesen als „Sowjet-Tradeunionismus“ das hinstellen, was Genossen Rjasanow gelegentlich entschlüpft ist! Nun, ist das ernst zu nehmen? Wenn dem so ist, dann werden wir einen „Sowjet-Tradeunionismus“, einen „Sowjet-Antifriedensschluss“ und ich weiß nicht was noch bekommen. Es gibt keinen einzigen Punkt, dem sich nicht irgendein Sowjet„ismus“ andichten ließe. (Rjasanow: „Sowjet-Antibrestismus“.) Jawohl, ganz richtig: „Sowjet-Antibrestismus“.

Indessen macht aber Genosse Trotzki, der sich mit solchen unernsten Dingen abgibt, gleich selbst einen Fehler. Nach ihm ist die Verteidigung der materiellen und geistigen Interessen der Arbeiterklasse im Arbeiterstaat nicht Sache der Gewerkschaften. Das ist ein Fehler. Genosse Trotzki spricht vom „Arbeiterstaat“. Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion. Als wir 1917 vom Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber jetzt zu uns:

Wozu, gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo doch keine Bourgeoisie existiert und ein Arbeiterstaat besteht“, so begeht man hier einen offensichtlichen Fehler. Es ist nicht ganz ein Arbeiterstaat. Das ist es ja gerade. Hier liegt eben einer der grundlegenden Fehler des Genossen Trotzki. Wir sind jetzt von den allgemeinen Grundsätzen zur sachlichen Erörterung und zu Dekreten übergegangen, man will uns aber von der Inangriffnahme des Praktischen und Sachlichen zurückzerren. Das geht nicht. Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat. Das erstens. Daraus aber folgt sehr viel. (Bucharin: „Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?“) Genosse Bucharin schreit zwar da hinten: „Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?“, ich werde ihm aber darauf nicht antworten. Wer Lust hat, der mag sich an den soeben zu Ende gegangenen Sowjetkongress erinnern, und das wird schon eine Antwort sein.

Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm – einem Dokument, das dem Verfasser des „ABC des Kommunismus“ wohl bekannt ist –, aus diesem Programm ist ersichtlich, dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist. Und dieses traurige – wie soll ich mich ausdrücken? – Etikett müssten wir auf ihn anbringen. Da habt ihr die Realität des Überganges. Was glaubt ihr, haben in einem praktisch so entstandenen Staate die Gewerkschaften nichts zu schützen, kann man zum Schutz der materiellen und geistigen Interessen des in seiner Gesamtheit organisierten Proletariats ohne Gewerkschaften auskommen? Das ist eine ganz falsche theoretische Argumentation. Das versetzt uns in das Bereich der Abstraktion oder des Ideals, das wir in 15 bis 20 Jahren erreichen werden; aber ich bin nicht einmal sicher, dass wir es in dieser Frist erreichen. Wir haben jedoch die Wirklichkeit vor uns, die wir gut kennen, wenn wir uns nur nicht berauschen und hinreißen lassen von Intellektuellengerede oder abstrakten Betrachtungen oder von dem, was manchmal als „Theorie“ erscheint, in Wirklichkeit aber ein Irrtum, eine falsche Einschätzung der Besonderheiten des Überganges ist. Unser heutiger Staat ist derart beschaffen, dass das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat sich schützen muss und wir diese Arbeiterorganisationen zum Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat und zum Schutz unseres Staates durch die Arbeiter ausnutzen müssen.

Sowohl die eine als auch die andere Art des Schutzes kommt zustande durch eine eigenartige Verflechtung unserer staatlichen Maßnahmen und unserer Verständigung, unseres „Verwachsens“ mit unseren Gewerkschaften.

Über dieses Verwachsen werde ich noch zu sprechen haben. Aber schon dieses Wort allein zeigt, dass man einen Fehler begeht, wenn man sich hier einen Feind in der Gestalt eines „Sowjet-Tradeunionismus“ erdichtet. Denn der Begriff „Verwachsen“ besagt, dass verschiedene Dinge vorhanden sind, die man erst noch verwachsen lassen muss; zum Begriff des „Verwachsens“ gehört, dass man verstehen muss, die Maßnahmen der Staatsgewalt zum Schutz der materiellen und geistigen Interessen des in seiner Gesamtheit vereinigten Proletariats vor dieser Staatsgewalt auszunutzen. Dann aber, wenn wir nicht mehr einen Prozess des Verwachsens, sondern ein Verwachsensein und eine Verschmelzung haben, werden wir zu einer Tagung zusammentreten, auf der es eine sachliche Aussprache über die praktischen Erfahrungen, aber nicht über grundsätzliche „Meinungsverschiedenheiten“ oder abstrakte theoretische Betrachtungen geben wird. Der Versuch, grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten mit dem Genossen Tomski und dem Genossen Losowski herauszufinden, die bei Genossen Trotzki als Gewerkschafts„bürokraten“ figurieren – auf wessen Seite in diesem Streit die bürokratischen Tendenzen sind, darauf werde ich noch zu sprechen kommen –, ist ebenfalls missglückt. Wir wissen wohl: wenn Genosse Rjasanow manchmal die kleine Schwäche hat, unbedingt eine Losung, und zwar eine fast prinzipielle Losung, zu erfinden, so zählt Genosse Tomski zu seinen vielen Sünden diese Sünde nicht. Darum scheint mir, dass es alle Maße übersteigt, wenn man hier gegen den Genossen Tomski einen prinzipiellen Kampf eröffnet (wie das Genosse Trotzki tut). Ich bin geradezu erstaunt darüber. Es gab eine Zeit, wo wir alle in Bezug auf fraktionelle, theoretische und alle möglichen anderen Meinungsverschiedenheiten viel gesündigt – aber natürlich auch manches Nützliche geleistet – haben, und man sollte meinen, dass wir seither gewachsen sind. Es wäre an der Zeit, vom Ausklügeln und Übertreiben prinzipieller Meinungsverschiedenheiten zur sachlichen Arbeit überzugehen. Ich habe niemals gehört, dass in Tomski der Theoretiker überwiege, dass Tomski auf den Ruf eines Theoretikers Anspruch erhebe; vielleicht ist das sein Mangel, das ist eine andere Frage. Dass aber Tomski, der sich in die Gewerkschaftsbewegung hineingearbeitet hat, diesen Übergang widerspiegeln muss – ob bewusst oder unbewusst, ist eine andere Frage, ich sage nicht, dass er das immer bewusst tut –, dass er in seiner Lage diesen komplizierten Übergang widerspiegeln muss, und wenn den Massen etwas weh tut und sie selber nicht wissen, was ihnen weh tut, und auch er es nicht weiß, wenn er dabei laut schreit, so behaupte ich, dass das ein Verdienst und nicht ein Mangel ist. Ich bin absolut überzeugt, dass man bei Tomski im Einzelnen viele theoretische Fehler finden wird. Und wir alle werden, wenn wir uns an den Tisch setzen und mit Überlegung eine Resolution oder Thesen niederschreiben, alles korrigieren, oder vielleicht werden wir es auch sein lassen, daran herumzukorrigieren, denn die Produktionsarbeit ist interessanter als das Korrigieren geringfügiger theoretischer Meinungsverschiedenheiten.

Nun komme ich zur „Produktionsdemokratie“. Das ist sozusagen etwas für Bucharin. Wir wissen wohl, dass jeder Mensch seine kleinen Schwächen hat. Auch ein großer Mensch hat seine kleinen Schwächen, auch Bucharin. Es braucht nur ein recht verschnörkeltes Schlagwort zu sein, so ist er unweigerlich dafür. Über die Produktionsdemokratie verfasste er auf dem Plenum des ZK vom 7. Dezember eine Resolution fast mit Wollust. Und je mehr ich mich in diese „Produktionsdemokratie“ hineindenke, desto klarer sehe ich, wie theoretisch falsch, wie wenig durchdacht sie ist. Außer einem Brei kommt da nichts heraus. An diesem Beispiel muss noch einmal, zumindest in einer Parteiversammlung, gesagt werden: „Genosse N. I. Bucharin, weniger Wortverrenkungen! Das wird für Sie, für die Theorie und für die Republik von Nutzen sein.“ Produktion ist immer notwendig. Demokratie ist lediglich eine der politischen Kategorien. Dagegen, dass man dieses Wort in einer Rede, in einem Artikel gebraucht, ist nichts einzuwenden. Ein Artikel greift eine einzelne Wechselbeziehung heraus und bringt sie prägnant zum Ausdruck – und Schluss! Wenn Sie das aber in eine These verwandeln, wenn Sie daraus eine Losung machen wollen, die die „Einverstandenen“ und Nichteinverstandenen vereinigt, wenn es, wie bei Trotzki, heißt, dass die Partei „zwischen zwei Tendenzen zu wählen“ habe, so klingt das ganz merkwürdig. Ich werde noch besonders darüber sprechen, ob die Partei zu „wählen“ hat und wessen Schuld es ist, dass die Partei in eine Lage versetzt wurde, wo sie „wählen“ muss. Da nun einmal eine solche Lage entstanden ist, müssen wir sagen: „Wählt auf jeden Fall möglichst wenig solche theoretisch falsche, nichts als Konfusion enthaltende Losungen wie ,Produktionsdemokratie“.“ Sowohl Trotzki als auch Bucharin, sie beide haben diesen Terminus theoretisch nicht klar durchdacht und haben sich verhaspelt. Die „Produktionsdemokratie“ bringt auf Gedanken, die durchaus nicht zu dem Kreise jener Ideen gehören, von denen sie sich haben hinreißen lassen. Sie wollten betonen, dass mehr Aufmerksamkeit auf die Produktion konzentriert werden soll. Etwas in einem Artikel, in einer Rede betonen, ist eine Sache für sich; wenn man das aber in Thesen verwandelt, und wenn die Partei zu wählen hat, so sage ich: entscheidet euch dagegen, denn das ist Konfusion. Produktion ist immer nötig, Demokratie nicht immer. Die Produktionsdemokratie erzeugt eine Reihe grundfalscher Gedanken. Noch haben wir uns die Stiefelsohlen nicht abgelaufen, seitdem wir die individuelle Leitung predigen. Man soll nicht einen Brei anrühren und dadurch die Gefahr herauf beschwören, dass die Leute sich nicht mehr auskennen: mal Demokratie, mal individuelle Leitung, mal Diktatur. Auf die Diktatur darf man keinesfalls verzichten. Ich höre da hinten Bucharin „Sehr richtig!“ rufen.

Weiter. Seit September sprechen wir vom Übergang von dem Dringlichkeitsprinzip zur Gleichstellung, wir sagen das in der Resolution der Parteikonferenz, die vom Zentralkomitee bestätigt worden ist. Die Frage ist schwierig, denn man muss auf die eine oder die andere Weise Gleichstellung und Dringlichkeitsprinzip miteinander verbinden, während diese Begriffe einander ausschließen. Aber wir haben schließlich doch ein bisschen Marxismus studiert, haben gelernt, wie und wann man Gegensätze vereinigen kann und vereinigen soll, und was die Hauptsache ist: in unserer Revolution haben wir in den dreieinhalb Jahren praktisch Gegensätze wiederholt vereinigt.

Es ist offensichtlich, dass man an die Frage sehr vorsichtig und überlegt herangehen muss. Haben wir doch schon in diesen traurigen Plenarsitzungen des ZK1, in denen sich Siebener- und Achtergruppen und die berühmte „Puffergruppe“ des Genossen Bucharin bildeten, haben wir doch dort über diese prinzipiellen Fragen gesprochen und dort bereits festgestellt, dass der Übergang vom Dringlichkeitsprinzip zur Gleichstellung kein leichter ist. Und nun müssen wir, um diesen Beschluss der Septemberkonferenz durchzuführen, ein wenig arbeiten. Man kann ja diese gegensätzlichen Begriffe so vereinen, dass eine Kakophonie entsteht, aber auch so, dass eine Symphonie herauskommt. Dringlichkeitsprinzip bedeutet Bevorzugung eines Produktionszweiges gegenüber allen anderen notwendigen Produktionszweigen wegen seiner größeren Lebenswichtigkeit. Worin liegt nun die Bevorzugung? Wie weit darf die Bevorzugung gehen? Das ist eine schwierige Frage, und ich muss sagen, dass es zu ihrer Lösung mit der pünktlichen Durchführung allein nicht getan ist; da genügt auch nicht der heroische Mensch, der viele ausgezeichnete Eigenschaften besitzen mag, aber nur auf seinem Platz tüchtig ist. Hier muss man verstehen, eine sehr eigenartige Frage anzupacken. Wenn man also die Frage des Dringlichkeitsprinzips und der Gleichstellung aufwirft, muss man in erster Linie mit Überlegung an sie herantreten, aber gerade davon ist in der Arbeit des Genossen Trotzki nichts zu merken; je länger er seine ursprünglichen Thesen umarbeitet, desto mehr unrichtige Behauptungen kommen bei ihm heraus. So lesen wir z. B. in seinen letzten Thesen:

„ … Auf dem Gebiet des Konsums, d. h. der persönlichen Lebensbedingungen der Werktätigen, ist es notwendig, eine ausgleichende Linie durchzuführen. Auf dem Gebiet der Produktion dagegen wird das Dringlichkeitsprinzip noch auf lange Zeit hinaus für uns entscheidend bleiben…“ (These 41, S. 31 der Broschüre Trotzkis.)

Das ist eine völlige theoretische Konfusion. Das ist ganz falsch. Dringlichkeitsprinzip ist Bevorzugung, aber Bevorzugung ohne Konsum ist nichts. Wenn man mich so bevorzugen wird, dass ich ein Achtel Pfund Brot erhalte, dann bedanke ich mich schönstens für eine solche Bevorzugung. Eine Bevorzugung wegen Dringlichkeit ist Bevorzugung auch im Konsum. Sonst ist die Dringlichkeit eine Phantasie, ein blauer Dunst. Wir sind aber doch Materialisten. Und auch die Arbeiter sind Materialisten. Wenn man ihnen von dringender Arbeit redet, dann muss man auch Brot und Kleidung und Fleisch hergeben. Nur so verstanden und verstehen wir die Sache, wenn wir diese Fragen, aus konkreten Anlässen, hunderte Male im Rate für Landesverteidigung erörtern, wo der eine Stiefel herausschlagen will und sagt: „Ich habe dringliche Arbeit“, während der andere sagt: „Beschaffe mir Stiefel, sonst werden deine mit dringlicher Arbeit beschäftigten Arbeiter nicht durchhalten, und mit deiner Dringlichkeit wird es aus sein.“

Es ergibt sich also, dass in Bezug auf Gleichstellung und Dringlichkeitsprinzip in den Thesen die Frage grundfalsch gestellt wird. Außerdem aber ergibt sich, dass wir zurückgehen von dem, was praktisch erprobt und erreicht ist. So geht das nicht, nichts Gutes kann auf diesem Wege herauskommen.

Weiter: die Frage des „Verwachsens“. Am richtigsten wäre es gegenwärtig, über das „Verwachsen“ ein bisschen zu schweigen. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Warum? Weil wir mit dem Verwachsen bereits praktisch begonnen haben; wir haben keinen einzigen großen Gouvernements-Volkswirtschaftsrat, keinen einzigen großen Sektor des Obersten Volkswirtschaftsrates und des Volkskommissariats für das Verkehrswesen usw., wo nicht praktisch das Verwachsen der verschiedenen Zweige vor sich ginge. Aber sind die Resultate völlig befriedigend? Das ist eben der Haken! Man studiere die praktische Erfahrung, wie dieses Verwachsen vor sich ging und was dadurch erreicht wurde. Dekrete, durch die in der einen oder anderen Institution das Verwachsen verschiedener Zweige erzielt wurde, gibt es so viele, dass man sie nicht aufzählen kann. Aber praktisch zu untersuchen, was dabei herausgekommen ist, was dieser oder jener Fall des Verwachsens in diesem oder jenem Industriezweig ergeben hat, als ein bestimmtes Mitglied des Gouvernements-Gewerkschaftsrats eine bestimmte Stellung im Gouvernements-Volkswirtschaftsrat bekleidete, wozu das geführt hat, wie viele Monate er sich mit Fragen dieses Verwachsens befasst hat usw., – unsere eigenen praktischen Erfahrungen sachlich zu studieren, haben wir noch nicht vermocht. Wir verstanden es, eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit in der Frage des Verwachsens auszuklügeln und dabei einen Fehler zu begehen. Darin sind wir Meister. Aber unsere eigene Erfahrung studieren und sie überprüfen, – dafür sind wir nicht zu haben. Wenn wir Sowjetkongresse haben werden, auf denen es außer den Sektionen zum Studium der landwirtschaftlichen Bezirke vom Gesichtspunkt der einen oder anderen Anwendung des Gesetzes über die Verbesserung der Landwirtschaft auch Sektionen zum Studium der Ergebnisse des Verwachsen« der einzelnen Zweige in der Mühlenindustrie des Gouvernements Saratow, in der Metallindustrie von Petrograd, im Kohlenbergbau des Donezbeckens usw. geben wird, wenn diese Sektionen, nach Zusammentragung eines Haufens von Material, erklären werden: „Wir haben das und das untersucht“, dann werde ich sagen: „Jawohl, wir haben begonnen, uns mit praktischen Dingen zu befassen, wir sind aus den Kinderschuhen heraus!“ Wenn man nun aber, nachdem wir drei Jahre auf das Verwachsen verwandt haben, uns „Thesen“ kredenzt, in denen man prinzipielle Meinungsverschiedenheiten über das Verwachsen ausheckt, – was kann trauriger und falscher sein als das? Wir haben den Weg des Verwachsens der einzelnen Zweige beschritten, und ich zweifle nicht daran, dass wir den richtigen Weg beschritten haben, aber wir haben die Ergebnisse unserer Erfahrung noch nicht gebührend studiert. Darum ist die einzig kluge Taktik in der Frage des Verwachsens: halte den Mund.

Es gilt, die praktischen Erfahrungen zu studieren. Ich unterzeichnete Dekrete und Verordnungen, in denen Hinweise auf Fälle praktischen Verwachsens enthalten sind, und die Praxis ist hundertmal wichtiger als alle Theorie. Wenn man daher sagt: „Lasst uns über das ,Verwachsen' reden“, so antworte ich: „Lasst uns das studieren, was wir geleistet haben.“ Dass wir viele Fehler begangen haben, darüber besteht kein Zweifel. Ebenso ist es möglich, dass ein großer Teil unserer Dekrete der Abänderung bedarf. Das gehe ich zu, ich bin nicht im Geringsten in Dekrete verliebt. Aber dann kommt mit praktischen Vorschlägen: das und das soll geändert werden. Das wäre eine sachliche Behandlung der Frage. Das wäre keine unproduktive Arbeit. Das wird nicht zu bürokratischem Projekteschmieden führen. Wenn ich in der Broschüre Trotzkis den Abschnitt VI „Praktische Schlussfolgerungen“ nehme, so finde ich, dass die praktischen Schlussfolgerungen gerade an diesem Gebrechen kranken. Denn dort heißt es, dass im Allrussischen Zentralrat der Gewerkschaften und im Präsidium des Obersten Volkswirtschaftsrates ein Drittel bis zur Hälfte, in den Kollegien die Hälfte bis zu zwei Dritteln aus Mitgliedern bestehen sollen, die beiden Körperschaften angehören usw. Warum das? Einfach darum, „nach Augenmaß“. Gewiss, in unseren Dekreten werden wiederholt derartige Proportionen eben „nach Augenmaß“ festgelegt, aber warum ist das in den Dekreten unvermeidlich? Ich bin kein Verteidiger aller Dekrete und will die Dekrete nicht für besser hinstellen, als sie in Wirklichkeit sind. Dort werden durchweg solche bedingte Größen wie eine Hälfte, ein Drittel der Gesamtzahl der Mitglieder usw. nach dem Augenmaß bestimmt. Wenn das in einem Dekret steht, so heißt das: probiert es so zu machen, und wir werden dann das Ergebnis eures „Probierens“ erwägen. Wir werden dann untersuchen, was eigentlich herausgekommen ist. Wenn wir das untersucht haben, werden wir vorwärtskommen. Wir sorgen für das Verwachsen verschiedener Gebiete und werden es immer besser machen, denn wir werden immer praktischer und sachlicher.

Aber ich habe, wie es scheint, begonnen, mich mit „Produktionspropaganda“ zu befassen? Da ist nichts zu machen. In Ausführungen über die Rolle der Gewerkschaften in der Produktion muss man auf diese Frage eingehen.

Ich gehe also zu dieser Frage der Produktionspropaganda über. Das ist wiederum eine sachliche Frage, und wir stellen sie auf sachliche Weise. Es gibt schon staatliche Institutionen für Produktionspropaganda, sie sind schon geschaffen. Ob sie schlecht oder gut sind, weiß ich nicht. Man muss sie ausprobieren. Und es ist durchaus nicht erforderlich, über diese Frage „Thesen“ zu verfassen.

Will man im Ganzen von der Rolle der Gewerkschaften in der Produktion sprechen, so braucht man in der Frage der Demokratie nichts weiter als den üblichen Demokratismus. Spitzfindigkeiten von der Art der „Produktionsdemokratie“ sind falsch, dabei wird nichts herauskommen. Das ist das erste. Zweitens die Produktionspropaganda. Institutionen sind bereits geschaffen. Die Thesen Trotzkis sprechen von Produktionspropaganda. Ganz unnütz, weil „Thesen“ hier schon etwas Veraltetes sind. Ob die Institution gut oder schlecht ist, wissen wir vorerst nicht. Erproben wir sie in der Praxis, dann werden wir es sagen. Lasst uns untersuchen und Umfrage halten. Angenommen, es werden auf dem Kongress zehn Sektionen zu je zehn Mann eingesetzt. „Hast du dich mit Produktionspropaganda befasst? Und was ist dabei herausgekommen?“ Nachdem wir das geprüft haben, werden wir denjenigen belohnen, der besondere Erfolge erzielt hat, und werden einen misslungenen Versuch fallen lassen. Wir haben bereits praktische Erfahrungen, die noch schwach und gering, aber doch schon vorhanden sind, und von diesen Erfahrungen zerrt man uns zurück zu „prinzipiellen Thesen“. Das ist eher eine „reaktionäre“ Bewegung als „Tradeunionismus“.

Weiter, drittens, die Prämien. Da haben wir die Rolle und die Aufgabe der Gewerkschaften in der Produktion: die Gewährung von Prämien in natura. Damit ist begonnen worden. Die Sache läuft. Fünfhunderttausend Pud Getreide sind hierfür bewilligt worden; hundertsiebzigtausend sind bereits verausgabt. Ob sie gut, ob sie richtig verausgabt worden sind, weiß ich nicht. Im Rat der Volkskommissare wurde darauf hingewiesen, dass die Art der Verteilung nicht richtig ist. Anstatt einer Prämie kommt ein Zuschlag zum Arbeitslohn heraus. Darauf haben sowohl die Gewerkschaftler als auch die Mitarbeiter des Volkskommissariats für Arbeit hingewiesen. Wir haben eine Kommission zum Studium dieser Angelegenheit eingesetzt, aber wir sind mit diesem Studium noch nicht fertig. Hundertsiebzigtausend Pud Getreide sind verteilt worden, jedoch hätte man sie so verteilen müssen, dass derjenige belohnt wird, der als Wirtschaftler Heroismus, Pünktlichkeit, Talent und Hingabe offenbart hat, mit einem Worte jene Eigenschaften, die Trotzki lobpreist. Aber jetzt kommt es nicht darauf an, in Thesen Lobgesänge anzustimmen, sondern darauf, Brot und Fleisch zu geben. Wäre es nicht besser, sagen wir, einer bestimmten Arbeiterkategorie Fleisch zu nehmen und es in Form einer Prämie anderen „Dringlichkeits“-Arbeitern zu geben? Eine solche Dringlichkeitspolitik lehnen wir nicht ab. Sie ist notwendig. Wir wollen die praktische Erfahrung unserer Anwendung des Dringlichkeitsprinzips gründlich studieren.

Dann, viertens, die Disziplinargerichte. Die Produktionsrolle der Gewerkschaften, die „Produktionsdemokratie“ – Genosse Bucharin möge es mir nicht übelnehmen :–, das sind lauter Kinkerlitzchen, wenn wir keine Disziplinargerichte haben. In euren Thesen aber ist davon nichts enthalten. Sowohl prinzipiell als auch theoretisch und praktisch ergibt sich also in Bezug auf die Thesen Trotzkis und die Stellung Bucharins die eine Schlussfolgerung: bleibt uns damit vom Leibe!

Und ich gelange erst recht zu dieser Schlussfolgerung, wenn ich mir sage: ihr stellt die Frage nicht marxistisch. Nicht genug, dass die Thesen eine Reihe theoretischer Fehler aufweisen. Diese Art, an die Einschätzung der „Rolle und Aufgaben der Gewerkschaften“ heranzugehen, ist deshalb unmarxistisch, weil man an ein so umfassendes Thema nicht herangehen darf, ohne die Besonderheiten der gegenwärtigen Lage von ihrer politischen Seite her erfasst zu haben. Habe ich doch nicht von ungefähr zusammen mit dem Genossen Bucharin in der Resolution des IX. Parteitages der KPR über die Gewerkschaften geschrieben, dass die Politik der konzentrierteste Ausdruck der Ökonomie ist.

Wollten wir die gegenwärtige politische Lage analysieren, so könnten wir sagen, dass wir eine Übergangsperiode in der Übergangsperiode durchmachen. Die Diktatur des Proletariats ist im Ganzen eine Übergangsperiode, aber jetzt haben wir sozusagen einen ganzen Haufen neuer Übergangsperioden. Die Demobilisierung der Armee, das Ende des Krieges, die Möglichkeit einer viel längeren friedlichen Atempause als früher, eines dauerhafteren Übergangs von der Kriegsfront zur Arbeitsfront. Einzig dadurch, nur dadurch ändert sich das Verhältnis der Klasse des Proletariats zur Klasse der Bauernschaft. Wie ändert es sich? Das muss man aufmerksam beobachten, aus euren Thesen geht das aber nicht hervor. Solange wir diese Änderung nicht erfasst haben, muss man abzuwarten verstehen. Das Volk ist übermüdet, eine ganze Reihe von Vorräten, die für einige besonders dringliche Produktionszweige verwandt werden sollten, sind bereits aufgebraucht. Das Verhältnis des Proletariats zur Bauernschaft ändert sich. Die Müdigkeit infolge des Krieges ist kolossal, die Bedürfnisse sind gestiegen, aber die Produktion ist nicht gestiegen oder ungenügend gestiegen. Anderseits habe ich schon in meinem Bericht auf dem VIII. Sowjetkongress auf den Umstand hingewiesen, dass wir dann richtig und erfolgreich Zwang anwandten, wenn wir es verstanden, vorher für ihn eine Basis durch Überzeugung zu schaffen. Ich muss sagen, dass Trotzki und Bucharin dieses höchst wichtige Argument absolut nicht berücksichtigt haben.

Haben wir für alle neuen Produktionsaufgaben eine hinreichend breite und solide Basis der Überzeugung geschaffen? Nein, wir haben damit kaum erst begonnen. Die Massen haben wir noch nicht hineingezogen. Können aber die Massen mit einem Schlage zu diesen neuen Aufgaben übergehen? Das können sie nicht, weil, sagen wir, die Frage, ob der Gutsbesitzer Wrangel gestürzt werden müsse, ob um dieses Ziels willen Opfer zu scheuen seien, – weil diese Frage schon keiner besonderen Propaganda mehr bedarf. Dagegen die Frage nach der Rolle der Gewerkschaften in der Produktion, wenn man nicht die „prinzipielle“ Frage, nicht Betrachtungen über „Sowjet-Tradeunionismus“ und ähnlichen Unsinn im Auge hat, wenn man die sachliche Seite der Frage in Betracht zieht, so haben wir eben erst angefangen, die Frage durchzuarbeiten. Wir haben die Institution für die Produktionspropaganda eben erst geschaffen; wir besitzen noch keine Erfahrung. Naturalprämien haben wir eingeführt; aber Erfahrung besitzen wir noch nicht. Disziplinargerichte haben wir geschaffen, aber deren Ergebnisse kennen wir noch nicht. Vom politischen Standpunkt ist aber die Vorbereitung gerade der Massen das Allerwichtigste. Ist die Frage von dieser Seite her vorbereitet, studiert, überlegt und erwogen worden? Noch lange nicht. Und darin liegt der grundlegende, einschneidende und gefährliche politische Fehler, weil hier mehr als in irgendeiner anderen Frage nach der Regel gehandelt werden muss: „Siebenmal abmessen, einmal abschneiden“. Hier aber ging man dran, abzuschneiden, ohne auch nur ein einziges Mal abgemessen zu haben. Man sagt, dass „die Partei zwischen zwei Tendenzen zu wählen“ habe, man hat aber noch kein einziges Mal abgemessen, dafür hat man die falsche Losung der „Produktionsdemokratie“ ausgeklügelt.

Man muss die Bedeutung dieser Losung besonders in einem derartigen politischen Moment begreifen, da der Bürokratismus den Massen in einer für sie anschaulichen Form gegenübertrat und da wir die Frage des Bürokratismus auf die Tagesordnung setzten. Genosse Trotzki sagt in den Thesen, dass der Kongress in der Frage der Arbeiterdemokratie „nur einmütig zu fixieren“ brauche. Das ist nicht richtig. Es genügt nicht zu fixieren; fixieren heißt, das festlegen, was vollständig überlegt und erwogen ist, aber die Frage der Produktionsdemokratie ist noch lange nicht bis zu Ende erwogen, noch nicht erprobt, nicht geprüft. Man bedenke doch, welche Auslegung bei den Massen entstehen kann, wenn man die Losung der „Produktionsdemokratie“ ausgibt.

Wir Durchschnittsmenschen, Menschen aus der Masse, sagen, dass man manches erneuern, verbessern muss, dass man die Bürokraten davonjagen muss, und da will man uns mit dem Gerede beschwatzen, man solle sich mit der Produktion befassen, solle Demokratie zeigen in den Erfolgen der Produktion, aber ich will mich mit der Produktion nicht unter einer solchen bürokratischen Direktion, Hauptverwaltung usw. befassen, sondern unter einer anderen.“ Ihr habt die Massen nicht zu Worte kommen, habt sie die Dinge nicht erfassen und überlegen lassen, ihr habt die Partei nicht dazu kommen lassen, neue Erfahrungen zu gewinnen, und schon habt ihr es eilig, übertreibt, schafft Formeln, die theoretisch falsch sind. Und um wievielmal werden noch übereifrige ausführende Personen diesen Fehler vergrößern? Der politische Leiter ist nicht nur dafür verantwortlich, wie er leitet, sondern auch für das, was die von ihm Geleiteten tun. Das weiß er manchmal nicht, das will er häufig nicht, aber die Verantwortung fällt auf ihn.

Ich komme nun zum Novemberplenum (9. November) und zum Dezemberplenum (7. Dezember) des Zentralkomitees, wo alle diese Fehler schon ,nicht mehr als logische Zergliederungen, Prämissen und theoretische Erwägungen, sondern in Handlungen ihren Ausdruck fanden. Es kam im Zentralkomitee zu einem Mischmasch und einem Kuddelmuddel; das ist zum ersten Mal in der Geschichte unserer Partei während der Revolution der Fall, und das ist gefährlich. Der Kernpunkt war, dass es zu einer Entzweiung kam, dass die „Puffer“gruppe von Bucharin, Preobraschenski und Serebrjakow entstand, die mehr als alle anderen Schaden und Wirrwarr gestiftet hat.

Erinnert euch an die Geschichte der Politischen Zentralstelle für das Verkehrswesen und das Zektran (Zentralkomitee des Transportarbeiter-Verbandes), ln der Resolution des IX. Parteitags der KPR vom April 1920 hieß es, dass die Politische Zentralstelle für Verkehrswesen als „provisorische“ Institution gebildet werde, wobei man „in möglichst kurzer Zeit2 zum normalen Zustand zurückkehren müsse. Im September könnt ihr lesen: „Geht zum normalen Zustand über.“3

Im November (9. November) tritt das Plenum zusammen, und Trotzki kommt mit seinen Thesen, mit seinen Betrachtungen über den Tradeunionismus. Mochten auch einzelne seiner Sätze über die Produktionspropaganda noch so schön sein, es musste gesagt werden, dass das alles absolut nicht angebracht ist, nicht zur Sache gehört, dass das einen Schritt zurück bedeutet, dass man sich damit augenblicklich im Zentralkomitee nicht befassen kann. Bucharin sagt: „Das ist sehr gut.“ Vielleicht ist das auch sehr gut, aber das ist keine Antwort auf die Frage. Nach verzweifelten Debatten wird mit 10 gegen 4 Stimmen eine Resolution angenommen, in der es in höflicher und kameradschaftlicher Form heißt, dass das Zektran selbst „die Verstärkung und den Ausbau der Methoden der proletarischen Demokratie innerhalb des Verbandes schon auf die Tagesordnung gesetzt“ habe. Es heißt, das Zektran müsse „tätigen Anteil nehmen an der allgemeinen Arbeit des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften, dem es mit den gleichen Rechten wie die anderen Gewerkschaftsvereinigungen angehören soll“.

Worin besteht der Grundgedanke dieses Beschlusses des Zentralkomitees? Dieser Grundgedanke ist klar: „Genossen vom Zektran! Führt nicht nur formell, sondern dem Wesen nach die Beschlüsse des Parteitags und des Zentralkomitees durch, um durch eure Arbeit allen Gewerkschaften zu helfen, damit auch nicht eine Spur übrigbleibe von Bürokratismus, Bevorzugung und Überheblichkeit, als wäre man sozusagen besser als die anderen, reicher als die anderen, als erhielte man größere Hilfe.“

Daraufhin gehen wir zur sachlichen Arbeit über. Es wird eine Kommission gebildet und ihre Zusammensetzung in der Presse bekanntgegeben. Trotzki tritt aus der Kommission aus, sprengt sie, will nicht arbeiten. Warum? Aus einem einzigen Grunde. Lutowinow spielt manchmal Opposition. Allerdings, Ossinski auch. Das ist, ehrlich gesagt, ein unangenehmes Spiel. Aber ist das ein Argument? Ossinski hat die Saatkampagne ausgezeichnet geführt. Man musste mit ihm zusammen arbeiten, ungeachtet seiner „Oppositionskampagne“, aber ein solches Vorgehen wie die Sprengung der Kommission ist bürokratisch, unsowjetisch, unsozialistisch, falsch und politisch schädlich. In einem Augenblick, wo es gilt, das Gesunde vom Ungesunden in der „Opposition“ zu scheiden, ist ein derartiges Vorgehen dreifach falsch und politisch schädlich. Wenn Ossinski eine „Oppositionskampagne“ führt, so sage ich ihm: „Das ist eine schädliche Kampagne“, aber wenn er eine Saatkampagne führt, so hat man seine Freude daran. Dass Lutowinow in seiner „Oppositionskampagne“ einen Fehler begeht, werde ich ebenso wenig wie Ischtschenko und Schljapnikow je bestreiten, aber deshalb darf man die Kommission nicht sprengen.

Indes, was bedeutete diese Kommission? Sie bedeutete den Übergang von dem Intellektuellengerede über unnütze Meinungsverschiedenheiten zur sachlichen Arbeit. Über Produktionspropaganda, über Prämien, über Disziplinargerichte – darüber hätte gesprochen werden und daran hätte die Kommission arbeiten sollen. Als Genosse Bucharin, das Haupt der „Puffergruppe“, sowie Preobraschenski und Serebrjakow die gefährliche Entzweiung im Zentralkomitee sahen, da machten sie sich daran, einen Puffer zu bilden, einen Puffer solcher Art, dass es mir schwerfällt, einen parlamentarischen Ausdruck zur Kennzeichnung dieses Puffers zu finden. Könnte ich Karikaturen so gut zeichnen, wie Genosse Bucharin es kann, so würde ich den Genossen Bucharin etwa folgendermaßen abkonterfeien: ein Mann mit einem Eimer Petroleum gießt dieses Petroleum ins Feuer. Und darunter würde ich schreiben: „Pufferpetroleum“. Genosse Bucharin wollte irgend etwas zustande bringen; kein Zweifel, dass er den aufrichtigsten und „puffermäßigsten“ Wunsch hatte. Aber es wurde kein Puffer daraus, vielmehr kam es so, dass er das politische Moment verkannte und obendrein theoretische Fehler machte.

Mussten alle diese Streitigkeiten in einer breiten Diskussion ausgetragen werden? War es nötig, sich mit dieser müßigen Sache zu befassen? Mussten die für uns so notwendigen Wochen vor dem Parteitag dazu verwendet werden? In dieser Zeit hätten wir die Frage der Prämien, der Disziplinargerichte, des Verwachsens durcharbeiten und studieren können. Eben diese Fragen hätten wir in sachlicher Weise in der Kommission des Zentralkomitees erledigt. Wenn Genosse Bucharin einen Puffer bilden und nicht in die Lage eines Menschen kommen wollte, von dem es heißt: „Er wollte in das eine Zimmer, ist in ein anderes geraten“, so hätte er sagen und darauf bestehen müssen, dass Genosse Trotzki in der Kommission bleibt. Wenn er das gesagt und getan hätte, dann wären wir auf den Weg der Sachlichkeit gelangt, dann hätten wir in dieser Kommission untersucht, was es mit der individuellen Leitung, was es mit der Demokratie, was es mit den Ernannten in Wirklichkeit auf sich hat usw.

Weiter. Im Dezember (Plenum vom 7. Dezember) war bereits der Krach mit den Schifffahrtsarbeitern da, der zur Verschärfung des Konfliktes führte, und als Folge davon fanden sich im Zentralkomitee bereits 8 Stimmen gegen unsere 7 zusammen. Genosse Bucharin schrieb in aller Eile den „theoretischen“ Teil der Resolution des Dezemberplenums, aus dem Bestreben heraus, zu „versöhnen“ und den „Puffer“ zur Wirkung zu bringen, aber selbstverständlich konnte dabei nach der Sprengung der Kommission nichts herauskommen.

Man darf nicht vergessen, dass der politische Leiter nicht nur für seine Politik, sondern auch dafür verantwortlich ist, was die von ihm Geleiteten tun.

Worin lag der Fehler der Politischen Zentralstelle für Verkehrswesen und des Zektran? Durchaus nicht darin, dass sie Zwang anwandten. Darin bestand im Gegenteil ihr Verdienst. Ihr Fehler lag darin, dass sie es nicht verstanden, rechtzeitig und ohne Konflikte, entsprechend der Forderung des IX. Parteitags der KPR, zu einer normalen Gewerkschaftsarbeit überzugehen, dass sie es nicht verstanden, sich in der erforderlichen Weise den Gewerkschaftsverbänden anzupassen, dass sie es nicht verstanden, ihnen zu helfen und in ein gleichberechtigtes Verhältnis zu ihnen zu treten. Es gibt eine wertvolle militärische Erfahrung: Heroismus, Pünktlichkeit der Ausführung usw. Es gibt etwas Übles in der Erfahrung mit den ärgsten Elementen unter den Militärs: Bürokratismus, Hochnäsigkeit. Die Thesen Trotzkis haben sich, ohne sein Wissen und Wollen, als eine Unterstützung nicht des Besten, sondern des Übelsten aus der militärischen Erfahrung erwiesen. Man darf nicht vergessen, dass der politische Leiter nicht nur für seine Politik, sondern auch dafür verantwortlich ist, was die von ihm Geleiteten tun.

Das Letzte, was ich euch sagen wollte und wofür ich mich gestern einen Narren schimpfen musste, das ist der Umstand, dass ich die Thesen des Genossen Rudsutak übersehen habe. Rudsutak hat den Mangel, dass er nicht laut, imponierend und schön zu reden versteht. Man bemerkt’s nicht und geht daran vorbei. Gestern habe ich, da es mir nicht möglich war, die Versammlung zu besuchen, mein Material durchgesehen und darunter ein gedrucktes Flugblatt gefunden, das zur 5. Allrussischen Gewerkschaftskonferenz, die vom 2. bis 6. November, 19204 getagt hatte, herausgegeben wurde. Dieses Flugblatt trägt die Überschrift: „Die Produktionsaufgaben der Gewerkschaften“. Ich werde euch dieses Flugblatt ganz verlesen, es ist nicht lang:

Zur 5. Allrussischen Gewerkschaftskonferenz

Die Produktionsaufgaben der Gewerkschaften

(Thesen zum Referat des Genossen Rudsutak)

1. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution erwiesen sich die Gewerkschaften nahezu als die einzigen Organe, die neben der Ausübung der Arbeiterkontrolle die Arbeit zur Organisierung und Verwaltung der Produktion übernehmen konnten und mussten. Der staatliche Verwaltungsapparat der Volkswirtschaft funktionierte in der ersten Zeit des Bestehens der Sowjetmacht noch nicht, die Sabotage der Betriebsinhaber und des höheren technischen Personals aber stellte die Arbeiterklasse in aller Schärfe vor die Aufgabe der Erhaltung der Industrie und der Wiederherstellung der normalen Arbeit des gesamten Wirtschaftsapparats des Landes.

2. Als in der folgenden Arbeitsperiode des Obersten Volkswirtschaftsrat? ein erheblicher Teil dieser Arbeit in der Liquidierung der Privatunternehmen und der Organisierung ihrer staatlichen Verwaltung bestand, leisteten die Gewerkschaften diese Arbeit Hand in Hand und gemeinsam mit den staatlichen Organen der Wirtschaftsverwaltung.

Die Schwäche der staatlichen Organe erklärte nicht nur, sondern rechtfertigte auch einen derartigen Parallelismus; historisch war er durch die Tatsache der Herstellung eines vollkommenen Kontakts zwischen den Gewerkschaften und den wirtschaftlichen Verwaltungsorganen gerechtfertigt.

3. Die Verwaltung der staatlichen Wirtschaftsorgane, die allmähliche Beherrschung des Produktions- und Verwaltungsapparats durch sie, die Koordinierung der einzelnen Teile dieses Apparates, – alles das verlegte den Schwerpunkt der Arbeit zur Verwaltung der Industrie und zur Ausarbeitung des Produktionsprogramms in diese Organe. Im Zusammenhang damit reduzierte sich die Arbeit der Gewerkschaften zur Organisierung der Produktion auf die Beteiligung an der Bildung der Kollegien der Hauptverwaltungen der Zentralstellen und der Betriebsleitungen.

4. Im gegenwärtigen Moment sind wir wiederum unmittelbar bei der Frage der Herstellung der engsten Verbindung zwischen den Wirtschaftsorganen der Sowjetrepublik und den Gewerkschaften angelangt, wo es notwendig ist, um jeden Preis jede Arbeitseinheit in zweckmäßiger Weise auszunutzen, die ganze Masse der Produzenten in ihrer Gesamtheit zur bewussten Teilnahme am Produktionsprozess heranzuziehen; wo der staatliche Apparat der Wirtschaftsverwaltung, der immer größer und komplizierter wird und sich in eine im Vergleich zur Produktion selbst unverhältnismäßig große bürokratische Maschine verwandelt hat, die Gewerkschaften unvermeidlich zur unmittelbaren Beteiligung an der Organisierung der Produktion treibt nicht nur durch Personalvertretung in den Wirtschaftsorganen, sondern auch als Organisation in ihrer Gesamtheit.

5. Wenn der Oberste Volkswirtschaftsrat von den vorhandenen materiellen Elementen der Produktion (Rohstoffe, Brennmaterial; Zustand der Maschinen usw.) ausgeht, um die Festsetzung des allgemeinen Produktionsprogramms in Angriff zu nehmen, so müssen die Gewerkschaften an diese Frage vom Standpunkte der Organisierung der Arbeit für die Produktionsaufgaben und der zweckmäßigen Ausnutzung der Arbeit herantreten. Darum muss das allgemeine Produktionsprogramm sowohl in seinen Teilen als auch in seiner Gesamtheit unbedingt unter Mitwirkung der Gewerkschaften aufgestellt werden, um die Ausnutzung der materiellen Hilfsquellen der Produktion und der Arbeit in zweckmäßigster Weise zu verbinden.

6. Die Einführung einer wirklichen Arbeitsdisziplin, die erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitsdesertionen usw. sind nur denkbar bei einer bewussten Mitwirkung der gesamten Masse der Produktionsteilnehmer an der Verwirklichung dieser Aufgaben. Das lässt sich nicht durch bürokratische Methoden und Befehle von oben erreichen, vielmehr ist es notwendig, dass jeder Produktionsteilnehmer die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der von ihm auszuführenden Produktionsaufgaben begreife; dass jeder Produktionsteilnehmer nicht nur an der Erfüllung der von oben kommenden Aufträge mitwirke, sondern auch bewusst an der Behebung aller technischen und organisatorischen Mängel auf dem Gebiete der Produktion teilnehme.

Die Aufgaben der Gewerkschaften sind auf diesem Gebiet gewaltig. Sie müssen ihre Mitglieder in jeder Betriebsabteilung, in jeder Fabrik lehren, alle Mängel bei der Ausnutzung der Arbeitskraft, die sich aus einer falschen Ausnutzung der technischen Mittel oder aus einer unbefriedigenden Verwaltungsarbeit ergeben, festzustellen und zu berücksichtigen. Die Summe der Erfahrungen der einzelnen Betriebe und der Produktion selbst muss ausgenutzt werden zum energischen Kampf gegen Schlendrian, Liederlichkeit und Bürokratismus.

7. Um die Wichtigkeit dieser Produktionsaufgaben besonders zu betonen, muss ihnen organisatorisch ein bestimmter Platz in der laufenden konkreten Arbeit eingeräumt werden. Die bei den Gewerkschaften laut Beschluss des III. Allrussischen Kongresses zu organisierenden ökonomischen Abteilungen müssen bei der Entfaltung ihrer Arbeit nach und nach den Charakter der gesamten Gewerkschaftsarbeit beleuchten und bestimmen. So müssen z. B. unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen, wo die gesamte Produktion auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Werktätigen selbst eingestellt ist, Tarif und Prämierung in engstem Zusammenhang mit dem Grad der Erfüllung des Produktionsplans und in engster Abhängigkeit davon stehen. Die Naturalprämierung und die teilweise Naturalisierung des Arbeitslohnes müssen allmählich, entsprechend der Höhe der Produktivität der Arbeit, zum System der Versorgung der Arbeiter werden.

8. Eine solche Gestaltung der Arbeit der Gewerkschaften muss einerseits mit dem Bestehen von Parallelorganen (Politischen Abteilungen usw.) aufräumen und anderseits die enge Verbindung der Massen mit den wirtschaftlichen Verwaltungsorganen wiederherstellen.

9. Nach dem III. Kongress ist es den Gewerkschaften einerseits infolge der durch den Krieg geschaffenen Verhältnisse, anderseits infolge ihrer organisatorischen Schwäche und Losgelöstheit von der führenden und praktischen Arbeit der Wirtschaftsorgane nicht gelungen, ihr Programm hinsichtlich ihrer Beteiligung am Aufbau der Volkswirtschaft in bedeutendem Umfang zu verwirklichen.

10. Im Zusammenhang damit müssen sich die Gewerkschaften die folgenden nächsten praktischen Aufgaben stellen: a) aktivste Beteiligung an der Lösung der Fragen der Produktion und der Verwaltung; b) unmittelbare Beteiligung zusammen mit den entsprechenden Wirtschaftsorganen an der Organisierung sachkundiger Verwaltungsorgane; c) sorgfältige Prüfung des Einflusses der verschiedenen Verwaltungstypen auf die Produktion; d) obligatorische Beteiligung an der Ausarbeitung und Festsetzung der Wirtschaftspläne und Produktionsprogramme; e) Organisierung der Arbeit in Übereinstimmung mit der Dringlichkeit der Wirtschaftsaufgaben; f) großzügige Organisierung der Produktionsagitation und -propaganda.

11. Die ökonomischen Abteilungen der Gewerkschaftsverbände und Gewerkschaftsorganisationen müssen wirklich in rasch funktionierende, mächtige Hebel der planmäßigen Beteiligung der Gewerkschaften an der Organisierung der Produktion verwandelt werden.

12. Zur planmäßigen materiellen Sicherstellung der Arbeiter müssen die Gewerkschaften ihren Einfluss bei den Verteilungsorganen des Volkskommissariats für die Lebensmittelversorgung – sowohl bei den Lokalorganen als auch bei der Zentralstelle – geltend machen, dadurch, dass sie in allen Verteilungsorganen praktisch und sachlich mitwirken und eine Kontrolle ausüben und dabei besondere Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit der zentralen und Gouvernementskommissionen für die Versorgung der Arbeiter richten.

13. Da die sogenannte „Dringlichkeit“ infolge der eng ressortmäßigen Bestrebungen einzelner Hauptverwaltungen, Zentralstellen usw. bereits einen äußerst chaotischen Charakter angenommen hat, müssen die Gewerkschaften überall für die wirkliche Durchführung des Dringlichkeitsprinzips in der Wirtschaft sowie für die Revision des bestehenden Systems zur Bestimmung der Dringlichkeit eintreten, die entsprechend der Wichtigkeit der Produktion und den vorhandenen materiellen Hilfsquellen des Landes zu erfolgen hat.

14. Besondere Aufmerksamkeit ist auf die sogenannte Mustergruppe von Betrieben zu konzentrieren. Diese müssen durch Bildung einer sachkundigen Verwaltung, Schaffung einer Arbeitsdisziplin sowie durch die Tätigkeit der Gewerkschaftsorganisation in wirklich vorbildliche Betriebe verwandelt werden.

15. Auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation müssen die Gewerkschaften neben der Ausgestaltung der Tarifmaßnahmen zu einem einheitlichen System und einer allseitigen Revision der Leistungsnormen die Bekämpfung der einzelnen Formen der Arbeitsdesertion (Arbeitsversäumnisse, Verspätung usw.) fest in die Hand nehmen. Die Disziplinargerichte, die bisher nicht in der gebührenden Weise beachtet wurden, müssen in ein wirkliches Kampfmittel gegen die Verletzung der proletarischen Arbeitsdisziplin verwandelt werden.

16. Die Erfüllung der aufgezählten Aufgaben muss, ebenso wie die Ausarbeitung eines praktischen Planes der Produktionspropaganda und einer Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter, den ökonomischen Abteilungen übertragen werden. Deshalb ist es notwendig, die ökonomische Abteilung des Allrussischen Zentralrats der Gewerkschaften zu beauftragen, in der allernächsten Zeit eine spezielle Allrussische Beratung der ökonomischen Abteilungen über die praktischen Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus im Zusammenhang mit der Tätigkeit der staatlichen Wirtschaftsorgane einzuberufen.“

Ich hoffe, dass ihr jetzt einsehen werdet, warum ich mich ausschimpfen musste. Das ist eben eine Plattform! Sie ist hundertmal besser auch als das, was Genosse Trotzki nach vielfachem Überlegen und was Genosse Bucharin ohne jede Überlegung niedergeschrieben haben (die Resolution des Plenums vom 7. Dezember). Wir alle, Mitglieder des Zentralkomitees, die seit vielen Jahren in der Gewerkschaftsbewegung nicht gearbeitet haben, sollten vom Genossen Rudsutak lernen; sowohl Genosse Trotzki als auch Genosse Bucharin sollten von ihm lernen. Diese Plattform wurde von den Gewerkschaften angenommen.

Die Disziplinargerichte haben wir alle vergessen, „Produktionsdemokratie“ aber ist ohne Naturalprämien, ohne Disziplinargerichte nichts als Gewäsch.

Die Thesen Rudsutaks vergleiche ich mit den Thesen, die Trotzki dem Zentralkomitee vorgelegt hat. Am Ende der fünften These lese ich:

„… Es ist notwendig, sofort die Reorganisierung der Gewerkschaften, d. h. vor allem die Auslese des leitenden Personals gerade unter diesem Gesichtswinkel in Angriff zu nehmen…“

Da habt ihr echten Bürokratismus! Trotzki und Krestinski werden das „leitende Personal“ der Gewerkschaften auslesen!

Noch einmal: da habt ihr die Erklärung für die Fehler des Zektran. Nicht das ist sein Fehler, dass es einen Druck ausübte; das ist sein Verdienst. Der Fehler besteht darin, dass es nicht verstanden hat, die allgemeinen Aufgaben aller Gewerkschaften anzupacken, dass es nicht verstanden hat, selbst zu einer richtigeren, rascheren und erfolgreicheren Anwendung der kameradschaftlichen Disziplinargerichte überzugehen und allen Gewerkschaften bei diesem Übergang zu helfen. Als ich in den Thesen des Genossen Rudsutak von den Disziplinargerichten las, dachte ich mir: darüber gibt es bestimmt schon ein Dekret. Und siehe da, ein Dekret ist wirklich da. „Bestimmungen über die kameradschaftlichen Arbeiterdisziplinargerichte“, erlassen am 14. November 1919 (Sammlung der Gesetzesbestimmungen Nr. 537).

In diesen Gerichten fällt die Hauptrolle den Gewerkschaften zu. Ob diese Gerichte gut sind, inwieweit sie erfolgreich wirken und ob sie immer funktionieren, weiß ich nicht. Würden wir unsere eigene praktische Erfahrung studieren, so wäre das Millionen Mal nützlicher als all das, was die Genossen Trotzki und Bucliarin geschrieben haben.

Ich komme zum Schluss. Wenn ich alles, was zu dieser Frage vorliegt, zusammenfasse, so muss ich sagen, dass die Austragung dieser Meinungsverschiedenheiten in einer breiten Parteidiskussion und auf dem Parteitag ein riesiger Fehler ist. Politisch ist das ein Fehler. In einer Kommission und nur in einer Kommission hätten wir eine sachliche Erörterung gehabt und wären weitergekommen, jetzt aber gehen wir zurück und werden mehrere Wochen lang zu abstrakten theoretischen Thesen zurückgehen, anstatt sachlich die Aufgabe zu behandeln. Was mich betrifft, so habe ich das satt, und ich würde mich, abgesehen von meiner Krankheit, mit dem größten Vergnügen davon zurückziehen, ich möchte mich davor retten, ganz gleich wohin. .

Das Fazit: die Thesen Trotzkis und Bucharins enthalten eine ganze Reihe theoretischer Fehler. Eine Reihe prinzipieller Irrtümer. Politisch ist die ganze Art, wie sie die Sache anfassen, eine vollendete Taktlosigkeit. Die „Thesen“ des Genossen Trotzki sind eine politisch schädliche Sache. Seine Politik ist letzten Endes eine Politik des bürokratischen Herumzerrens an den Gewerkschaften. Und unser Parteitag wird, davon bin ich überzeugt, diese Politik verurteilen und ablehnen.

1 Gemeint sind das November- und das Dezemberplenum des Zentralkomitees 1920. Siehe die Texte der angenommenen Resolutionen in der „Prawda“ Nr. 255 vom 13. XI. 1920 und Nr. 281 vom 14. XII. 1920 sowie die Darstellung in den „Iswestija („Mitteilungen“) des ZK der KPR“ Nr. 26 vom 20. XII. 1920.

2 Im Text des zitierten Dokuments nicht hervorgehoben. Die Red.

3 Siehe „Iswestija des ZK der KPR“ Nr. 26, S. 2, Resolution des Septemberplenums des ZK, Punkt 3: „Das ZK ist ferner der Ansicht, dass die schwere Lage der Transportarbeiter-Gewerkschaften, durch die die Politische Zentralstelle für das Verkehrswesen (Glawpolitputj) und die Politische Verwaltungsstelle für das Schifffahrtswesen (Politwod) als provisorische Hebel zur Unterstützung und Ingangsetzung der Arbeit ins Leben gerufen wurden, sich gegenwärtig wesentlich gebessert hat. Infolgedessen kann und muss jetzt mit der Arbeit zur Einbeziehung dieser Organisationen in die Gewerkschaft als Verbandsorgane, die sich dem Gewerkschaftsapparat anpassen und in ihm aufgehen, begonnen werden.“

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