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VIII. Sowjetkongress

Der VIII. Sowjetkongress, auf dem Lenin den vorliegenden Bericht über die Tätigkeit des Rates der Volkskommissare erstattete, tagte vom 22. bis zum 29. Dezember 1920. Das Ende des Jahres 1920 und der Beginn von 1921 waren ein Wendepunkt im Leben der Sowjetrepubliken. Der Krieg mit Polen war zu Ende, Wrangel war besiegt. Somit waren die letzten Versuche, in der damaligen Zeit eine Intervention und einen weißgardistischen Vorstoß gegen das Land der Sowjets zu organisieren, zunichte gemacht. Die – vom Frühjahr 1918 an gerechnet – dritte „friedliche Atempause“ brach an und verhieß diesmal „viel anhaltender zu sein“. Wie Lenin gerade zur Zeit des VIII. Rätekongresses, während der Diskussion über die Gewerkschaften, bemerkte, entstand die Möglichkeit eines „dauerhafteren Übergangs von der Kriegsfront zur Arbeitsfront“, als dies in der Periode des IX. Parteitages im Frühjahr 1920 der Fall war, wo der Übergang zur Arbeitsfront durch den von der Entente organisierten Überfall Polens und durch den späteren Vormarsch Wrangels bald vereitelt wurde. Die durch den Krieg und die Zerrüttung diktierte Politik des Kriegskommunismus konnte bei einer „längeren Atempause“ und bei „einem dauerhafteren Übergang“ zur Wirtschafts- und Arbeitsfront nicht beibehalten werden. In der allernächsten Zukunft stand der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik bevor, die – wie Lenin wiederholt betonte – im Grunde die „alte Politik“ war, wie sie im Frühjahr 1918 in Lenins Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ vorgezeichnet und von der Partei und der Sowjetmacht angenommen worden war (und zwar durch die Verfügung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 29. April 1918) – die „alte" Politik, natürlich mit gewissen Abänderungen entsprechend den Veränderungen in der Ökonomie und in den Klassenverhältnissen des Landes. Es ist kennzeichnend, dass Lenin in seinem Bericht auf dem VIII. Rätekongress diese Verfügung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 29. April 1918, in der seine Thesen „Über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ bestätigt werden, in Erinnerung bringt und den Rätekongress darauf aufmerksam macht, dass diese Verfügung nicht aufgehoben wurde, sondern „für uns Gesetz“ geblieben ist. Der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik vollzog sich jedoch etwas später, auf Grund der Beschlüsse des X. Parteitages (März 1921). Der VIII. Rätekongress trat gerade zur Zeit der Wendung von der Politik des Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik zusammen, was sowohl seiner ganzen Arbeit als auch seinen Beschlüssen das Gepräge gab.

Angesichts der im Vergleich mit der Periode des VIII. und des IX. Parteitages (Frühjahr 1919 und Frühlahr 1920) noch größer gewordenen wirtschaftlichen Zerrüttung, die im Frühjahr 1921 bereits zu einer deutlich ausgeprägten und sogar sehr tiefen Wirtschaftskrise führte, sowie angesichts der Möglichkeit „eines dauerhafteren Übergangs zur Arbeitsfront“ befasst sich der VIII. Rätekongress vor allem mit den Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus. Nach Lenins Bericht über die Tätigkeit des Rates der Volkskommissare, der beinahe ausschließlich diesen Fragen gewidmet war, wurde auf dem Kongress der Bericht G. M. Krschischanowskis über den Plan der Elektrifizierung des Landes entgegengenommen und danach die Referate über die Wiederherstellung der Industrie und des Transportwesens, über die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion und die Hilfe für die Bauernwirtschaft und schließlich – in engstem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Aufgaben – das Referat über die Verbesserung der Arbeit der Sowjetbehörden und über die Bekämpfung des Bürokratismus. Von allen Problemen, die auf dem VIII. Sowjetkongress besprochen wurden, standen jene Fragen im Mittelpunkt, auf die Lenin in seinem Bericht über die Tätigkeit des Rates der Volkskommissare die Aufmerksamkeit des Kongresses konzentrierte, und zwar die Frage der Konzessionen, das Problem der Festigung und Entwicklung der bäuerlichen Landwirtschaft, der Plan der Elektrifizierung des Landes als einheitlicher Wirtschaftsplan und die Methoden der Heranziehung der breitesten Arbeiter- und Bauernmassen zum wirtschaftlichen Aufbau. Vor allem in den beiden ersten von diesen vier Hauptfragen des VIII. Sowjetkongresses wirkte sich der Übergangscharakter der damaligen Situation aus.

Die Zulassung von Konzessionen bedeutete „in gewissem Maße“ eine Zulassung des Kapitalismus in der Form des Staatskapitalismus (vergl. die Broschüre „Über die Naturalsteuer", Kapitel „Über die Naturalsteuer, die Freiheit des Handels, die Konzessionen usw.“) und war ein wichtiges Element der Neuen Ökonomischen Politik. Der Frage der Konzessionen, über die der Rat der Volkskommissare am 23. November 1920 ein Dekret erließ (siehe Anm. 98 zum vorliegenden Band), widmete Lenin zu jener Zeit ebenso wie in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik besonders viel Aufmerksamkeit. Im vorliegenden Band ist eine große Rede über die Konzessionen enthalten, die Lenin noch vor dem VIII. Rätekongress in der Versammlung der Zellensekretäre der Moskauer Organisation hielt. Auch in der Sitzung der kommunistischen Fraktion des Rätekongresses, kurz vor der Eröffnung des Kongresses, hielt Lenin eine ausführliche Rede über die Konzessionen, und danach beleuchtete er diese Frage in seinem Bericht über die Tätigkeit des Rates der Volkskommissare auf dem Kongress selbst.

Die Frage der Bauernwirtschaft wurde vom Rätekongress bei der Bestätigung des vom Rat der Volkskommissare vorgelegten Gesetzentwurfes „Über die Maßnahmen zur Stärkung und Entwicklung der Bauernwirtschaft“ behandelt. Charakteristisch für diesen Gesetzentwurf, dem Lenin in seinem Bericht besondere Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, ist, dass die Staatliche Regulierung der Bauernwirtschaft (ihre Gestaltung durch Aussaatpläne, die den einzelnen Gouvernements, Kreisen, Landbezirken und Dörfern bis hinunter zu den einzelnen Bauernwirtschaften vorgeschrieben wurden) mit der Anspornung des „tüchtigen Bauern“ (d. h. des Mittelbauern), seinem persönlichen Interesse und der Erfüllung der vom Staat aufgestellten Normen kombiniert wurde. Die Anspornung des Bauern ist eben ein wesentlicher Charakterzug dieses Gesetzentwurfes, der in folgender von Lenin bei der Begründung der Neuen Ökonomischen Politik aufgestellten Losung seinen prägnantestem Ausdruck fand: sich so an das „persönliche Interesse“ des Kleinbauern (des Mittelbauern) anzuhaken, dass man, einmal angehakt, diesen Bauern als Schaffenden führen und mit ihm zusammen zum Sozialismus fortschreiten kann. Dem gleichen Gedankenkreis, der mit dem Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik zusammenhängt, entspringt Lenins Ausspruch in seinem Bericht auf dem VIII. Sowjetkongress, dass man im Dorfe „mit den notwendigsten, dringendsten, dem Bauern durchaus begreiflichen, durchaus verständlichen Maßnahmen“ beginnen muss. Diesen Hinweis unterstreicht Lenin wiederum mehrmals bei der Motivierung der Neuen Ökonomischen Politik.

Lenin betonte gerade in der Periode des VIII. Sowjetkongresses, bei der Diskussion über die Gewerkschaften im Dezember 1920 (in seiner Rede „Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler des Genossen Trotzki“), dass sich angesichts der Möglichkeit eines dauerhafteren Übergangs von der Kriegs- zur Arbeitsfront „die Beziehungen der Klasse des Proletariats zur Klasse der Bauernschaft bereits ändern“, und wies darauf hin, dass es notwendig ist, „dies aufmerksam zu verfolgen“. Dies wirkte sich zweifellos bereits im Gesetzentwurf „Über die Maßnahmen zur Festigung und Entwicklung der Bauernwirtschaft" aus, obwohl die für den Kriegskommunismus kennzeichnende Lebensmittelumlage noch nicht abgeschafft worden war. Und nicht umsonst sagte Lenin in seinem Schlusswort zum Bericht über die Naturalsteuer auf dem X. Parteitag, dass zwischen dem Übergang zur Naturalsteuer und der Aussaatkampagne, die im Frühjahr 1921 gerade auf Grund des obengenannten, vom VIII. Rätekongress bestätigten Gesetzentwurfes durchgeführt wurde, „in der Hauptsache eine ökonomische Übereinstimmung und kein Widerspruch besteht“.

Die Bedeutung des Gesetzes „Über die Maßnahmen zur Festigung und Entwicklung der Bauernwirtschaft“ liegt darin, dass er die Grundlagen für eine planmäßige Gestaltung der Bauernwirtschaft auf dem Wege der Regulierung der Aussaat schuf. [...]

Die dritte Kernfrage, mit der Lenin sich in seinem Tätigkeitsbericht des Rates der Volkskommissare an den VIII. Rätekongress befasste, ist der Elektrifizierungsplan, der von der Staatlichem Kommission zur Elektrifizierung Russlands ausgearbeitet wurde (vgl. über diesen Plan auch den Artikel „Über den einheitlichen Wirtschaftsplan“). Zu dieser Frage nahm der Rätekongress eine von Lenin vorgeschlagene Resolution an, worin der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands für die geleistete Arbeit Dank ausgesprochen und das Allrussische Zentralexekutivkomitee, der Rat für Arbeit und Landesverteidigung und das Präsidium des Obersten Volkswirtschaftsrates beauftragt werden, die Ausarbeitung des Plans der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands „zu vollenden“ und „diesen Plan unbedingt in der kürzesten Frist zu bestätigen“. Wie aus Lenins Bericht ersichtlich ist, maß er diesem Plan der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands außerordentliche Bedeutung bei. Allein die Formulierung Lenins, dass „der Kommunismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes ist“, zeugt eindeutig davon, was die Elektrifizierung für Lenin bedeutete. Der Plan der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands, der auf dem IX. Rätekongress, d. h. ein Jahr nach dem VIII. Kongress, schon unter der NÖP, in einer für die damalige Zeit vollendeten konkreten Form angenommen und entsprechend dem gewaltigen Aufschwung der Industrialisierung des Landes und der sozialistischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft später vervollkommnet und ausgebaut wurde – dieser Plan der Elektrifizierung des Landes, geschaffen unter der Leitung Lenins, liegt auch jetzt der sozialistischen Umgestaltung unserer Wirtschaft zugrunde. [...]

Der Plan der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands schuf die Grundlagen für einen planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion. Lenin, der diesen Plan in seinem Tätigkeitsbericht des Rates der Volkskommissare an den VIII. Rätekongress gegen die damaligen Nörgler und Skeptiker verteidigte, die an der Möglichkeit langfristiger Pläne zweifelten, fasste seine Gedanken über die Methoden der Planung der Volkswirtschaft und ihre praktische Durchführung zu einem System zusammen. [...]

Der „dauerhaftere Übergang“ von der Kriegsfront zur Arbeits- und Wirtschaftsfront forderte die Heranziehung der breitesten Arbeiter- und Bauernmassen (der armen und Mittelbauern) zum wirtschaftlichen Aufbau. Deshalb bildete die Frage der bei dieser Heranziehung anzuwendenden Methoden die vierte Kernfrage dieses Rätekongresses. Lenin, der jede der drei Kernfragen, von denen in dieser Anmerkung bereits die Rede war, analysierte, beleuchtete in seiner Rede auch diese vierte Frage ganz systematisch. Charakteristisch ist dabei die Art und Weise, wie Lenin diese Frage stellt und wie er sie löst: er kombiniert Überzeugung und Zwang. Der Zwang ist dabei gegen „Schwankungen und Rückfälle in die Zerfahrenheit und in die kleinbürgerliche Ideologie“ nicht nur in den Reihen der bäuerlichen Massen, sondern auch in den Reihen der Arbeiterklasse selbst gerichtet. Den „staatlichen Zwang“ auf dem Boden der Überzeugung macht Lenin im Zusammenhang mit dem Dekret „Über die Maßnahmen zur Festigung und Entwicklung der Landwirtschaft“ zur Tagesaufgabe in Bezug auf die Bauernschaft. Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als widerspräche dies all dem, was Lenin in der Periode des VIII. Parteitages im Zusammenhang mit der Losung der Verständigung, des Bündnisses mit dem Mittelbauern, über die Unzulässigkeit der Gewaltanwendung gegenüber dem Mittelbauern gesagt hat. In Wirklichkeit besteht hier natürlich kein Widerspruch. Später, bereits unter der NÖP, führte Lenin auf der Allrussischen Parteikonferenz im Mai 1921 unter anderem aus: „Dass die Naturalsteuer in der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Kommunismus bei einer bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit ohne Zwang an euch abgeführt wird – ein solcher ,Kommunismus' existiert meines Wissens noch nicht“. Und dies wurde über eine Maßnahme gesagt, die, wie der Übergang zur Naturalsteuer, auf eine Festigung des Bündnisses mit dem Mittelbauern abzielte. Lenin verneinte und verurteilte – im Gegensatz zum „Linkstum“ – den Zwang, die Gewalt, das Herumkommandieren in Fragen des Übergangs des Mittelbauern von der Einzelwirtschaft zur Kollektivierung des Dorfes aufs entschiedenste. Er bestand aber im Gegensatz zum Rechtsopportunismus genau so beharrlich darauf, dass dieser Bauer entschieden angehalten wird, seine Pflichten dem proletarischen Staat gegenüber zu erfüllen, dass Erscheinungen kleinbürgerlicher Anarchie bei der Erfüllung der Aufgaben, die dieser Staat der Bauernwirtschaft stellt, scharf bekämpft werden. Lenin verlangte von den Arbeitern unbedingte Arbeitsdisziplin und schärfste Bekämpfung der Äußerungen kleinbürgerlichen Sichgehenlassens in den Reihen des Proletariats und forderte auch von der Bauernschaft eine entsprechende Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber dem Staat an der Arbeits- und der Ernährungsfront. Doch zog er auch hier – im Gegensatz zu den Bestrebungen des „Linkstums“ und zu den „linken“ Überspitzungen in der Praxis – eine scharfe Trennungslinie zwischen der Stellung zu den Mittelbauern und der Stellung zu den Kulaken und verurteilte auf das Entschiedenste die Anwendung der Methoden, die bei der Bekämpfung der Kulaken geboten sind, auch gegenüber dem Mittelbauern. Was Lenin forderte, war – Zwang auf der Grundlage der Überzeugung bei der Erfüllung der staatlichen Aufgaben an der Arbeitsfront, insbesondere der Aufgaben der Getreideablieferung an den Staat (damals in Form der Zwangsumlage, später in Form der Naturalsteuer). [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 8]

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