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Wladimir I. Lenin 19141205 Eine deutsche Stimme über den Krieg

Wladimir I. Lenin: Eine deutsche Stimme über den Krieg

[Sozialdemokrat Nr. 34, 5. Dezember 1914. Nach Sämtliche Werke, Band 18, 1929, S.92 f.]

„… Über Nacht hat sich das Weltbild geändert … Jeder schiebt die Schuld auf den Nachbar. Jeder ist der Angegriffene, der nur aus Notwehr handelt. Alle verteidigen nur ihre heiligsten Güter, den Herd, das Vaterland … Nationale Eitelkeit und nationaler Machtdurst haben triumphiert … Und selbst die große internationale Arbeiterschaft … gehorcht dem nationalen Machtwort und mordet einander gegenseitig auf den Schlachtfeldern … Unsere Zivilisation ist bankrott … Schriftsteller von europäischem Ruf verschmähten es nicht, in blindwütigem Chauvinismus zu machen … Die … dem … Zivilisationskehricht Abgewandten haben sich … getäuscht … darin, … dass sie zu sehr geglaubt hatten, der imperialistische Wahnsinn könne gebändigt werden durch die Furcht vor dem ökonomischen Ruin … Wir haben den nackten imperialistischen Kampf um die Hegemonie auf der Erde. Und nirgends auch nur der Schein, dass große Ideen im Spiele seien, es wäre denn vielleicht die Niederwerfung des russischen Minotauros … des Zaren und seiner Großfürsten, die die edelsten Männer ihres Landes dem Henker auslieferten … Aber sehen wir nicht, wie der Wahnsinn sich häuft: das edle Frankreich, die Trägerin aller freiheitlichen Traditionen, als Bundesgenosse des Henkerzars; das ehrenhafte Deutschland … sein Wort brechen und das unglückliche neutrale Belgien mit Krieg überziehen? … Wie soll das enden? Wenn das Elend zu groß wird, wenn die Verzweiflung übermächtig wird, wenn der Bruder den Bruder im feindlichen Waffenrock erkennt, könnte noch sehr Unerwartetes eintreten, könnten sie die Waffen gegen die Kriegshetzer wenden, könnten die plötzlich einig gewordenen Völker den aufgezwungenen Hass vergessen. Lassen wir das Prophezeien, aber wenn uns der europäische Krieg einen Schritt näher der europäischen sozialen Republik bringt, so war er doch nicht so ganz sinnlos, wie es heute den Anschein hat.“

Wessen Stimme ist das? Vielleicht die eines deutschen Sozialdemokraten?

Aber wo denn! Sie sind jetzt, mit Kautsky an der Spitze, „elende konterrevolutionäre Schwätzer“ geworden, wie Marx jene deutschen Sozialdemokraten nannte1, die sich gleich nach Erlass des Sozialistengesetzes so „zeitgemäß“ benahmen, wie sich Haase, Kautsky, Südekum und Konsorten in unseren Tagen benehmen.

Nein, unser Zitat ist einer Zeitschrift kleinbürgerlicher christlicher Demokraten entnommen, die von einer Gesellschaft guter Pfäfflein in Zürich herausgegeben wird („Neue Wege, Blätter für religiöse Arbeit“, 1914, September). So schmählich weit ist es also mit uns gekommen: gottgläubige Philister versteigen sich zu der Erklärung, dass es nicht übel wäre, die Waffen gegen die „Kriegshetzer“ zu kehren; angesehene Sozialdemokraten dagegen, wie Kautsky, rechtfertigen „wissenschaftlich“ den niederträchtigsten Chauvinismus oder erklären, wie Plechanow, die Propagierung des Bürgerkriegs gegen die Bourgeoisie für eine schädliche „Utopie“!

Ja, wenn solche „Sozialdemokraten“ die Majorität haben und die offizielle „Internationale“ (= Bund zur internationalen Rechtfertigung des nationalen Chauvinismus) darstellen wollen, wäre es dann nicht besser, auf den beschmutzten und von ihnen erniedrigten Namen „Sozialdemokrat“ zu verzichten und zur alten marxistischen Bezeichnung „Kommunist“ zurückzukehren? Kautsky drohte damit, als die opportunistischen Bernsteinianer nahe daran zu sein schienen, offiziell die deutsche Partei zu erobern. Was in seinem Munde eine leere Drohung war, wird bei anderen vielleicht zur Tat werden.

1 Lenin hat hier den Brief Marxens an Sorge vom 19. September 1879 im Auge, der von der Herausgabe eines sozialdemokratischen Parteiorgans in Zürich im Zusammenhang mit dem deutschen Sozialistengesetz (1878) handelt.

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