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Wladimir I. Lenin 19150800 Über den Krieg (Aufruf)

Wladimir I. Lenin: Über den Krieg

(Aufruf)

[Geschrieben im August 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht am 21. Januar 1928 in der „Prawda“ Nr. 18 (3850). Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 238-241]

Arbeiter, Genossen!

Nun dauert der europäische Krieg schon über ein Jahr. Allen Anzeichen nach wird er noch sehr lange dauern, denn wenn auch Deutschland am besten gerüstet dasteht und zur Zeit an Stärke alle überragt, so verfügt der Vierbund (Russland, England, Frankreich und Italien) dafür über die größeren Menschenmassen und Geldmittel und wird überdies aus dem reichsten Lande der Welt, den Vereinigten Staaten von Amerika, ungehindert mit Kriegsmaterialien beliefert.

Dieser Krieg, der die Menschheit in unerhörtes Elend stürzt, – warum wird er geführt? In jedem kriegführenden Lande verschleudern Regierung und Bourgeoisie Millionen von Rubel für Bücher und Zeitungen, um die Schuld auf den Gegner zu wälzen, um im Volke den tollsten Hass gegen den Feind anzufachen; vor keiner Lüge schrecken sie zurück, um sich als den zur „Landesverteidigung“ gezwungenen, ungerechterweise überfallenen Teil hinzustellen. In Wirklichkeit aber ist es ein Krieg zwischen zwei Gruppen von räuberischen Großmächten um die Aufteilung der Kolonien, um die Versklavung anderer Nationen, um Vorteile und Privilegien auf dem Weltmarkt. Es ist der reaktionärste aller Kriege, es ist der Krieg der modernen Sklavenhalter um die Aufrechterhaltung und Befestigung der kapitalistischen Sklaverei. Es ist Lüge, wenn England und Frankreich behaupten, sie führten den Krieg um die Freiheit Belgiens. Sie haben in Wirklichkeit den Krieg schon längst vorbereitet und sie führen ihn, um Deutschland auszuplündern, ihm seine Kolonien zu entreißen, sie haben mit Italien und Russland einen Pakt gemacht über die Beraubung und Aufteilung der Türkei und Österreichs. Die russische Zarenmonarchie führt einen Raubkrieg, sie erstrebt die Annexion Galiziens, sie will der Türkei Länder rauben, Persien, die Mongolei usw. unter ihre Herrschaft bringen. Deutschland führt den Krieg, um England, Belgien, Frankreich ihrer Kolonien zu berauben. Ob nun Deutschland oder ob Russland siegt oder ob der Krieg für beide Seiten resultatlos endet – in jedem Falle bringt er über die Menschheit erneute Unterdrückung von Hunderten von Millionen Menschen, die die Kolonien, Persien, die Türkei, China bevölkern, bringt neue Versklavung der Nationen, neue Ketten für die Arbeiterklasse in allen Ländern.

Welches sind die Aufgaben, die die Arbeiterklasse angesichts dieses Kriegs zu erfüllen hat? Die Antwort auf diese Frage war bereits in der auf dem Baseler Internationalen Sozialistenkongress 1912 von den Sozialisten der ganzen Welt einstimmig angenommenen Resolution gegeben. Diese Resolution war gerade in Voraussicht eines Kriegs, wie er 1914 dann ausbrach, gefasst worden. Diese Resolution erklärt, dass der Krieg reaktionär sei, dass er im Interesse des „Profits der Kapitalisten“ vorbereitet werde, dass die Arbeiter „es als ein Verbrechen empfinden, aufeinander zu schießen“, dass der Krieg zur „proletarischen Revolution“ führen werde, dass die Pariser Kommune 1871 und die Periode Oktober- Dezember 1905 in Russland, d. h. die Revolution, für die Arbeiter das Vorbild der Taktik abgebe.

Alle klassenbewussten Arbeiter Russlands stehen auf der Seite der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Fraktion in der Reichsduma, sie sind für Petrowski, Badajew, Muranow, Samoilow und Schagow, die der Zarismus wegen ihrer revolutionären Propaganda gegen Krieg und Regierung nach Sibirien verschickt hat. Nur eine revolutionäre Propaganda und eine revolutionäre Tätigkeit, die die Massen zur Empörung bringt, vermag die Menschheit vor den Schrecken des gegenwärtigen Kriegs und anderer, kommender Kriege zu retten. Nur die revolutionäre Beseitigung der bürgerlichen Regierungsgewalten, in erster Linie aber der reaktionärsten von allen, der wilden und barbarischen Zarenregierung, eröffnet die Bahn zum Sozialismus und zum Frieden unter den Völkern.

Und Lug und Trug ist es, wenn – bewusste oder unbewusste – Knechte der Bourgeoisie dem Volke einreden möchten, dass die revolutionäre Beseitigung der Zarenmonarchie lediglich den Sieg und die Stärkung der reaktionären deutschen Monarchie und der deutschen Bourgeoisie zur Folge haben könne. Trotzdem die deutschen Sozialistenführer ebenso wie viele von den hervorragendsten Sozialisten in Russland sich auf die Seite „ihrer“ Bourgeoisie geschlagen haben und ihr helfen, das Volk mit dem Märchen vom „Verteidigungskrieg“ zu beschwindeln, wächst und verschärft sich in den deutschen Arbeitermassen doch der Protest und die Empörung gegen ihre Regierung. Deutsche Sozialisten, die nicht zur Bourgeoisie übergelaufen sind, erklärten in der Presse, dass sie die Taktik der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Fraktion für „heroisch“ halten. In Deutschland gibt man illegal Aufrufe gegen den Krieg und gegen die Regierung heraus. Dutzende und Hunderte der besten Sozialisten Deutschlands, darunter auch Clara Zetkin, die bekannte Vertreterin der proletarischen Frauenbewegung, wurden von der deutschen Regierung wegen revolutionärer Propaganda ins Gefängnis geworfen. In allen kriegführenden Ländern, kein einziges ausgenommen, wächst unter den Arbeitermassen die Empörung, und das Vorbild der revolutionären Handlungsweise der russischen Sozialdemokratie, erst recht aber jeder Erfolg der Revolution in Russland, treibt die große Sache des Sozialismus, den Sieg des Proletariats über die ausbeuterische, blutbesudelte Bourgeoisie unaufhaltsam vorwärts.

Der Krieg füllt die Taschen der Kapitalisten, Ströme von Gold fließen ihnen aus den Schatzkammern der Großmächte zu. Der Krieg erzeugt blinden Hass gegen den Feind, und die Bourgeoisie gibt sich alle Mühe, die Unzufriedenheit des Volkes in diese Richtung zu lenken und seine Aufmerksamkeit vom Hauptfeind: den Regierungen und den herrschenden Klassen des eigenen Landes, abzulenken. Allein der Krieg, der über die arbeitenden Massen grenzenlose Leiden und Schrecken verhängt, bewirkt auch die Aufklärung und Stählung der besten Vertreter der Arbeiterklasse. Sollen wir zugrunde gehen, so wollen wir es im Kampfe für die eigene Sache, für die Arbeitersache, für die sozialistische Revolution, nicht aber für die Interessen der Kapitalisten, Gutsbesitzer und Könige, – das empfindet und sieht jeder klassenbewusste Arbeiter. Wie schwierig die revolutionäre sozialdemokratische Arbeit jetzt auch sein mag, so ist sie doch möglich, sie schreitet vorwärts in der ganzen Welt, sie allein bringt die Rettung!

Nieder mit der Zarenmonarchie, die Russland in den verbrecherischen und Völker versklavenden Krieg hineingerissen hat! Es lebe die internationale Verbrüderung der Arbeiter und die internationale Revolution des Proletariats!

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