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Wladimir I. Lenin 19150303 Wie Polizei und Reaktionäre die Einheit der deutschen Sozialdemokratie schützen

Wladimir I. Lenin: Wie Polizei und Reaktionäre die Einheit der deutschen

Sozialdemokratie schützen

[Sozialdemokrat" Nr. 39, 3. März 1915. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin Band 18, 1929, S. 150-152]

Die sozialdemokratische Zeitung in Gotha, das „Gothaer Volksblatt“, brachte in ihrer Nummer vom 9. Januar einen Aufsatz unter dem Titel: „Die Politik der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion unter dem Schutz der Polizei.“

Die zwei ersten Tage Praxis unserer Gothaer Präventivzensur“ – schreibt die unter diesen angenehmen Schutz der Militärbehörden gestellte Zeitung – „zeigen mit aller Deutlichkeit, dass es den Zensurbehörden besonders darauf ankommt, die unbequemen Kritiker der sozialdemokratischen Fraktionspolitik innerhalb unserer Reihen mundtot zu machen. Erhaltung des „Burgfriedens in der Sozialdemokratischen Partei, oder mit anderen Worten Erhaltung einer „einigen“, „geschlossenen“ und machtvollen deutschen Sozialdemokratie ist das Ziel ihres Strebens. Die Sozialdemokratie als Regierungsschützling ist das weitaus wichtigste innerpolitische Ereignis dieser „großen“ Zeit deutschvölkischer Regeneration.

Unsere Fraktionspolitiker haben seit Wochen eine rege Agitation für ihre Auffassung entfaltet. Da ihnen aber in einigen größeren Parteiorten eine erhebliche Opposition erwuchs, ihre Propaganda eine Stimmung geradezu gegen, statt für die Kreditbewilliger herbeiführte, so suchte ihnen eben nun die Militärbehörde durch die Zensur, resp. die Aufhebung der Versammlungsfreiheit beizuspringen, in Gotha soll die Zensur diese Hilfe bringen, in Hamburg das bekannte Versammlungsverbot.“

Die sozialdemokratische Zeitung in Bern1, die diese Worte zitiert, stellt die Tatsache fest, dass eine ganze Reihe sozialdemokratischer Blätter in Deutschland der Präventivzensur unterliegen und fügt von sich aus hinzu:

An der Einmütigkeit der deutschen Presse wird es also bald nicht mehr fehlen. Wo ihr noch Widerstände erwachsen, hilft die Militärdiktatur – auf direkte oder indirekte Denunziation der für den Burgfrieden schwärmenden „Sozialdemokraten“ – rasch und gründlich nach.“

Die radikalen sozialdemokratischen Zeitungen werden tatsächlich, direkt und indirekt, von den opportunistischen denunziert!

Die Tatsachen beweisen also, dass wir vollkommen recht hatten, als wir in Nr. 36 des Sozialdemokrat schrieben:

Die Opportunisten sind bürgerliche Feinde der proletarischen Revolution … In Epochen der Krise erweisen sie sich sofort als offene Verbündete der gesamten vereinigten Bourgeoisie.“

Einheit als Losung der sozialdemokratischen Partei für die heutige Zeit, heißt Einheit mit den Opportunisten und Unterwerfung unter sie (oder unter ihren Block mit der Bourgeoisie). Das ist eine Losung, die in Wirklichkeit der Polizei und den Reaktionären Hilfe erweist und für die Arbeiterbewegung verhängnisvoll ist.

A propos, es sei hier auf die soeben (in deutscher Sprache) erschienene ausgezeichnete Broschüre von Borchardt hingewiesen: „Vor und nach dem 4. August 19142, mit dem Untertitel: „Hat die deutsche Sozialdemokratie abgedankt?“ Ja, sie hat abgedankt, antwortet der Verfasser, indem er den schreienden Widerspruch zwischen den Erklärungen der Partei vor dem 4. August und der Politik „des 4. August“ darstellt. Wir werden im Krieg gegen den Krieg vor keinen Opfern haltmachen, sagten die Sozialdemokraten Deutschlands (und anderer Länder) vor dem 4. August 1914. Am 28. September 1914 aber berief sich Otto Braun, Mitglied des Parteivorstandes, auf die in den legalen Zeitungen angelegten 20 Millionen Kapital und auf die 11.000 Angestellten. Zehntausende durch Legalität korrumpierte Führer, Funktionäre und privilegierte Arbeiter haben die Millionenarmee des sozialdemokratischen Proletariats desorganisiert.

Die Lehre, die sich hieraus ergibt, ist sonnenklar: entschlossener Bruch mit dem Chauvinismus und Opportunismus. Aber die hohlen sozialdemokratischen Schwätzer (J. Gardenin und Co.) in der hohlen Pariser Zeitung „Mysl geben den Marxismus zugunsten kleinbürgerlicher Ideen preis! Vergessen ist das Abc der politischen Ökonomie, ebenso die Weltentwicklung des Kapitalismus, der nur eine revolutionäre Klasse – das Proletariat – erzeugt. Vergessen sind der Chartismus, der Juni 1848, die Pariser Kommune, der Oktober und Dezember 1905. Der Weg der Arbeiter zur Weltrevolution geht nur über eine Reihe von Niederlagen und Fehlern, von Misserfolgen und Schwächen, aber er geht dorthin. Man muss blind sein, um nicht zu sehen, dass der bürgerliche und kleinbürgerliche Einfluss auf das Proletariat die erste und grundlegende, die tiefste Ursache für die Schmach und den Zusammenbruch der Internationale im Jahre 1914 darstellt. Aber die Phrasenhelden Gardenin und Co. wollen den Sozialismus kurieren, indem sie seine einzige, gesellschaftlich-geschichtliche Grundlage, den Klassenkampf des Proletariats, völlig preisgeben und den Marxismus ganz und gar mit dem Wässerchen eines spießbürgerlich-intellektuellen Narodnikitums verdünnen. Nichts von einer hartnäckigen Arbeit in Richtung auf vollkommenen Bruch der proletarisch-revolutionären Bewegung mit dem Opportunismus, vielmehr Vereinigung dieser Bewegung mit Opportunisten vom Schlage der Ropschin und Tschernow, die, vorgestern noch Liberale mit der Bombe in der Tasche, gestern sich in Renegaten des Liberalismus verwandelten und sich heute an süßlichen Bourgeois-Phrasen über das „Werktätigkeits“-Prinzip berauschen!! Die Gardenins sind nicht besser als die Südekums, die Sozialrevolutionäre nicht besser als die Liquidatoren: nicht umsonst sind sich die beiden so liebevoll in die Arme gesunken – in der Zeitschrift „Sowremennik“, die speziell die Verschmelzung der Sozialdemokraten mit den Sozialrevolutionären zu ihrem Programm gemacht hat.

1 In Nr. 9 vom 13. Januar 1915 brachte die Zeitung einen Auszug aus dem „Gothaer Volksblatt“ in der Rubrik „Parteinachrichten“.

2 Julian Borchardts Broschüre „Vor und nach dem 4. August“, in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn verfasst, erschien Januar 1915 in Berlin im Verlag „Lichtstrahlen“.

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