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Wladimir I. Lenin 19141223 Was weiter?

Wladimir I. Lenin: Was weiter?

Über die Aufgaben der Arbeiterparteien gegenüber dem Opportunismus und Sozialchauvinismus

[Sozialdemokrat Nr. 36 23. Dezember 1914. Nach Sämtliche Werke, Band 18, 1929, S. 108-116]

Die gewaltige Krise, die der Weltkrieg im europäischen Sozialismus hervorgerufen hat, erzeugte zunächst (wie es bei großen Krisen zu sein pflegt) eine ungeheure Verwirrung, deutete dann eine ganze Reihe neuer Gruppierungen unter den Vertretern der verschiedenen Strömungen, Schattierungen und Anschauungen innerhalb des Sozialismus an und stellte schließlich mit besonderer Schärfe und Nachdrücklichkeit die Frage: welche Veränderungen in den Grundsätzen der sozialistischen Politik aus der Krise folgen und durch sie erheischt werden. Diese drei „Stadien“ sind in der Zeit von August bis Dezember 1914 in besonders anschaulicher Weise auch von den Sozialisten Russlands durchlaufen worden. Wir alle wissen, dass zu Anfang die Verwirrung sehr groß war und dass sie durch die Verfolgungen des Zarismus, das Verhalten der „Europäer“ und die Kriegspanik noch verdoppelt wurde. Die Monate September und Oktober waren die Periode, in der in Paris und in der Schweiz – wo es die meisten Emigranten, die meisten Verbindungen mit Russland und die meiste Freiheit gab – in Diskussionen, Referaten und Zeitungen die Neugruppierung gemäß den durch den Krieg aufgerollten Fragen in größter Breite und Vollständigkeit vor sich ging. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass in keiner einzigen Strömung (und Fraktion) des russischen Sozialismus (und quasi-Sozialismus) auch nur eine einzige Schattierung der Ansichten übrig geblieben ist, die nicht ihren Ausdruck und ihre Einschätzung gefunden hätte. Alle haben das Gefühl, dass es nun Zeit ist für präzise, positive Schlussfolgerungen, die als Grundlage für systematische praktische Tätigkeit, Propaganda, Agitation, Organisation dienen können: die Lage hat sich geklärt, alle haben ihre Meinung geäußert; wollen wir uns endlich darüber klar werden, wer zu wem gehört und wohin für jeden die Reise geht

Am 23. November neuen Stils, am Tage nach der Veröffentlichung des Regierungsberichts über die Verhaftung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Fraktion in Petersburg, ereignete sich auf dem Parteitag der Schwedischen Sozialdemokratischen Partei in Stockholm ein Vorfall, der eben diese beiden von uns unterstrichenen Fragen endgültig und unwiderruflich auf die Tagesordnung setzte. Die Leser werden weiter unten die Darstellung dieses Vorfalls finden, nämlich: die vollständige, aus dem offiziellen schwedischen sozialdemokratischen Bericht gegebene Übersetzung der Reden Belenins (des Vertreters des ZK) und Larins (des Vertreters des OK.) wie auch der Debatten über die von Branting aufgeworfene Frage.

Zum ersten Male seit Kriegsausbruch begegneten sich auf einem Sozialistenkongress eines neutralen Landes ein Vertreter unserer Partei, ihres ZK, und ein Vertreter des liquidatorischen OK. Wodurch unterschied sich ihr Auftreten? Belenin nahm zu den akuten, schwierigen, dafür aber auch großen Fragen der modernen sozialistischen Bewegung eine ganz präzise Stellung ein, trat unter Berufung auf das Zentralorgan unserer Partei, den Sozialdemokrat, mit der entschiedensten Kriegserklärung an den Opportunismus auf und bezeichnete das Verhalten der deutschen sozialdemokratischen Führer (und „vieler anderer“) als Verrat. Larin nahm überhaupt keinen Standpunkt ein und überging den Kern der Sache mit Stillschweigen, – er tat sie mit jenen schablonenhaften, hohlen und faulen Phrasen ab, denen der Beifall der Opportunisten und Sozialchauvinisten aller Länder sicher ist. Dafür aber schwieg sich Belenin über unser Verhältnis zu den anderen sozialdemokratischen Parteien oder Gruppen in Russland gänzlich aus: unser Standpunkt, heißt das, ist der und der, von den andern aber wollen wir lieber schweigen und abwarten, wie sie sich entscheiden werden. Larin dagegen entrollte die Fahne der „Einigkeit“, vergoss eine Träne über die „bitteren Früchte der Spaltung in Russland“, zeichnete in üppig-grellen Farben die „Einigungsarbeit“ des OK., das Plechanow und die Kaukasier und die Bundisten und die Polen und so weiter miteinander vereinigt habe. Was Larin damit meinen konnte, davon wird noch besonders die Rede sein (siehe weiter unten die Notiz: „Was für eine Einheit proklamierte Larin?“). Zunächst interessiert uns die prinzipielle Frage der Einheit.

Wir haben zwei Losungen vor uns. Die eine: Krieg den Opportunisten und Sozialchauvinisten, sie sind Verräter. Die andere: Einheit in Russland, im Besonderen mit Plechanow (der, nebenbei bemerkt, sich bei uns ganz genau so benimmt, wie Südekum1 bei den Deutschen, Hyndman bei den Engländern usw.). Ist denn nicht klar, dass Larin, in seiner Scheu, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, dem Wesen der Sache nach für die Opportunisten und Sozialchauvinisten eintrat?

Aber prüfen wir überhaupt die Bedeutung der „Einheits“-Parole im Lichte der gegenwärtigen Ereignisse. Die Einheit des Proletariats ist seine gewaltige Waffe für die sozialistische Revolution. Aus dieser unbestreitbaren Wahrheit folgt ebenso unbestreitbar: wenn kleinbürgerliche Elemente, die den Kampf für die soziale Revolution stören können, in beträchtlicher Zahl zu der proletarischen Partei stoßen, so ist die Einheit mit solchen Elementen für die Sache des Proletariats schädlich und verhängnisvoll. Die gegenwärtigen Ereignisse haben ja gerade erwiesen, dass einerseits die objektiven Bedingungen für den imperialistischen (d. h. den dem höchsten, letzten Stadium des Kapitalismus entsprechenden) Krieg herangereift waren, und dass anderseits die Jahrzehnte der sogenannten friedlichen Epoche in allen Ländern Europas eine Unmasse von kleinbürgerlichem, opportunistischem Mist innerhalb der sozialistischen Parteien angesammelt hatten. Schon seit etwa 15 Jahren, seit der berühmten „Bernsteiniade“ in Deutschland – in vielen Ländern auch noch früher – ist das Problem dieses opportunistischen, fremden Elements in den proletarischen Parteien auf die Tagesordnung gesetzt, und es wird sich kaum ein namhafter Marxist finden, der nicht zu wiederholten Malen und bei verschiedenen Anlässen anerkannt hätte, dass die Opportunisten tatsächlich ein der sozialistischen Revolution feindliches, unproletarisches Element darstellen. Das besonders rasche Anwachsen dieses sozialen Elements in den letzten Jahren unterliegt keinem Zweifel: hierher gehören Beamte der legalen Arbeiterverbände, Parlamentarier und andere Intellektuelle, die sich in der legalen Massenbewegung bequem und ruhig eingerichtet haben, einige Schichten der bestbezahlten Arbeiter, der kleinen Angestellten usw. usw. Der Krieg hat anschaulich gezeigt, dass im Moment einer Krise (und die Epoche des Imperialismus muss unvermeidlich eine Epoche von Krisen jeder Art sein) eine beträchtliche Menge von Opportunisten, die von der Bourgeoisie unterstützt und zum Teil direkt von ihr dirigiert wird (das ist besonders wichtig!), auf ihre Seite hinüber läuft, den Sozialismus verrät, der Arbeitersache schadet, ja auf ihren Ruin hinarbeitet. In jeder Krise wird die Bourgeoisie stets den Opportunisten Hilfe leisten und – vor nichts dabei haltmachend, mit den widerrechtlichsten, grausamsten Militärmaßnahmen – den revolutionären Teil des Proletariats unterdrücken. Die Opportunisten sind bürgerliche Feinde der proletarischen Revolution, die in Friedenszeiten ihre bürgerliche Arbeit im Geheimen verrichten und sich in den Arbeiterparteien einnisten, in Krisenepochen aber sich sofort als offene Verbündete der gesamten vereinigten Bourgeoisie erweisen, – von der konservativen bis zur radikalsten und demokratischsten, von der freigeistigen bis zur religiösen und klerikalen. Wer diese Wahrheit nach den Ereignissen, die wir erleben, noch nicht begriffen hat, der übt hoffnungslosen Betrug an sich selbst und an den Arbeitern. Fälle persönlichen Überlaufens sind dabei unausbleiblich, doch darf man nicht vergessen, dass ihre Bedeutung bestimmt wird durch das Vorhandensein einer Schicht und einer Strömung kleinbürgerlicher Opportunisten. Die Sozialchauvinisten Hyndman, Vandervelde, Guesde, Plechanow, Kautsky hätten keinerlei Bedeutung, wenn ihre charakterlosen und abgeschmackten Reden zur Verteidigung des bürgerlichen Patriotismus nicht von ganzen Gesellschaftsschichten von Opportunisten und ganzen Haufen von bürgerlichen Zeitungen und bürgerlichen Politikern auf gegriffen würden.

Der Typus der sozialistischen Parteien der Epoche der II. Internationale war die Partei, die in ihrer Mitte einen Opportunismus duldete, der während der Jahrzehnte der „Friedensperiode“ immer massenhafter um sich griff, aber sein Dasein versteckt fristete, der sich den revolutionären Arbeitern anpasste, von ihnen ihre marxistische Terminologie übernahm und jeder klaren, prinzipiellen Stellungnahme aus dem Wege ging. Dieser Typus hat sich überlebt. Wenn der Krieg im Jahre 1915 enden sollte, – werden sich dann unter den Sozialisten von Verstand Leute finden, die sich im Jahre 1916 wieder an den Neuaufbau der Arbeiterparteien zusammen mit den Opportunisten machen möchten, nachdem sie aus Erfahrung wissen, dass bei der nächsten, wie auch immer gearteten Krise die Opportunisten alle ohne Ausnahme (samt allen charakterlosen und kopflos gewordenen Leuten noch dazu) auf Seiten der Bourgeoisie sein werden, die für das Verbot von Auseinandersetzungen über Klassenhass und Klassenkampf unweigerlich den geeigneten Vorwand finden wird?

In Italien war die Partei eine Ausnahme für die Epoche der II. Internationale: die Opportunisten mit Bissolati an der Spitze wurden aus der Partei entfernt. Die Resultate haben sich während der Krise als ausgezeichnet erwiesen: es war nicht mehr so, dass die Leute der verschiedenen Richtungen die Arbeiter betrogen, ihnen den Blick umnebelten mit den schönen, herrlichen Redensarten von der „Einheit“, – vielmehr ging jeder seines Wegs. Die Opportunisten (und die Überläufer aus dem Lager der Arbeiterpartei vom Schlage eines Mussolini) übten sich in Sozialchauvinismus: sie sangen (wie Plechanow) Lobeshymnen auf das „heroische Belgien“ und verdeckten damit die Politik des nicht heroischen, sondern bürgerlichen Italien, das die Ukraine und Galizien… wollte sagen Albanien, Tunis usw. usw. auszuplündern wünschte. Die Sozialisten aber betrieben im Gegensatz zu ihnen den Krieg gegen den Krieg, die Vorbereitung zum Bürgerkrieg. Wir idealisieren keineswegs die italienische Sozialistische Partei und garantieren keineswegs dafür, dass sie sich im Falle der Einmischung Italiens in den Krieg als vollkommen zuverlässig erweisen wird. Wir sprechen nicht von der Zukunft dieser Partei, wir sprechen jetzt nur von der Gegenwart. Wir konstatieren als unbestreitbar erwiesene Tatsache, dass die Arbeiter der meisten Länder Europas durch die fiktive Einheit von Opportunisten und Revolutionären betrogen worden sind, und dass Italien eine glückliche Ausnahme ist, – ein Land, in dem es zur Zeit solchen Betrug nicht gibt. Was für die II. Internationale eine glückliche Ausnahme war, muss für die III. Internationale die Regel werden und wird sie werden. Das Proletariat wird sich – solange der Kapitalismus besteht – immer in Nachbarschaft mit dem Kleinbürgertum befinden. Es wäre manchmal unklug, auf zeitweilige Bündnisse mit ihm zu verzichten, aber die Einheit mit ihm, die Einheit mit den Opportunisten können jetzt nur die Feinde des Proletariats oder die betrogenen Routiniers einer verflossenen Epoche verteidigen.

Die Einheit des proletarischen Kampfes für die sozialistische Revolution verlangt jetzt, nach dem Jahre 1914, die unbedingte Trennung der Arbeiterparteien von den Parteien der Opportunisten. Was wir aber unter Opportunisten eigentlich verstehen, das ist im Manifest des ZK klar gesagt (Nr. 33, „Der Krieg und die Russische Sozialdemokratie“).

Was sehen wir nun in Russland? Wird die Arbeiterbewegung unseres Landes Nutzen oder Schaden haben von einer Einheit zwischen Leuten, die den Chauvinismus – den à la Purischkjewitsch wie den der Kadetten – auf diese oder jene Weise, mehr oder minder konsequent bekämpfen, und Leuten, die, wie Maslow, Plechanow, Smirnow, in diesen Chauvinismus mit einstimmen? Zwischen Leuten, die gegen den Krieg arbeiten, und Leuten, die erklären, dass sie nicht gegen den Krieg arbeiten, wie z. B. die einflussreichen Autoren des „Dokuments“ (Nr. 34)? Die Beantwortung dieser Frage kann nur Menschen schwerfallen, die die Augen geschlossen halten wollen.

Man wird uns vielleicht einwenden, Martow habe ja im Golos eine Polemik mit Plechanow geführt und im Verein mit einer Reihe anderer Freunde und Anhänger des OK.2 sich mit dem Sozialchauvinismus herumgeschlagen. Wir leugnen das nicht, und in Nr. 33 des Zentralorgans haben wir Martows Auftreten geradezu begrüßt. Wir wären sehr froh, wenn man Martow nicht zum „Umschwenken“ gebracht hätte (siehe die Notiz „Martows Schwenkung“), wir hätten sehr gewünscht, dass die entschieden antichauvinistische Linie zur Linie des OK. geworden wäre. Aber es handelt sich nicht um unsere noch überhaupt um irgend wessen Wünsche. Welches sind die objektiven Tatsachen?

Erstens schweigt sich der offizielle Vertreter des OK., Larin, über den „Golos“ aus irgendeinem Grunde aus, nennt aber den Sozialchauvinisten Plechanow, nennt Axelrod, der einen Artikel (in der „Berner Tagwacht) geschrieben hat3, um darin kein einziges klares Wort zu sagen. Aber abgesehen von seiner offiziellen Stellung befindet sich Larin in nicht nur geographischer Nähe zu dem einflussreichen Kerntrupp der Liquidatoren in Russland. Nehmen wir – zweitens – die europäische Presse. In Frankreich und in Deutschland übergehen die Zeitungen den „Golos“ mit Stillschweigen, reden aber von Rubanowitsch, Plechanow und Tschcheïdse. (Das „Hamburger Echo“ – eines der am meisten chauvinistischen Organe der chauvinistischen „sozialdemokratischen“ Presse in Deutschland – nennt in der Nr. vom 12. Dezember Tschcheïdse einen Anhänger Maslows und Plechanows, was auch schon von einigen Zeitungen in Russland angedeutet wurde. Begreiflich, dass alle zielbewussten Freunde der Südekums die ideelle Unterstützung, die Plechanow den Südekums angedeihen lässt, voll einzuschätzen wissen.) In Russland haben die bürgerlichen Zeitungen in Millionen von Exemplaren die Kunde von Maslow-Plechanow-Smirnow im „Volke“ verbreitet, aber kein Wort über die Richtung des „Golos“. Drittens hat die Erfahrung der legalen Arbeiterpresse von 1912-1914 die Tatsache voll erwiesen, dass die Quelle für eine gewisse soziale Stärke der liquidatorischen Strömung und für ihren Einfluss nicht in der Arbeiterklasse zu suchen ist, sondern in der Schicht der bürgerlich-demokratischen Intelligenz, die den Grundkern der Legalitäts-Schriftsteller hervorgebracht hat. Von der national-chauvinistischen Gesinnung dieser Schicht, als Schicht, zeugt die gesamte Presse Russlands in Übereinstimmung mit den Briefen eines Petersburger Arbeiters (Nr. 33-35 des „Sozialdemokrat“)4 und dem „Dokument“ (Nr. 34). Große personelle Umgruppierungen innerhalb dieser Schicht sind sehr wohl möglich, aber es ist gänzlich unglaubhaft, dass sie, als Schicht, nicht „patriotisch“ und opportunistisch sein sollte.

Das sind die objektiven Tatsachen. Wenn wir ihnen Rechnung tragen und daran denken, dass es für alle bürgerlichen Parteien, die auf die Arbeiterschaft Einfluss haben wollen, sehr vorteilhaft ist, einen linken Flügel zur Schau stellen zu können (besonders, wenn er nicht offiziell ist), so müssen wir den Gedanken der Einheit mit dem OK als eine für die Arbeitersache schädliche Illusion betrachten.

Wenn das OK. im fernen Schweden am 23. November mit Erklärungen über die Einheit mit Plechanow auf den Plan tritt und mit Reden, die allen sozialchauvinistischen Herzen wohltun, aber in Paris und in der Schweiz weder vom 13. September (dem Tag des Erscheinens des „Golos“) bis zum 23. November noch vom 23. November bis zum heutigen Tag (23. Dezember) auch nur irgendein Lebenszeichen von sich gibt, so gleicht diese Politik des OK sehr einem Politikantentum schlimmster Sorte. Die Hoffnungen aber auf den parteioffiziellen Charakter der angekündigten „Otkliki“5 in Zürich werden wieder zunichte gemacht durch eine direkte Erklärung in der Berner Tagwacht (vom 12. Dezember6), wonach die Zeitung einen solchen Charakter nicht tragen wird … (Übrigens, in Nr. 52 des „Golos“7 erklärt die Redaktion dieses Blattes: ein weiteres Festhalten am Bruch mit den Liquidatoren wäre nunmehr schlimmster „Nationalismus“; diese Phrase, bar jeden grammatikalischen Sinnes, hat einzig den politischen Sinn, dass die Redaktion des „Golos“ der Einheit mit den Sozialchauvinisten den Vorzug gibt vor der Annäherung an Leute, die dem Sozialchauvinismus unversöhnlich gegenüberstehen. Eine schlechte Wahl traf die Redaktion des „Golos“.)

Es bleibt uns zur Vervollständigung des Bildes nur übrig, einige Worte über die sozialrevolutionäreMysl“ in Paris zu sagen, die ebenfalls die „Einheit“ anpreist, den Sozialchauvinismus ihres Parteiführers Rubanowitsch verdeckt (vgl. „Sozialdemokrat“ Nr. 34), die belgisch-französischen Opportunisten und Ministerialisten verteidigt, die patriotischen Motive der Rede Kerenskis – eines der Radikalsten unter den russischen Trudowiki – mit Schweigen übergeht und unglaublich abgedroschenes, kleinbürgerlich-triviales Zeug über die Revision des Marxismus im Geiste der Narodniki und der Opportunisten druckt. Was in der Resolution der Sommerkonferenz der SDAPR im Jahre 1913 über die Sozialrevolutionäre gesagt ist, wird durch das Verhalten der „Mysl“ voll und ganz bestätigt.

Manche russischen Sozialisten scheinen zu glauben, der Internationalismus bestehe in der zum herzlichsten Willkomm bereiten Erwartung jener Resolution über die internationale Rechtfertigung des Sozial-Nationalismus in allen Ländern, die Plechanow und Südekum, Kautsky und Hervé, Guesde und Hyndman, Vandervelde und Bissolati usw. alle miteinander in Vorbereitung haben. Wir erlauben uns der Meinung zu sein, dass der Internationalismus nur in unzweideutig internationalistischer Politik innerhalb der eigenen Partei besteht. Zusammen mit den Opportunisten und Sozialchauvinisten kann man keine wirklich internationale proletarische Politik treiben, kann man keine Gegenaktion gegen den Krieg predigen und die Kräfte hierzu sammeln. Diese bittere, aber für den Sozialisten notwendige Wahrheit mit Stillschweigen oder mit einer Handbewegung zu übergehen, wäre schädlich und verhängnisvoll für die Arbeiterbewegung.

1 Die eben bei uns eingelaufene Broschüre Plechanows „Über den Krieg“ (Paris 1914) bestätigt das im Text Gesagte besonders anschaulich. Auf diese Broschüre werden wir noch zurückkommen. [Plechanows Broschüre „Über den Krieg“, mit dem Untertitel „Antwort an den Genossen S. P.“, erschien in Paris Ende Dezember 1914.]

2 Besonders scharfe Kritik an der Haltung Plechanows übte Martow in seinem Artikel „Marx aber lasst in Ruhe“, in Nr. 35 des Golos vom 23. Oktober 1914.

3 Es handelt sich um P. Axelrods Artikel „Russland und der Krieg“ in der „Berner Tagwacht“ vom 26. und 27. Oktober 1914, Nr. 250 und 251.

4 „Briefe eines Petersburger Arbeiters“: die Korrespondenzen Schljapnikows an das ZK über die Lage in Russland.

5 Das in Aussicht gestellte Blatt „Otkliki“ („Echo“) kam nicht zustande. In Nr. 2 der „Iswestija“ des Auslands-Sekretariats des OK.“ vom 14. Juni 1915 wurde in einer Notiz erklärt, das OK. betrachte das Blatt „Nasche Slowo“ als gemeinsames Organ der internationalistischen Menschewiki und sehe von der Herausgabe einer zweiten Zeitung ab.

6 Gemeint ist die Notiz „Von der russischen Sozialdemokratie im Auslande“, erschienen in der „Berner Tagwacht“, Nr. 291 vom 12. Dezember 1914.

7 Lenin meint eine Notiz in Nr. 52 des „Golos“ vom 12. November 1914 „Zum Erscheinen des ,Sozialdemokrat'“, worin die Redaktion erklärte: „Wäre es nicht Nationalismus schlimmster Sorte, wenn man jetzt den alten, nunmehr jeden Sinnes beraubten Fraktionskampf in den Reihen der SDAPR. wieder aufleben lassen wollte?“

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