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Karl Liebknecht 19070823 Rechtsstaat und Klassenjustiz

Karl Liebknecht: Rechtsstaat und Klassenjustiz

Bericht über einen Vortrag in einer Massenversammlung in Stuttgart

[Rechtsstaat und Klassenjustiz. Vortrag, gehalten zu Stuttgart am 23. August 1907 von Dr. Karl Liebknecht, Stuttgart 1907. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 17-42]

Parteigenossen und -genossinnen! Ich muss etwas trocken beginnen. Wenn man von Klassenjustiz redet, muss man zunächst vom Staate reden. Wir Marxisten verstehen unter dem Begriff Staat nicht schlechthin eine Organisation von Menschen, die durch Abstammung, Nationalität oder gemeinsamen Wohnsitz zusammengehören. Der Staat in unserm Sinne setzt vielmehr voraus, dass innerhalb der Menschenorganisationen verschiedene Schichten bestehen, die verschiedene Interessen haben. In dem Begriff Staat ist bereits der Begriff Klassenstaat eingeschlossen.

Klassengesellschaften finden wir schon in sehr frühen Perioden der Menschheitsentwicklung. So lange haben wir auch einen Staat. Dieser Staat ist organisiert im Sinne desjenigen Teiles der Bevölkerung, der den größten Einfluss besitzt. In erster Linie gilt das demokratische Majoritätsprinzip, das die Unterordnung einer Minderheit an Zahl bedeutet. Aber die Herrschaft kann nicht allein ausgeübt werden durch die Mehrheit an Zahl, sondern auch durch die Mehrheit an äußerer Gewalt, die auch eine Minderheit stärker machen kann als die Mehrheit der Bevölkerung. Die wirtschaftliche Überlegenheit einer Minderheit der Bevölkerung kann dazu führen, dass eine Minderheit über eine Mehrheit herrscht.

Man könnte sagen, warum eignet sich die Mehrheit den Besitz der Minderheit nicht einfach an? Aber wir wissen, dass für gewisse Perioden der Geschichte es im Interesse der Fortentwicklung der Menschheit notwendig und geradezu ein Naturgesetz ist, dass eine Mehrheit von einer Minderheit regiert werde. So war auch der Kapitalismus etwas durchaus Nützliches für den Menschheitsfortschritt, nicht geschaffen durch eine teuflische Erfindung böswilliger Menschen, sondern eine Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung; und erst auf seinen Trümmern können wir weiterbauen.

Aber durch mancherlei besondere Machtmittel der Staatsgewalt sichert sich die Minderheit ihre Herrschaft: durch die Gesetzgebung, die Schule, die Kirche, die Polizei, die Justiz und den Militarismus.

Wenn wir die letzte Epoche unserer westeuropäischen Geschichte ins Auge fassen, so sehen wir, dass bei Auflösung des feudalen und absolutistischen Staats ein Kampf ausbricht, wie er sich zur Zeit noch in Russland abspielt. Der Absolutismus kennt an und für sich nur den Willen des Herrschers, der natürlich tatsächlich bestimmten Einflüssen unterliegt. Das ist der Polizeistaat im eigentlichsten Sinne, in dem auch die richterliche Gewalt von demselben einen Willen ausgeübt wird, der die anderen Machtmittel, zum Beispiel die Polizeigewalt, handhabt. Polizei und Justiz sind eins.

Bei den modernen Verfassungskämpfen steht der Kampf um die „Trennung der Gewalten", das heißt vor allem der gesetzgebenden, der exekutiven und der richterlichen Gewalt, im Vordergrund. Neben dem Kampf um die gesetzgebende Gewalt, um die Schaffung eines Parlamentes, wird der Kampf geführt um die Änderung des Verhältnisses zwischen Justiz und Verwaltung (Exekutive), um die Trennung dieser beiden Funktionen und um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive. Die Verwaltung, die Polizei bleiben der Regierung als ein unmittelbares Machtmittel zugestanden, das sie befähigt, im geeigneten Augenblick auf manchen Gebieten zu dekretieren, was sie für gut befindet.

Bei der unabhängigen richterlichen Gewalt liegt es ganz anders. In ihr steigert sich der Staat in gewissem Sinne über sich selbst hinaus. Sie ist die sublimste Funktion des Staates, weil sich der Staat selbst, und zwar auch seine gesetzgebende Gewalt, dieser von ihm geschaffenen Gewalt unterordnet. So soll es wenigstens sein. In Amerika ist ein Gesetz, das der höchste Gerichtshof für ungültig erklärt, damit einfach beseitigt. Der Richter steht in gewissem Umfange über dem Staate selbst. Dieser erhabenen Funktion des Richters entsprach es, dass in früheren Kulturperioden der Richterstand geradezu geheiligt, mit einer ganz besonderen Unverletzlichkeit umgeben war. Die alten Römer kannten neben dem Recht, das durch den Gesetzgeber erzeugt wurde, ein Recht, das die Richter durch ihre Urteile schufen. Und tatsächlich bestimmen zu allen Zeiten die Richter durch ihre Interpretation bei Anwendung der Gesetze erst praktisch deren Inhalt und vermögen daher in weitem Umfange, die formalen Bedingungen, unter denen die Völker leben, fortzubilden oder zurückzubilden. In diesem Sinne übt der Richter eine Art gesetzgebender Funktion aus wie nicht minder die Polizei auf dem Gebiet ihrer Zuständigkeit. Sie sehen daraus, wie unendlich wichtig der Kampf um die Unabhängigkeit der Justiz ist.

Daneben aber geht der Kampf darum, die Polizeiverwaltung, die ganze Exekutive, ja selbst die Regierung, die Minister in ihrer Amtsführung einer Kontrolle durch unabhängige Richter, durch eine sogenannte Verwaltungsgerichtsbarkeit, durch Staatsgerichtshöfe (für die verantwortlichen Minister usw.), wofür die Parlamente selbst in Frage kommen, zu unterwerfen. Ein Staat, in dem all dies erzielt ist, wird als Rechtsstaat bezeichnet.

Wie steht es nun aber bei uns in Deutschland mit dem Rechtsstaat? Bei näherem Zusehen finden wir, dass wir nur zu kratzen brauchen, und schon schaut noch an allen Ecken und Enden der Polizeistaat heraus. (Heiterkeit.) Wir haben nur einen schlechten Firnis von Rechtsstaat, der über den Polizeistaat gestrichen wurde und noch dazu nur über einige Teile des Polizeistaats.

Von Ministerverantwortlichkeit, die einem Staatsgerichtshofe unterworfen wäre, ist im Deutschen Reiche keine Spur. Alle unsere Versuche, hier etwas zu schaffen, sind missglückt, und auch in den deutschen Einzelstaaten ist fast nichts in dieser Hinsicht vorhanden, am wenigsten natürlich in Preußen und Sachsen. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit existiert freilich in den deutschen Einzelstaaten zumeist, sie ist aber auch danach. Das werde ich an anderer Stelle zeigen.

Und was besonders wichtig ist, in einem Staate wie Preußen zum Beispiel ist der richterlichen Gewalt selbst die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze einfach vorenthalten, das ist geradewegs eine Kastration der Justiz.

Aber auch hiervon abgesehen, leben wir mindestens noch zu drei Vierteln, wenn nicht zu neun Zehnteln, im Polizeistaat. Wenn wir das hier und da nicht so empfinden, so ist dies auf unsere mangelnde Empfindlichkeit zurückzuführen. Wir sind eben gar so polizeimäßig erzogen. (Heiterkeit.) Wenn wir irgendein kleines Zugeständnis erhalten, das wie eine Freiheit aussieht, dann triumphieren wir. Wir sind beglückt wie über ein Gnadengeschenk, wenn uns erlaubt wird, worüber man anderwärts gar nicht spricht. Wir sind dankbar für das kleinste bisschen Bewegungsfreiheit, das man uns gewährt. Denn wir empfinden die Unfreiheit, die Bevormundung als den Normalzustand. Wir können nur mit großer Mühe erkennen, wie oft der Polizeistaat noch in unseren Rechtsstaat hineingreift, weil wir durch die Gewöhnung abgestumpft sind. Das ganze Schulwesen, das Polizeiwesen, das Wohnungswesen und das – Ausweisungswesen (Große Heiterkeit.) unterliegen neben vielem anderen fast ausschließlich polizeilicher Disposition. Gegen die Ausweisung unseres Genossen Quelch1 gibt es kein nennenswertes Rechtsmittel. Wir sind gezwungen, ja und amen zu sagen. Wir sind freilich noch gar so geduldig in Deutschland und sogar auch noch in Württemberg. Ich hatte gedacht, wenigstens die Bevölkerung Stuttgarts würde lebendig werden ob der Behandlung, die unserem Freund Quelch, diesem „Schnorrer und Verschwörer" englischer Nation, zuteil geworden ist. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus, dass es nicht geschehen ist. Vielleicht war es ganz klug und verständig. Aber es zeigt doch, welche Rhinozeroshaut wir alle in dieser Beziehung noch haben. (Große Heiterkeit.) In England oder Frankreich wäre diese stumme Resignation unmöglich gewesen. Es ist ganz gut, dass wir auf diesem Kongress einmal das Temperament unserer französischen Genossen studieren können.

Im preußischen Landrecht sind die Funktionen der Polizei etwa folgendermaßen umschrieben: „Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und die Abwendung aller dem Publico oder einem seiner Mitglieder drohenden Gefahren, das ist das Amt der Polizei." Dazu gehört alles, was vorkommen kann. (Heiterkeit.) Die Polizei ist die alles umfassende, die alles umspannende Behörde. Soweit nicht im Gesetz ausdrücklich vorgeschrieben ist, dass die richterliche Gewalt zuständig ist, herrscht die Polizei. Nur der ziemlich spärliche Rest bleibt der Justiz. So weit sind wir auf dem Boden des feudal-absolutistischen Polizeistaates stehengeblieben. Das führt selbstverständlich dazu, dass, wie besonders bei uns in Preußen, die Polizei allwissend ist. (Große Heiterkeit.) In der preußischen Polizei hat sich das Ideal der Allwissenheit auf Erden verwirklicht. Handelt es sich nun um Zeugenaussagen von Polizeibeamten oder um Abgabe von Gutachten, über die sich selbst Gelehrte und Professoren den Kopf zerbrechen, auch die Richter beugen sich gar häufig vor der höheren Weisheit polizeilicher Aussagen. (Heiterkeit.)

Diese Allwissenheit der Polizei, die unsere ganze Rechtspflege charakterisiert, muss von uns nolens volens ehrfurchtsvoll anerkannt werden. Es ist bei uns nur allzu berechtigt, von „Seiner Majestät dem Schutzmann" zu sprechen. (Große Heiterkeit.)

In Cottbus hat man vor einiger Zeit eine Polizeischule errichtet, weil anscheinend doch einige Zweifel an jener Allwissenheit laut geworden waren. (Heiterkeit.) In ein paar Monaten, glaube ich, soll der Schutzmann dort alles lernen, was er braucht. Ich sage Ihnen, keine Universität der Welt bietet ein reichhaltigeres Pensum als diese Polizeischule. Alle Professoren Deutschlands zusammengenommen können nicht mehr wissen, als ein preußischer Polizeibeamter dort „lernt".

Die „Polizei" hat in Preußen einen ganz außerordentlichen Einfluss auf die faktische Gestaltung des Vereinsrechts ausgeübt. Frauen, jugendliche Arbeiter, Lehrlinge usw. dürfen bei uns bekanntlich an den Versammlungen und Sitzungen politischer Vereine nicht teilnehmen. Nun gewannen aber mit der Zeit auch die bürgerlichen Parteien ein größeres Interesse an der Teilnahme der Frauen am politischen Leben. So wohnte den bekannten Zirkusversammlungen des hochpolitischen Bundes der Landwirte ein bunter Flor zahlreicher Damen ungestört bei. Das machte etwas Skandal.

Nun veranstaltete ein sozialdemokratischer Verein eine Tanzlustbarkeit, und da das Tanzen, fast solange die Welt steht, die Mitwirkung von Frauen voraussetzt (Stürmische Heiterkeit.), so sollten selbstverständlich auch an dieser Veranstaltung Frauen teilnehmen. Aber auch dieses Naturrecht wurde den Sozialdemokraten entzogen, da das Tanzvergnügen – die „Sitzung" eines politischen Vereins sei! (Heiterkeit.) Die Teilnahme von Frauen wurde einfach verboten. Wahrscheinlich glaubte die hohe Polizei, die Frauen würden sozialdemokratische Kriegstänze tanzen. (Große Heiterkeit.) Es gelang zwar, das Kammergericht zu einer vernünftigeren Ansicht zu bringen, aber die Polizei und das Oberverwaltungsgericht verharrten auf ihrer Ansicht, dass Tanzen eine Sitzung sei. Die ganze Sache fiel tödlicher Lächerlichkeit anheim. Da „rettete" das Ministerium des Innern die Situation. Auf einen von mir gestellten Antrag suchte es einen Ausgleich: Es wies die Polizeiorgane an, die Teilnahme von Frauen an den Versammlungen und Sitzungen politischer Vereine zu gestatten, sofern die Frauen in getrennten Abteilungen des Raumes untergebracht würden. (Große Heiterkeit.) Gerade wie in der Synagoge. (Stürmische Heiterkeit.) Das ist der berühmte „Segmenterlass"2. So war praktisch eine beträchtliche Ausweitung des Vereinsrechts erreicht. Dazu hatte das Ministerium aber gar kein Recht. Nur die Gesetzgebung wäre zuständig gewesen. Man will aber die Waffe des reaktionären Gesetzes nicht ganz aus der Hand geben, um im Notfall darauf zurückgreifen zu können.

Jenes bisschen Mehr an Freiheit haben wir nur errungen, weil die bürgerlichen Parteien diese Freiheit selbst nicht mehr entbehren können; nicht mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Proletariats, sondern mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der herrschenden Klassen. Das ist der kapitalistische Polizeistaat.

Nun weiter: Die Polizei greift auch an allen Ecken und Enden in die Rechtspflege entscheidend ein. Ich erinnere Sie an das Delikt des Widerstands gegen die Staatsgewalt. Die Rechtsprechung hierüber liegt zum überwiegenden Teil in den Händen der Polizei. Die Gerichte weisen es ab, in die allmächtige Polizeigewalt einzugreifen, und wagen es nur in ganz beschränktem Umfang, die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung nachzuprüfen, mag diese Ausübung noch so brutal und ungerecht sein. Es genügt allenthalben, wenn nur rein äußerlich und formell die Polizei innerhalb ihrer Zuständigkeit gehandelt hat. Die Polizei ist in den Augen unserer Gerichte meist unantastbar und heilig.

Der Redner führt unter lebhaften Pfuirufen einen Fall aus seiner Praxis an, der dies drastisch illustriert, und zeigt, wie lächerlich gering die Polizei, unter der Billigung der Gerichte, die persönliche Freiheit der Staatsbürger einschätzt.

Die öffentlichen Versammlungen unterstehen in Preußen und fast überall in Deutschland der polizeilichen Kontrolle und Überwachung. In Sachsen ist es noch schlimmer. Wenn ich hier in Sachsen spräche, würde mir jetzt gewiss ein Polizeibeamter zugerufen haben: „Mäßigen Sie sich!" (Stürmische Heiterkeit.) In Sachsen darf der Polizeibeamte dem Redner auch das Wort entziehen, in Sachsen, Preußen und andernorts auch die Versammlung auflösen.

Was ist die Folge, wenn letzteres eintritt? Wenn die Auflösung noch so ungerechtfertigt ist, wenn sie eine noch so deutliche Verletzung des Versammlungsrechtes darstellt, jeder Anwesende hat sofort den Saal zu verlassen. Wenn er zögert, verfällt er einer empfindlichen Strafe. Und wenn der Richter darüber zu befinden hat, so hat er nicht das Recht, die Berechtigung der Auflösung nachzuprüfen. Die Auflösungsbefugnis gehört zur Zuständigkeit der Polizei und damit basta! Die Order des Schutzmanns ist für unser Gericht wie das Amen in der Kirche. Und das von Rechts wegen.

Eine ungeheure Gefahr droht dem Gewerkschaftskampf durch die Allmacht der Polizei. Das Streikpostenstehen ist der Kern, das Rückgrat des Koalitionsrechts. Es ist erst das Mittel, das Koalitionsrecht in die Wirklichkeit umzusetzen. Gerade deshalb ist es freilich den Unternehmern besonders unangenehm und verhasst. Da man es an und für sich aber nicht einfach polizeilich verbieten kann, so greift die Polizei, die den Unternehmern natürlich mit Begeisterung zur Seite steht, zu anderen Mitteln.

Allenthalben, wohl auch in Württemberg, bestehen Polizeivorschriften, nach denen die Polizeibeamten Leute, die sich auf der Straße aufhalten, „im Interesse der Sicherheit oder Bequemlichkeit des Verkehrs und der Aufrechterhaltung der Ordnung" fort weisen dürfen. Der Beamte sagt nun einfach zu dem Streikposten: „Verlassen Sie diese Straße!" Geht der Betreffende nicht weg, heißt's: Kusch in Nummer Sicher!3

In der Frage, inwieweit es der richterlichen Nachprüfung unterliegt, ob die Anordnung wirklich im Interesse der Ordnung und Sicherheit getroffen wurde, haben wir in Preußen ein wahres Martyrium durchgemacht. Alle von der Polizei aufgebrannten Strafen wurden ursprünglich, und zwar jahrelang, von den Gerichten aufgehoben, weil es ganz offenbar war, dass das Streikpostenstehen weder die Ordnung noch den Verkehr gestört oder bedroht hatte. Selbst die Kosten der Verteidigung wurden nicht selten der Staatskasse auferlegt. Damit war aber die Staatsanwaltschaft, hinter der die Polizei stand, nicht zufrieden. Sie begann Sturm zu laufen gegen das Kammergericht, und zwar mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Und mit Erfolg. Das Kammergericht wich nach und nach Schritt für Schritt zurück und gelangte schließlich zu dem Satze: Der Schutzmann sei zu seiner Anordnung berechtigt, wenn er nur glaube, dass sie im Interesse der Ordnung oder des Verkehrs zweckmäßig sei. (Heiterkeit.) Nun weiß doch aber keiner, was so ein Mann glaubt. (Erneute Heiterkeit.) Ich kann doch nicht in sein Herz hineinschauen. Wenn der Schutzmann zu mir sagt: „Machen Sie, dass Sie wegkommen", und wenn ich ihn dann frage, was er denn eigentlich „glaubt", dann wird das gar leicht als Beleidigung aufgefasst werden. Bestenfalls erhalte ich die Antwort: „Was geht Sie an, was ich glaube!" (Große Heiterkeit.) Also, entweder glaube ich, dass der Schutzmann den richtigen „Glauben" hat, und leiste ihm Folge, das heißt, ich gebe das Postenstehen einfach auf, oder ich leiste ihm keine Folge, weil ich an seinen „Glauben" nicht glaube, dann riskiere ich Verhaftung und Bestrafung. Jedenfalls tappe ich im Dunkeln; das Streikpostenstehen hat sein Ende erreicht und die Polizei ihr Ziel. Ist das nicht geradezu eine Beleidigung für ein „freies Volk" ?

Diese Praxis hat in Preußen jahrelang bestanden. Erst neuerdings hat sich das Kammergericht eine kleine Konzession zurück handeln lassen. Man sagt jetzt, der Beamte muss eine gewisse Unterlage für seine Furcht, seinen „Glauben", gehabt haben. Der im Dienste des Unternehmers eifrig tätigen Polizei fehlt es an solchen Unterlagen selbstverständlich nie. Das bloße Ansprechen von Arbeitswilligen, also das Minimum der Streikpostentätigkeit, wird als „Belästigung" bezeichnet und zum Anlass des Einschreitens genommen. Der Verkehr mit den Arbeitswilligen wird gänzlich verhindert und damit das Streikpostenstehen illusorisch gemacht. Der Redner führt unter Beifall und Heiterkeit Fälle aus seiner Praxis an, die dieses Vorgehen illustrieren.

Das sind keine Märchen und lustigen Geschichten. Was ich Ihnen da erzähle, das ist die Wahrheit und Wirklichkeit der preußischen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts.

Der bürgerliche Rechtsstaat sorgt auch für einen gewissen Schutz gegenüber der Polizeiwillkür durch die Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Sie ja auch in Württemberg haben. Sie ist aber eine sehr sonderbare Gerichtsbarkeit. Die Richter sind sozusagen unabhängig. Sie fühlen sich aber gar oft allzu sehr als Vollstrecker der Staatsgewalt. Wie wird Beweis erhoben? In unseren Zivil- und Strafprozessen müssen alle Zeugen eidlich vernommen werden. Was in irgendwelchen Akten steht, darf der Richter nach dem Gesetz nicht berücksichtigen. Im Verwaltungsprozess aber taucht in der Hand des Referenten regelmäßig ein Aktenstück auf, in dem sich Berichte der Polizeibeamten usw. befinden. Das wird vorgelesen, und alles gilt als vollgültige Wahrheit! Obwohl die Polizei auch noch Prozessgegnerin ist! Damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet und jede Garantie beseitigt. Jedes Gefühl der Sicherheit als Staatsbürger muss schwinden.

Der Redner verweist auf die Prozesse, die in der Angelegenheit der Königsberger Jugendorganisation4 geführt wurden.

Damals verlangte das Gericht von mir zuerst, ich solle beweisen, dass der Verein sich nicht mit politischen Sachen beschäftige, während es doch sonst Rechtsgrundsatz ist, dass der Kläger den Nachweis für die Tat zu liefern hat. Als ich dann aber diesen Beweis antrat, erklärte der Gerichtshof einfach: „Zu einer weiteren Beweiserhebung lag kein Anlass vor." Damit war eines der grundlegendsten verfassungsmäßigen Rechte zahlreicher preußischer Staatsbürger in Grund und Boden hinein geritten Man ist wehrlos in solchen Fällen, denn es gibt keine Instanz, die über einem solchen Gerichtshof stünde. Die Garantien, die diese Verwaltungsgerichtsbarkeit bieten soll, stehen auf so schwachen Füßen, dass man sie fast entbehren kann. Wir können sie höchstens begrüßen, insofern sie uns wertvolles Agitationsmaterial liefert. („Sehr richtig!") In Württemberg mag es in dieser Beziehung etwas besser sein.

Wie steht es aber mit dem Viertel oder Zehntel unserer Zustände, die wir als rechtsstaatlich bezeichnen könnten? Wobei von dem besonderen Kapitel der Militärjustiz hier natürlich abzusehen ist! Sind da gehörige Garantien geschaffen?

Zunächst die „Unabhängigkeit des Richterstandes"! Wenn der Richter über dem Staate stehen soll, dann muss er natürlich „unabhängig" sein. Haben wir aber diese Unabhängigkeit? Prüfen wir zunächst die äußere Unabhängigkeit. Der Richter ist, heißt es, „unabsetzbar". Durch Gesetz ist aber geregelt, wie und unter welchen Umständen er abgesetzt werden kann. Das genügt gerade! Es ist durch Gesetz ja auch eben nur geregelt, wie man wegen Hochverrats verurteilt werden kann. (Heiterkeit.) Dann kann man eben auch verurteilt werden. Wenn im Gesetz geregelt ist, wie der Richter abgesetzt werden kann, dann ist eben der Weg zur Absetzung gewiesen. Auch hat niemand bei uns ein Recht darauf, angestellt zu werden. Ich hab's ja erlebt! Der Rechtsanwalt muss bekanntlich, ebenso wie der Richter, zuvor Referendar sein. Ich hatte mich nach Erledigung meiner Staatsprüfung bei zwei Oberlandesgerichten gemeldet. Sie haben mich unter allerhand Vorwänden einfach abgelehnt. Schon hatte ich mir vorgenommen, meiner juristischen Laufbahn Valet zu sagen, als mich schließlich der frühere Kultusminister von Falk, Oberlandesgerichtspräsident in Hamm, in einem kleinen Winkel Westfalens als Referendar annahm.

Sie kennen auch die Geschichte des Assessorenparagraphen. Der Assessor hat das Recht, Assessor zu sein, aber durchaus kein Recht, etwa Richter zu werden. Wenn ein Assessor politisch verdächtig ist, kann er so alt werden wie Methusalem, er bleibt immer Assessor. (Heiterkeit.)

Und was hat's mit der Unabhängigkeit auf sich, wenn man Richter geworden ist? Der Richter will doch nicht immer auf der untersten Stufe bleiben. Er will doch auch ein bisschen befördert werden, womit nebenher ein Zuwachs an Gehalt verbunden ist. Das ist nicht ohne Weiteres erreichbar. Der zu befördernde Richter muss von seinen Vorgesetzten empfohlen werden. Welcher Vorgesetzte aber wird seiner vorgesetzten Behörde zum Beispiel einen Sozialdemokraten vorschlagen, damit er Landgerichtsdirektor wird? (Große Heiterkeit.) Wer befördert werden will – und das möchten doch alle –, für den ist's gut, fein stille zu sein, nicht unabhängig, sondern recht abhängig zu sein. (Heiterkeit.)

Man kann auch versetzt, man kann kaltgestellt werden. (Heiterkeit.) Diese Fälle gibt's bekanntlich in Hülle und Fülle. Bei Richtern, die die Ungeheuerlichkeit begangen haben, freiheitliche Urteile zu fällen, und dafür vielleicht von der Sozialdemokratie gelobt wurden, haben wir fast regelmäßig sehen können, wie sie nach einiger Zeit irgendwo in einer dunklen Versenkung verschwunden waren. (Lebhafte Pfuirufe.) Man denke nur an die Landgerichtsdirektoren Schmidt und Denso und den Kammergerichtsrat Havenstein. Der letztere hatte daran mitgewirkt, dass vom Kammergericht einige erträgliche Urteile gefällt wurden. Er hatte sich in gewissem Umfang auch das Vertrauen der Arbeiter erworben. Doch es dauerte nicht lange, und fort war er. (Stürmische Pfuirufe.)

Wir haben freilich auch andere Fälle von Versetzung. Vielleicht entsinnen Sie sich noch des schönen Plötzenseeprozesses, in dem ich 500 Mark Ordnungsstrafe erhielt. (Heiterkeit.) Damals spielte der Landgerichtsdirektor Oppermann eine besondere Rolle. Sie kennen ja den Namen Oppermann. (Große Heiterkeit.) Wo immer man den Namen Brausewetter nennt, da muss auch der Name Oppermann genannt werden. Oppermann hatte nicht nur mit mir Konflikte. Dieser Mann ist auch gemaßregelt worden, aber er ist hinauf gemaßregelt worden. Reichsgerichtsrat ist er geworden, und beinahe hätte er in meinem Hochverratsprozess mit zu judizieren gehabt. (Lebhafte Zurufe.) So geht es, Parteigenossen.

Schließlich haben wir noch die Disziplinierung, deren stärkstes Mittel die Amtsentsetzung bildet. Voraussetzung der Disziplinierung ist, dass sich der Beamte der Achtung und des Ansehens, die sein Amt erfordert, unwürdig gezeigt hat. Was das heißt, zeigt die Lex Arons5. In Preußen kann nicht einmal ein Schulkommissionsmitglied Sozialdemokrat sein, ja, wie jüngst selbst unser Kultusministerium entschieden hat, ein Sozialdemokrat darf nicht einmal Turnunterricht erteilen! Und denken Sie schließlich an das Schicksal jenes Wiesbadener Eisenbahnkassenarztes, der in der Stichwahl sozialdemokratisch gestimmt hatte, und an den Fall Schaufele aus dem nachbarlichen Musterländle! Selbst den Anwälten, welche nicht einmal Beamte sind, geht man ja aus politischen Gründen an den Kragen; Beweis: der Fall Stadthagen. Nach wohlbegründeter und verbreiteter Meinung zielt ja auch die ganze Hochverratskampagne gegen mich in letzter Linie darauf ab, mir die Anwaltschaft zu nehmen. („Hört! Hört!" „Pfui!") Für mich liegt es außer Zweifel, dass dieser Hintergedanke besteht. Wenn man schon gegen Anwälte so vorgeht, wer wäre so naiv zu glauben, man würde einen Sozialdemokraten oder etwas Ähnliches als Richter dulden? Ein Sozialdemokrat hat sich in den Augen der Regierung schon von vornherein der Achtung unwürdig gemacht, die das Richteramt erfordert. Sollte je ein Richter Sozialdemokrat werden, Sie können versichert sein, es dauert keine 48 Stunden, und er ist „unschädlich". Ein Sozialdemokrat sollte Richter, königlicher Beamter sein können? Das sei ferne von uns. Jedem deutschen Minister stehen die Haare zu Berge, wenn er nur auf Meilenweite an etwas Derartiges denkt. Was aber die Amtsentsetzung für einen Richter bedeutet, dass sie eine gänzliche Vernichtung seiner Existenz, ein böses Schreckgespenst, darstellt, liegt auf der Hand.

Und schließlich die Krönung des Gebäudes der Unabhängigkeit: Fast alle unsere Richter sind mehr oder weniger Reserveoffiziere und damit der militärischen Disziplin, Kontrolle und Reglementierung in weitem Umfange unterworfen! Der volksfeindlichste Despot Militarismus schwingt sein Zepter auch über die „unabhängige" bürgerliche Justiz.

So darf ich mich dahin zusammenfassen: Bei dem gelehrten Richter ist auch die äußere, formale Unabhängigkeit nur solange garantiert, solange er einen „vernünftigen Gebrauch" davon macht. Es liegt ganz ähnlich wie mit dem deutschen Reichsbürger und dem Reichstagswahlrecht. (Heiterkeit.) Von der äußeren Unabhängigkeit bleibt also bei näherem Zusehen fast nichts übrig.

Noch schlimmer liegt's aber mit der inneren Unabhängigkeit der Richter. Man hat einen wahren Stacheldraht um das Richteramt gezogen. Zunächst durch die lange Ausbildungszeit, die zumeist erst mit dem 27. Lebensjahr abgeschlossen ist, dann durch die lange unbesoldete Wartezeit der Assessoren. Wir verkennen auch nicht, dass die Gehälter unserer Richter durchaus nicht hoch sind. Viele Angehörige selbst der minderbemittelten bürgerlichen Kreise, die eher imstande wären, unabhängig zu urteilen, werden damit vom Richteramt abgewehrt. So ist es Tatsache, dass zum Richteramt kaum andere Elemente gelangen als Angehörige der wohlhabenden Schichten, und was das bedeutet, brauche ich nicht näher auseinanderzusetzen. Wir kennen den Charakter unserer Gesellschaft als den einer Klassengesellschaft. Wir wissen, dass die Besitzenden die Herrschaft ausüben, dass sie die Oligarchie bilden, die die Staatsgewalt in ihren Händen hält, und wir wissen, dass die herrschenden Klassen diejenigen sind, deren Rechte durch die proletarische Klasse bedroht sind. Damit kommen wir zu einem besonders abgegrenzten Gebiet unserer Justiz.

Allerdings finden wir zahlreiche Missstände auch bei der Aburteilung bürgerlicher Personen. Unsere Strafprozessordnung taugt eben nichts. Man braucht nur an die Superiorität der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Angeklagten und der Verteidigung zu erinnern, die unserer Justiz einen besonderen Stempel aufdrückt. Die inquisitorische Stellung des Vorsitzenden, das geheime Vorverfahren, das Institut des Untersuchungsrichters, die Regelung der Untersuchungshaft – all das sind schwerwiegende Mängel des reichsdeutschen Prozesses, die an und für sich geeignet sind, den Angeklagten rein als Angeklagten zu brutalisieren. („Sehr richtig!") Auch das ist ein Stück Staatsräson!

Wenn es sich nun aber um Personen und Dinge aus einer anderen, dem Richter fremden Lebens- und Interessensphäre handelt, liegt die Sache natürlich ganz besonders und viel ernster. Die Richter sind dann einfach in der Regel nicht imstande, ordnungsgemäß zu urteilen. Wenn es sich gar um politisch und gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und ihre Interessen handelt, so stehen einer ruhigen und objektiven Betrachtung die schwersten Hindernisse im Wege. Der Richter versteht alles natürlich vom Standpunkt seiner besonderen Klasse. Nicht einmal von den äußeren Lebensgewohnheiten der anderen Klasse hat er ja in 99 Prozent der Fälle eine klare Vorstellung. Selbst ihre Redeweise ist ihm fremd. Wir erleben es oft genug, dass, wenn jemand aus dem Volke vor Gericht redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, der Richter das als Unverschämtheit betrachtet, dass er Ordnungsstrafen androht und schließlich verhängt. Der Richter weiß es nicht besser, weil er der Eigenart solcher Leute verständnislos gegenübersteht.

Nun haben wir aber auch Laienrichter. Auch das ist ein besonderes Kapitel. Bis vor kurzem wurden in Deutschland die Proletarier fast grundsätzlich vom Amte der Schöffen oder Geschworenen ausgeschlossen. Unsere Gerichtsverfassung gibt hier nicht umsonst die Möglichkeit, siebenmal zu sieben. Und das geschieht bei den Geschworenen noch viel mehr als bei den Schöffen. Arbeiter nimmt man nicht. Besonders bei den Geschworenen ist das ganz und gar ausgeschlossen. Dazu wählt man nur die „Elite". So kommt es, dass es um die Schwur- und Schöffengerichte kein Titelchen besser steht als um die Gelehrtengerichte. Die Schöffen und Geschworenen sind eben auch Angehörige der besitzenden Klassen. Der Laienrichter, der die Gesetzesbestimmungen meist nicht hinreichend kennt, um sich durch sie gebunden zu fühlen, steht dem Angeklagten oft noch in brutalerem, urwüchsigerem Klassenegoismus gegenüber als der gelehrte Richter. Dass die Laiengerichte um keinen Deut besser sind als die gelehrten Gerichte, zeigt sich darin, dass die grausamsten Urteile, die bisher gegen Arbeiter gefällt worden sind, das Löbtauer6 und das Kösliner Urteil, wenigstens zu drei Vierteln Produkte der Geschworenengerichte sind.

In neuerer Zeit macht sich eine Bewegung dafür geltend, auch Angehörige der Arbeiterklasse zu den Laiengerichten hinzuzuziehen. Mancher mag sagen: „Seht ihr, das ist der ,demokratische Geist' unserer Zeit." O nein! So verhält sich die Sache gar nicht. Keine Spur von demokratischem Geist! Die Geldfrage ist es allein, die unsere herrschenden Klassen zum Nachgeben veranlasst. Die nüchterne Wahrheit ist, dass man die Laienjustiz verbilligen will und dass es an den genügenden Kräften fehlt. Die Besitzenden murren dagegen, diesen Dienst allein zu leisten. Man will auch diese staatsbürgerliche Last mehr auf die Schultern der breiten Massen legen. Das ist des Pudels Kern. Des Pudels Kern ist in der Regel ein Mephisto mit dem Pferdefuß. Aber es ist keine Rede davon, dass etwa Angehörige der proletarischen Klasse in den Laiengerichten das Übergewicht bekommen könnten. Es wird auch fernerhin gesiebt werden; nur als Lückenbüßer sind die Proletarier gerade noch gut genug.

So sehr wir grundsätzlich Anhänger der Geschworenengerichte und überhaupt der Mitwirkung von Laien bei der Rechtsprechung sind, so müssen wir doch konstatieren, dass die Laiengerichte in ihrer heutigen Zusammensetzung nicht minder Klassengerichte sind als die Gelehrtengerichte.

Auf dem Fundament der Klassengerichte aber baut sich die Klassenjustiz auf. Wie offenbart sich die Klassenjustiz?

Wir haben einen Staat, dessen Regierungsgewalt sich in den Händen der besitzenden Klassen befindet. Der Gerichtshof ist von diesem Staat in höchstem Maße abhängig und setzt sich aus Gelehrten- und Laienrichtern zusammen, die den besitzenden Klassen angehören. Nehmen wir an, es handelt sich bei der Verhandlung um einen Landfriedensbruch, um Aufruhr, Auflauf, Hochverrat. (Heiterkeit.) Natürlich haben die Richter das persönliche Gefühl, der Staat sei in Gefahr, und das instinktive Streben, der Staat müsse gerettet werden. Dieser Seelenzustand macht sie befangen und unfähig, die Sache mit voller Ruhe, Klarheit und Objektivität zu betrachten.

Der Redner erinnert an die Landfriedensbruchprozesse der letzten Jahre und insbesondere an Löbtau und Köslin.

Diese und die Essener7 und Güstrower Meineidsprozesse sind bislang im neuen Deutschland die grausamsten Fälle. Hier summieren sich im Richter Gründe der politischen Staatsräson und die Klassensolidarität mit dem Unternehmertum.

Wichtig und interessant ist der Paragraph 153 der Gewerbeordnung8. Er ist an sich sehr hart, denn er kennt überhaupt nur Gefängnisstrafe. Wegen des kleinsten und harmlosesten Wortes kann nicht auf Geldstrafe erkannt werden! Diese Härte hat natürlich ihren zureichenden Grund darin, dass sich der Paragraph 153 der Gewerbeordnung rein auf den Schutz des Unternehmertums und der Arbeitswilligen bezieht, also sozusagen ein destilliertes Klassengesetz ist. Bei den größten Raufereien und Rohheiten, sogar bei sittlichen Exzessen ist es möglich und häufig genug, dass auf Geldstrafe erkannt wird. Aber nach Paragraph 153 muss der Übeltäter ins Loch wandern. Sagt ein Streikposten zu einem Arbeitswilligen: „Bester Freund, du gehörst unserem Verbande an, wie kannst du hier arbeiten?" und der Arbeitswillige erwidert grob: „Was geht es dich an?" und der Streikposten bemerkt nun in einer Aufwallung des Ärgers: „Schämst du dich denn nicht?" Wissen Sie, was dann dem Streikposten blüht? Vierzehn Tage Gefängnis, Parteigenossen! (Stürmische Pfuirufe.) Das ist buchstäblich ein Fall aus meiner Praxis.

Im Zeichen der Heiligsprechung und Anbetung des Streikbrechers steht unsere kapitalistische Justiz. Ein Ekel will einen angesichts dieses Streikbrecherkultes oftmals überkommen. Das Wort Terrorismus muss in alle Urteile hinein, in denen es sich um Streikvergehen irgendwelcher Art handelt. Das Wort gehört zum eisernen Bestand unserer Justiz. Wie oft proklamieren die Gerichte, dem Terrorismus der organisierten Arbeiter muss ein Ende gemacht werden; es ist „Pflicht des Staates", die Arbeitswilligen zu schützen.

Ich führte beim Kammergericht aus, wenn es Pflicht des Staates sei, den Arbeitswilligen zu schützen, dann müsse das doch irgendwo in den Gesetzen niedergelegt sein. Das sei aber nicht der Fall; die Gesetze, insbesondere die Verfassung, zeigen vielmehr die Rechtswidrigkeit eines solchen besonderen Schutzes. Das Kammergericht erklärte aber einfach, es sei eben doch wenigstens eine moralische Pflicht des Staates, den Streikbrecher besonders; zu schützen, und damit fertig.

Zu den Vergehen wegen angeblicher Nötigung und Beleidigung von Arbeitswilligen kommt noch der berühmte Erpressungsparagraph und seine noch berühmtere Anwendung, in der die ausgeklügeltste Zuspitzung unserer Klassenjustiz, insoweit sie Staatsräson im Interesse der wirtschaftlich herrschenden Klassen übt, gezeitigt ist. Die Erpressung ist eines der schmutzigsten Vergehen, das man sich vorstellen kann. Ein Erpresser ist in der Tat ein gemeiner Mensch! Auf ihm lastet der schwere Vorwurf, er habe die Notlage und die Zwangslage eines anderen ausgenützt, um sich materielle Vorteile zu verschaffen. Nehmen Sie nun den Fall an, die Arbeiter eines Unternehmers sind mit dem Lohn nicht zufrieden, oder der Unternehmer will ihnen weniger Lohn geben als seither. Die Arbeiter aber stellen ihre Lohnforderung und sagen: „Wenn du uns den Lohn nicht gibst, dann können wir nicht weiterarbeiten, dann legen wir die Arbeit nieder." Parteigenossen! Das ist Erpressung nach der ständigen Rechtsprechung der letzten Jahre. (Stürmische Pfuirufe.)

Das Reichsgericht sagt: „Wenn die Arbeiter nicht weiterarbeiten, dann kann auch der Unternehmer nicht weiter,arbeiten', er muss den ganzen Betrieb ruhen lassen." Die Arbeiter nützen also die Notlage des Unternehmers aus, um sich höheren Lohn, also einen rechtswidrigen Vermögensvorteil, zu verschaffen. (Lebhaftes „Hört! Hört!") Das, was ich da sage, stimmt Punkt für Punkt überein mit dem, was durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts niedergelegt ist.

Wie läuft nun aber die Sache im umgekehrten Falle? Wie steht es, wenn der Arbeitgeber sagt: „Von jetzt ab erhaltet ihr pro Stunde fünf Pfennig Lohn weniger, und wenn ihr damit nicht zufrieden seid, dann muss ich euch entlassen!" Geschieht das, werden die Arbeiter aufs Pflaster geworfen, so stehen sie nackt und bloß da und sind damit unendlich ernster geschädigt, als wenn dem Unternehmer ein paar Wochen die Maschinen stille stehen. Aber, Parteigenossen, das ist keine Erpressung! Der Unternehmer handelt nach Ansicht der Gerichte immer im guten Glauben! Wir haben Versuche gemacht, gegen die Unternehmer einzuschreiten, aber diese Versuche sind missglückt. (Stürmische Pfuirufe.) Ja, Parteigenossen, das ist Klassenjustiz!

Ich kann in diesem Zusammenhang auch einige Mitteilungen von meinem Hochverratsprozess machen. Sie wissen ja, dass ich ein Buch geschrieben habe über Militarismus und Antimilitarismus, ein sehr vorsichtig abgefasstes Buch. Ein Buch, von dem ich, wie ich schon jetzt versichern kann, nicht ein Wort zurücknehmen werde (Lebhafter Beifall, Händeklatschen.) und von dem ich schon heute den künftigen Richtern des Reichsgerichts versichern darf, dass ihr Urteil denjenigen Erfolg in Bezug auf meine antimilitaristische Tätigkeit nicht haben wird, welcher doch wohl der Hauptzweck der Kampagne ist. Dieses Buch ist mit Beschlag belegt worden. Das ist nicht schlimm. Das kommt ja öfter vor, besonders bei uns. Ich war darüber nicht sehr erstaunt. Gleich darauf bekomme ich auch den Besuch eines Beamten. Ich sagte dem Manne: „Guten Tag, na, Sie wollen mich doch wohl mitnehmen." (Heiterkeit.) Ich war ganz erstaunt, dass er mich nicht mitnehmen wollte. (Heiterkeit.) Ja, Parteigenossen, ich bin auf alles gefasst. Ich kenne unsere Justiz viel zu gut, als dass ich nicht auf alles gefasst sein müsste.

Ich soll Hochverrat begangen haben. Dazu gehört, dass man in einem nicht allzu fernen Zeitpunkt eine bestimmte Handlung plant und vorbereitet, welche den gewaltsamen Umsturz unserer Verfassung oder eines Bestandteiles derselben zum Ziel hat. Mein Hochverrat soll bezwecken, das stehende Heer zu beseitigen, das eine Grundlage unserer Verfassung sein soll. Man will also unser stehendes Heer unantastbar, sakrosankt, machen, obwohl es nicht nur von Sozialdemokraten als eine Kulturschmach angegriffen wird. Und weiter: Man glaube nicht, dass ich die Beseitigung unserer militärischen Organisationsform erst übermorgen erwarte. Dazu bin ich doch viel zu vorsichtig und vernünftig. Ich bekenne ganz offen, dass ich es hier sehr bedauere, dass es nicht rascher geht. (Heiterkeit.) Die Herrschaften haben aber viel mehr Angst, als sie vorläufig nötig haben. Sie denken, es könne über Nacht ein Krach kommen. Das ist das böse Gewissen!

Und wie steht's mit der Gewaltsamkeit der Beseitigung des Heeres? Davon habe ich in meinem Buche nicht ein Wort gesagt. Was ich gesagt habe, ist, dass in der Bevölkerung verschiedene Klassen existieren, deren Interessen sich gegenüberstehen, dass die Arbeiterklasse sowohl in der Bevölkerung wie im Heere die größte Klasse ist und dass sich diese Klasse ihrer Interessen immer klarer bewusst werden muss und wird. Parteigenossen, in dem Augenblick, wo die ganze Arbeiterschaft klassenbewusst ist, bricht unsere Armee in sich zusammen. (Stürmischer Beifall.) Das habe ich gesagt. (Erneuter Beifall.) Das ist aber doch keine Gewalt! Die Aufklärung der arbeitenden Klasse ist doch kein Gewaltmittel. (Lebhafte Zustimmung.) Aber man braucht „Gewalt" zum Tatbestand des Hochverrats! Was tun? Woher nehmen und nicht stehlen? Nun, man sucht sich zu helfen.

Zunächst behauptete der Oberreichsanwalt, ich hegte den Plan, Frankreich zu einem Angriff auf Deutschland zu hetzen (Stürmisches Gelächter.), und zwar mit Hilfe der Sozialdemokratie beider Länder. (Erneutes stürmisches Gelächter.) Bei dieser günstigen Gelegenheit wolle ich meinerseits unserer Armee den Garaus machen. Das Dokument, in dem der Oberreichsanwalt diese kühne Behauptung aufstellt, wird noch für kommende Generationen ein Quell heiterer Freude sein. Natürlich konnte die Anklage diese Position nicht halten. Ich machte den Untersuchungsrichter in aller Höflichkeit darauf aufmerksam, dass fast mein ganzes Buch doch gerade von den Möglichkeiten und Mitteln handle, den Krieg, besonders den zwischen Frankreich und Deutschland, und überhaupt alle Gewalttätigkeiten zu vermeiden, zu verhindern.

Jetzt entdeckte man etwas anderes: Ich soll die Absicht verfolgen, die Waffenerzeugung in die Hand zu nehmen (Große Heiterkeit.), die Arbeiter mit Waffen zu versorgen (Heiterkeit.) und in ihrem Gebrauch auszubilden, einzuexerzieren, um so mit dieser Proletarierarmee den treu gebliebenen Teil der Armee zuschanden zu schlagen. (Stürmische Heiterkeit.) Das ist eine wahrhaftige Phantasie aus der russischen Revolution. Woher der Herr diesen meinen schwarzen Plan erfahren hat, weiß ich nicht. Ich will nicht verraten, ob ich ihn nicht vielleicht doch in meinem Verschwörerherzen trage (Heiterkeit.), aber im Buch steht nichts davon! In einem Buch scheint manchmal etwas zu stehen, was gar nicht darin steht. Ich will höflich sein und dem Herrn Oberreichsanwalt mein Kompliment für seine ausgezeichneten Augen aussprechen. (Heiterkeit.)

Jetzt hat nun der Eröffnungssenat des Reichsgerichts in seinem Beschluss noch eine dritte Methode gefunden, um mich abzuschlachten. Drei verschiedene Wege zu einem Ziel: Das zeigt jedem, dass erst das Ziel gesetzt war – „es muss um jeden Preis bestraft werden!" – und dann erst begonnen wurde, einen Weg zum Ziel zu suchen. Der Geheime Kriegsrat Romen, der altbekannte Sozialistentöter, der auch so gut den Weg zu finden wusste, um seinen Bruder vor Verbüßung einer schweren, wegen Beleidigung erkannten Gefängnisstrafe zu schützen, schreibt im „Tag" einen Artikel gegen den Antimilitarismus, besonders gegen mich. Im Reichstag tritt Kriegsminister von Einem gegen meine antimilitaristische Propaganda auf. Unmittelbar darauf schreitet die Reichsanwaltschaft gegen mich ein. Das hängt nicht nur zeitlich zusammen. Man war sich eben in den maßgebenden Kreisen darüber einig, dass die antimilitaristische Propaganda um jeden Preis unterbunden werden müsse. Nun galt's oder gilt's nur, einen gangbaren Weg zu finden. Zwei Galgen schon hatte man für mich aufgerichtet, zweimal aber ist der Strick gerissen. Ob nun der dritte Strick halten wird? (Heiterkeit.) Ich gebe mich keiner Illusion hin. Im Notfall wird man auch den vierten Strick finden. Ich fühle mich schon ganz in der Rolle des Gehenkten. (Erneute Heiterkeit.)

Diese Anklage ist für mich und den Antimilitarismus, das betonte ich wiederholt, politisch ein wahres Gottesgeschenk. („Bravo!") Uns kann sie nur nützen und schaden nur anderen.

Nun noch einige allgemeine Bemerkungen. Die Klassenjustiz äußert sich in vier Richtungen. Zunächst in der Prozessführung selbst. Wir erleben es täglich, dass Angeklagte der „besseren Stände", die vor Gericht mit einem guten Rocke erscheinen, schon in der Verhandlung ganz anders behandelt werden, als wenn es sich um arme Teufel, Arbeiter oder sozialdemokratische „Halunken" handelt. Das ist Klassenjustiz!

Sodann in der einseitigen Auffassung des Prozessmaterials und in der einseitigen Würdigung des Tatbestandes Das ist vielleicht das wichtigste Stück der Klassenjustiz! Es gibt freilich ziemlich viele Ausnahmen unter den Richtern. Das verkenne ich gar nicht. Ich kenne besonders auch in Berlin manche sehr tüchtige Kraft, der man das vollste Vertrauen entgegenbringen kann. Wo es aber ernsthaft darauf ankam, hat die Klassenjustiz noch nie versagt. Ich bin nicht der Auffassung, dass die Richter etwa bewusst und böswillig das Recht beugen. Gewiss gibt es auch solche Richter. Diese beschäftigen uns nicht, denn nicht die Ausnahme verbrecherischer Individuen, sondern die Regel, der Klassencharakter des Richters, ist sozial bedeutsam. („Sehr gut!") Die Richter handeln im Allgemeinen nach bestem Wissen, aber beim besten Willen können sie nichts anderes als Klassenjustiz ausüben. Sie können den Tatbestand nicht richtig erfassen. Sie verstehen alles anders, es gewinnt in ihren Augen alles eine andere Bedeutung.

Der Redner belegt diese Behauptung mit einer Anzahl von Beispielen aus der sozialen Prozesspraxis. Die Richter empfinden eben nicht mit dem proletarischen Angeklagten, weil sie in einer andern Sphäre leben, denken und fühlen. (Lebhafte Zustimmung.) Was erleben wir nicht bei unseren Presseprozessen! Welche Unmöglichkeiten der Interpretation!

Der Redner erinnert an den Kaiserinselprozess. Die Art, wie man es damals fertiggebracht hat, aus den Notizen des „Vorwärts" eine Majestätsbeleidigung zu deduzieren, ist charakteristisch. Denken Sie dann an den „Überschriftenprozess" gegen die „Leipziger Volkszeitung" wegen zweier Artikel, betitelt „Böhme und Liman" und „Die Leipziger Justiz auf der Anklagebank". Alles, was in Bezug auf den Journalisten Liman in dem ersten Artikel gesagt wurde, wurde vom Gericht einfach auch auf den Staatsanwalt Böhme bezogen. Der zweite Artikel („Die Leipziger Justiz auf der Anklagebank") war lediglich, ein Prozessbericht. Die Überschrift sollte andeuten: die Justiz habe schlechter abgeschnitten als der Angeklagte; die Rollen seien gewissermaßen vertauscht gewesen. Ich verlangte die Verlesung des Artikels, um dies zu beweisen. Das Leipziger Gericht aber lehnte das kurzweg ab. Nur die Überschrift wurde „verlesen", und wegen dieser in der Luft schwebenden Überschrift musste unser Parteigenosse Herre zwei Monate Gefängnis abbrummen. (Bewegung.) So interpretiert man doch nur, wenn man politischer Gegner ist. Ein Proletarier würde niemals so geurteilt haben. Das ist Klassenjustiz!

Die Klassenjustiz manifestiert sich aber auch in der Auslegung der Gesetze. Auch sie wird durch den Klassenstandpunkt der Richter stark beeinflusst. Die Rechtsprechung zum Erpressungsparagraphen, die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch dazu höchst verschieden ist, liefert dafür das untrüglichste Beispiel. Das ist Klassenjustiz!

Die Klassenjustiz äußert sich aber auch in der außerordentlichen Härte der Strafen gegen politisch und sozial Missliebige, besonders gegen Sozialdemokraten. Ich habe bereits von dem Kösliner Prozess gesprochen: Damals, bei dem Kolberger Maurerstreik, antwortete ein allerdings schon vorbestrafter Arbeiter einem Schutzmann, der die Streikenden aufforderte, nach Hause zu gehen: „Warum sollen wir gehen, ebenso gut können doch auch die Arbeitswilligen nach Hause gehen." Das hat dem Manne drei Jahre Zuchthaus eingebracht. (Stürmische Pfuirufe.)

Vor zwei Jahren fand in einem kleinen thüringischen Städtchen, Hildburghausen, in dem sich ein Technikum befindet, auf dem natürlich Angehörige der „besseren Stände" studieren, eine kleine „Studentenrevolte" statt, weil ein Techniker – übrigens mit gutem Grund – von der Polizei verhaftet worden war. Man sammelte sich auf den Straßen, man griff die Polizeibeamten an, unternahm einen Sturm auf die Polizeiwache, Fensterscheiben wurden eingeschlagen. Feuerwehr und Militär mussten gerufen werden, und erst nach langer Mühe gelang es, den Platz zu säubern. Mehrere Techniker wurden angeklagt. Einen davon vertrat ich damals in Meiningen. Sie wurden sämtlich mit Geldstrafen, in der Regel nach meiner Erinnerung von nur zirka 100 Mark pro Kopf, bestraft. (Zurufe.) Dabei sage ich nicht, das Meininger Urteil sei falsch gewesen. Es war richtig. Falsch, ganz einseitig hart sind nur die Landfriedensbruchurteile gegen organisierte Arbeiter. In Köslin stand die Hydra des Streiks hinter den Angeklagten. Die Richter waren befangen. Das ist Klassenjustiz!

Die Klassenjustiz macht für das missliebige Proletariat nicht nur durch Interpretation besondere Gesetze, sie zeigt sich nicht nur in der außerordentlichen Schärfe den Arbeitern gegenüber, sondern auch in der großen Milde und dem wohlwollenden Verständnis für die Angehörigen der herrschenden Klassen, wenn sie einmal Objekte der Justiz werden. Dafür habe ich Belege angeführt. Die nachsichtige Beurteilung von exzedierenden Polizeibeamten und von Arbeitgebern, die gegen die sozialpolitischen Gesetze verstoßen, ist hier besonders charakteristisch.

Klassenjustiz herrscht überall im Klassenstaate. Gehen wir nach dem „freiesten Lande", nach Amerika. Was haben wir an dem Prozess Haywood9 erlebt! Ein Arbeiterführer wird einfach des Mordes angeklagt, um ihn unschädlich zu machen. Ein Zeuge wird gedungen, der zum Abschaum der Menschheit gehört, nur, um den politischen Gegner, einen Führer der Arbeiterklasse, aufs Schafott zu bringen. Klassenjustiz auch in Amerika! Sie ist allgegenwärtig, eben weil sie Klassenjustiz, weil sie die Justiz des allgegenwärtigen Klassenstaates ist.

Auch unser Kampf, den wir gegen die Klassenjustiz führen, wird die Klassenjustiz nicht beseitigen. Höchstens aus Furcht und Schrecken vor der Arbeiterklasse und damit das arbeitende Volk nicht zu wild wird, macht man kleine Konzessionen.

Das Wichtigste für uns bleibt die Aufklärung der Massen, und diese Aufklärung müssen wir mit Energie betreiben. Wir müssen das Volk darüber aufklären, dass unser Staat ein Klassenstaat und daher die heutige Justiz, die in den Händen der Feinde des Proletariats liegt, Klassenjustiz ist. Wir müssen das Volk aufklären, dass freiheitliche Zustände nur errungen werden können, wenn die ganze Arbeiterschaft einmütig zusammensteht und mit aller Kraft auf eine Umwandlung unserer Klassengesellschaft in eine sozialistische Gesellschaft hinarbeitet.

Unsere Freundin, die aus dem indischen Märchenlande zum Internationalen Kongress zu uns herbeigeeilt ist10, hat es gestern in ihrer einfachen und schlichten Weise ausgesprochen: „Was ist Sozialismus, wenn nicht Gerechtigkeit!" Parteigenossen, das ist eine tiefe Wahrheit! Gerechtigkeit ist nur möglich durch Beseitigung des Klassenstaates durch die Sozialdemokratie. (Lebhafte Zustimmung.)

Ich schließe, indem ich Sie bitte, sich immer vor Augen zu halten, dass wir unser Heil nicht erwarten können von freiwilliger Großmut der Herrschenden oder liebenswürdigem Entgegenkommen der klassenstaatlichen Regierungen. Die Stärkung der proletarischen Macht, das ist unser Heil. Und das wichtigste Mittel dafür wiederum ist: die Arbeiterschaft zu gewinnen zum Anschluss an die Organisationen, an die Partei. Dort vor allem muss sie geschult und reif gemacht werden für den gewaltigen Kampf zur Befreiung des Proletariats und der gesamten Menschheit aus den Fesseln des Kapitalismus und des Klassenstaats. (Stürmischer minutenlanger Beifall.)

1 Harry Quelch, Vertreter der Sozialdemokratischen Föderation Englands auf dem Internationalen Sozialistenkongress vom 18. bis 24. August 1907 in Stuttgart, wurde am 22. August 1907 von der württembergischen Regierung ausgewiesen, weil er am dritten Verhandlungstag des Kongresses die zweite Haager Friedenskonferenz mit dem bei den Sozialisten Großbritanniens geläufigen Ausdruck „a thief's supper" (Abendgesellschaft von Dieben) bezeichnet hatte.

2 Verfügung des preußischen Innenministers von Hammerstein-Loxten im Jahre 1902, dass sich Frauen in politischen Versammlungen nur in einem besonderen Teil des Saales, dem „Frauensegment", aufhalten durften.

3Umgangssprachliche Bezeichnung für das Gefängnis

4 Am 28. Februar 1906 wurde der Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Königsbergs wegen angeblicher politischer Betätigung und sozialdemokratischer Tendenzen verboten. Es kam darauf zu mehreren Prozessen, in denen Mitglieder zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Der Vereinsvorsitzende erhielt z. B. 4¾ Monate Gefängnis.

5 Betraf die Unterstellung der unbezahlten und bisher nicht als Beamte geltenden Privatdozenten unter die Disziplinargewalt des preußischen Staates seit dem Jahre 1898. Diese Gesetzesänderung richtete sich besonders gegen die Sozialdemokratie und wurde zuerst gegen den sozialdemokratischen Physikdozenten Arons angewandt. Arons wurde am 20. Januar 1900 wegen seiner Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie von der Universität Berlin gewiesen.

6 Im Februar 1899 wurden in Löbtau bei Dresden neun Bauarbeiter zu insgesamt 61 Jahren Zuchthaus und Gefängnis verurteilt, weil sie dagegen protestiert hatten, dass auf einem Nachbarbau über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Hierbei war es zu Tätlichkeiten gekommen, als der Bauleiter mit einem blind geladenen Revolver geschossen hatte.

7 In einer Versammlung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter am 3. Februar 1895 in Baukau bei Herne war der Bergarbeiter Schröder von dem Gendarmen Munter niedergeschlagen worden. Im Prozess (Juni 1895) gegen den Redakteur Margraf, der über diesen Vorfall in der „Deutschen Berg- und Hüttenarbeiter-Zeitung" berichtet hatte, wurden Schröder und seine Zeugen wegen „dringenden Verdachts wissentlichen Meineids" im Gerichtssaal verhaftet und unter Anklage gestellt. Das Essener Schwurgericht verurteilte im August 1895 in einem Meineidsprozess Schröder und sechs weitere Angeklagte zu hohen Zuchthausstrafen. Wiederholte Versuche des Verteidigers, das Verfahren wieder aufzunehmen, führten erst im März 1910, gestützt auf das gegen Munter im Jahre 1908 angestrengte Disziplinarverfahren, zum Freispruch und zur Zubilligung einer Entschädigung für die unschuldig Bestraften.

8 Paragraph 152 der Gewerbeordnung: „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben.

Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzterem weder Klage noch Einrede statt."

Paragraph 153 der Gewerbeordnung: „Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzungen oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetze nicht eine härtere Strafe eintritt."

9 W. D. Haywood, einflussreicher Führer des Bergarbeiterverbandes des Westens der USA, 1905 Mitbegründer der IWW, Mitglied der Sozialistischen Partei und 1920 Mitbegründer der KP in den USA, wurde 1906 zusammen mit C. H. Moyer und G. Pettibone in Colorado von der Polizei Idahos widerrechtlich in den Kerker geworfen und mit Hilfe gekaufter Subjekte der Ermordung des Ex-Gouverneurs von Idaho, Steunenberg, angeklagt. Der Prozess endete 1907 mit Freispruch.

10 Gemeint ist die indische Genossin Kamar, die den Kongress als Gast begrüßte. Die Red.

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