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Karl Liebknecht 19110916 Die zaristische Gewaltpolitik gegen Finnland

Die zaristische Gewaltpolitik gegen Finnland

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 10. bis 16. September 1911 sowie Bericht über die 6. Frauenkonferenz am 8. und 9. September 1911 in Jena, Berlin 1911, S. 162, 405-408. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 464-469]

I

Antrag 80

Resolution: Der Parteitag nimmt mit Entrüstung Kenntnis von den neuen Attacken des eidbrüchigen Zarismus gegen das finnische Volk. Er brandmarkt die unter dem Vorwande strategischer Notwendigkeiten begonnene Zerstückelung Finnlands als einen Akt unverhüllter Vergewaltigung, durch den die russische Regierung ihre bisherigen Infamien gegen das finnische Volk noch übertrumpft.

Der Parteitag spricht der tapferen finnischen Bruderpartei und dem gepeinigten finnischen Volke im Namen des kämpfenden deutschen Proletariats seine herzlichen Sympathien aus und das Gelöbnis der Unterstützung in den schweren Kämpfen, die das finnische Volk, geführt von dem finnischen Proletariat, gemeinsam mit dem russischen Proletariat zur Niederwerfung des Zarismus durchzukämpfen hat.

II

Rede zur Begründung des Antrages 80

Die auf dem Magdeburger Parteitag angenommene Resolution gegen den Zarismus lautet im ersten Teil: „Der Parteitag wolle gegen die infame Vergewaltigung Finnlands durch den Zarismus protestieren, dem um seine Freiheit und sein Recht kämpfenden finnischen Volke seine brüderliche Sympathie aussprechen und ihm für diesen Kampf die opferbereite Unterstützung durch das klassenbewusste deutsche Proletariat zusichern."

Bei der Erörterung dieser Resolution wurde einiges aus der Geschichte der Entrechtung Finnlands vorgetragen, beginnend mit jenem Zarenmanifest vom 15. Februar 1899, fortgesetzt durch das Journal des Ministerrats vom 2. Juni 1908, das Reglement vom Frühjahr 1909 und das Manifest vom 7. Oktober 1909 und beschlossen durch jenes niederträchtige „Gesetz" vom 30. Juni 1910, das die Autonomie Finnlands auf nahezu allen legislatorischen Gebieten vollständig aufhob. Ich habe damals auch die Proteste erwähnt, die aus bürgerlichen Kreisen gegen diese Anschläge des Zarismus auf die finnische Freiheit erhoben wurden. Bereits 1899 hat sich eine Anzahl holländischer Rechtsgelehrter vom rein juristisch-staatsrechtlichen Standpunkt aus nachdrücklich gegen das Manifest vom 15. Februar 1899 gewandt. Auch nach den Vergewaltigungen, die seit 1908 Schlag auf Schlag folgten, haben bürgerliche Kreise im Interesse Finnlands öffentlich energisch Partei ergriffen. Es war Professor Rudolf Eucken in Jena, der in einem Artikel der „Frankfurter Zeitung" vom 17. Dezember 1909 den ersten Anstoß zu dieser neueren Protestbewegung gegeben hat. Am 25. Januar 1910 folgte eine äußerst scharfe Erklärung von 67 hervorragenden Vertretern der Wissenschaft und Kunst in Deutschland und Österreich.

Selbstverständlich haben diese Proteste keinen Erfolg erzielt. Die finnische Frage kann nicht als Rechtsfrage, sondern nur als Machtfrage entschieden werden. Nach der Behauptung gewisser Veröffentlichungen wurde durch das Fiasko eines russischen Unterhändlers, der die französische Regierung gegenüber jenen Protesten für die Finnlandpolitik Russlands zu gewinnen suchte, die russische Regierung zu dem Beschluss veranlasst, ihre Maßregeln äußerlich in „mildere" Formen zu kleiden. Nicht einmal das hat sich als vereinbar mit dem Wesen des Zarismus herausgestellt. Unmittelbar nach jenen Angriffen auf die finnische Freiheit und Selbständigkeit, nach dem hoch- und landesverräterischen Staatsstreich der russischen Regierung gegen die vom Zaren beschworene Verfassung Finnlands ist die bisherige Brutalität noch übertrumpft. In den letzten Monaten hat Russland begonnen, Finnland zu zerfleischen. Bisher sind zwei Kirchspiele des Gouvernements Wyborg einverleibt, und es ist bereits angekündigt, dass weitere folgen werden. Natürlich ist das nur der Anfang der Einverleibung ganz Finnlands. („Sehr richtig!")

Die „strategischen Notwendigkeiten", mit denen man die Einverleibung „rechtfertigt", sind nur ein ganz fadenscheiniger Vorwand, der überdies die Ungesetzlichkeit des Vorgehens gar nicht einmal zu bemänteln sucht. Diese empörende Gewaltpolitik ist einmal ein Akt der Furcht für die Zukunft, der Rache und des Hasses für die Vergangenheit und Gegenwart gegen jenes Finnland, das während der russischen Revolution und auch in der ersten Periode der Konterrevolution ein Asyl der revolutionären Kämpfer war, das eines der demokratischsten Wahlrechte der ganzen Welt besitzt, dessen starke Arbeiterbewegung auf einem außerordentlich hohen Niveau steht, wo die Sozialdemokratie bei den letzten Wahlen 40 Prozent aller Stimmen erhielt und die zahlreichste sozialistische Fraktion der Welt im Landtag hat. In Finnland ist die Sozialdemokratie die Vorkämpferin und Leiterin der politischen Opposition gegen den Zarismus. Finnland ist ein Pfahl im Fleische der russischen Reaktion. Dann aber ist Finnland auch ein eigenes Zollgebiet, das dem Handel der anderen Länder unter den gleichen Bedingungen geöffnet ist wie dem russischen, und so folgt die russische Einverleibungspolitik auch aus dem Bedürfnis der Industrie, des Handels und der Landwirtschaft Russlands, Finnland als Markt für Russland zu monopolisieren, das Ausland durch hohe Zollmauern davon möglichst auszuschließen.

Wenn wir all dies vor unserem Auge Revue passieren lassen, So wird niemand verkennen, dass das finnische Proletariat gerade auch im jetzigen Moment seiner Leidensgeschichte Anspruch darauf besitzt, dass die deutsche Sozialdemokratie, dass das ganze internationale Proletariat seine Solidarität mit dem gepeinigten finnischen Volk erklärt. („Bravo!")

Die Einverleibung der beiden Kirchspiele ist schon heute nicht das einzige. Unter Missachtung der Abgeordnetenimmunität ist der Redakteur Genosse Airola verhaftet worden. Wir wären ja naive Kinder, wenn wir nicht wüssten, dass in Zeiten, wo es hart auf hart geht, die Abgeordnetenimmunität nichts ist als ein Spinnwebefaden vor der Mündung einer geladenen Kanone; der Bissingsche Korpsbefehl1 hat uns gezeigt, dass in Deutschland ganz das gleiche in Aussicht genommen ist und bleibt, trotz der „Rücknahme" dieses Teiles des Korpsbefehls, von der es in der Öffentlichkeit verlautet.

Es bedarf kaum der ausdrücklichen Feststellung, dass die Einverleibung auch durch das infame Entrechtungsgesetz vom 30. Juni 1910 nicht gedeckt ist. Dieses Gesetz betrifft nur die gesetzgeberische Selbständigkeit Finnlands in Bezug auf die Regelung seiner normalen laufenden Angelegenheiten, darin ist aber der russischen Regierung nicht die Befugnis zugesprochen, über das finnische Staatsgebiet frei zu schalten und Teile Finnlands zu verschlucken.

Ist es nicht selbstverständlich, dass das finnische Volk sich regt gegenüber einer solchen Vergewaltigung? Wäre es nicht wert der russischen Knute, wenn es das über sich ergehen ließ, ruhig wie eine Herde von Schafen? Ja, Parteigenossen, es ist wahrlich nicht erstaunlich, dass in Finnland eine Protestbewegung entstanden ist, die bereits ernstere Konflikte im Gefolge gehabt hat.

Dass diese Bewegung von der deutschen Sozialdemokratie mit aller Sympathie begrüßt wird, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Aber dass dieser Kampf den russischen Reaktionären schwer im Magen liegt, das beweisen auch gewisse Veröffentlichungen in der deutschen Presse, speziell eine Veröffentlichung in der „Kreuz-Zeitung" vom 14. September dieses Jahres, die – ich erinnere an den bekannten Plan der russischen Regierung, ausländische Zeitungen mit russisch-offiziösen Artikeln zu füttern – ganz offenbar den Stempel des russischen Offiziösentums an der Stirn trägt. In dieser russisch-regierungsoffiziösen Note wird geklagt, dass es in Finnland wieder recht lebhaft zugeht. Wir beklagen das nicht. Das Interessanteste ist aber eine Drohung, die sich am Schluss des Artikels findet: „Mit Rücksicht auf die Haltung der Finnländer auf das ursprüngliche Projekt zurückzugreifen und im Interesse der Sicherheit der Hauptstadt das ganze Gouvernement Wyborg der Reichsregierung zu unterstellen", womit zugleich eingestanden wird, dass jene „strategischen Rücksichten" nichts anderes sind als Rücksichten einer Strategie, die nicht dem Schutz gegen das Ausland gilt, sondern dem Schutz der russischen Zarenmeute gegen den Fortschritt und die Freiheit des russischen Volkes, dass Petersburg befestigt werden soll gegen künftige revolutionäre Stürme. Diese unerhörte Drohung wird natürlich nicht dazu beitragen, das Volk zu beruhigen, sondern im Gegenteil die Empörung und den Kampf zu schüren.

Sie wissen, dass deutsche Behörden sich nicht gescheut haben, unseren vorjährigen Parteitagsprotest zum Gegenstand einer staatsanwaltlichen Verfolgung in Deutschland zu machen. Man kann in der Tat für die deutsche Reaktion nichts Blamableres ausdenken, als dass sie unsere Protestaktion gegen den vorjährigen Zarenbesuch und gegen die Brutalisierung Finnlands zu einem solchen Angriff zu benutzen versucht. Wir wünschen ihr viel Glück zu diesem Streich. Ich habe keine Veranlassung, hier näher auf die Einzelheiten dieser glorreichen deutschen Hilfsaktion für „Väterchen" einzugehen, aber das ist sicher, dass wir nicht wert wären, von der Sonne beschienen zu werden, wenn wir uns durch derartige staatsanwaltschaftliche Feldzüge abhalten ließen, das zu tun und zu sagen, was wir für richtig halten. („Bravo!")

Unsere Sympathieerklärung hat nicht bloß eine platonische Bedeutung. Die finnische Frage kann nur als ein Teil der allgemeinen russischen Frage gelöst, die finnische Freiheit nur mit der russischen Freiheit zugleich erkämpft werden durch Niederwerfung des Zarismus überhaupt. Die russische Arbeiterbewegung beginnt, als Massenbewegung des Klassenkampfes mehr und mehr zu erstarken, und selbst in bürgerlichen Kreisen Russlands regt sich's von Neuem erfreulich.

Es ist eine Pflicht der internationalen Solidarität und eine Konsequenz des Versprechens, das wir im vorigen Jahre in Magdeburg gegeben haben, auch jetzt wieder an die Seite unserer finnischen Genossen zu treten und mit ihnen zu rufen: Nieder mit dem Zarismus! Es lebe die Freiheit des finnischen Volkes!2 (Lebhafter Beifall.)

1 Der kommandierende General des VII. Armeekorps in Münster, Freiherr von Bissing, erließ am 30. April 1907 einen Befehl, der detaillierte Anweisungen enthielt, wie sich die Truppen bei Unruhen, im Falle des Belagerungszustandes, bei Straßenkämpfen usw. zu verhalten hätten. Dieses Dokument, ein typisches Beispiel für die Brutalität, mit der die deutsche Arbeiterklasse durch den militaristischen, junkerlich-bourgeoisen Staat bekämpft werden sollte, gelangte 1910 in die Hände der Sozialdemokratie und war für sie von großer agitatorischer Bedeutung.

2 Die Resolution wurde ohne Debatte angenommen. Die Red.

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