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Karl Liebknecht 19111011 Das Ehrengerichtsverfahren gegen den Genossen Karl Liebknecht

Karl Liebknecht: Das Ehrengerichtsverfahren gegen den Genossen Karl Liebknecht

Zeitungsbericht über die Verteidigungsrede Karl Liebknechts1

[Leipziger Volkszeitung Nr. 245 vom 21. Oktober 1911. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 474-485]

Der Angeschuldigte führt unter anderem etwa folgendes aus: Wenn der Oberstaatsanwalt hier von einer abschüssigen Bahn gesprochen hat, so will ich ihm von vornherein keinen Zweifel darüber lassen, dass ich auf dieser Bahn, die er wohl nur infolge eines perspektivischen Versehens für abschüssig hält, mein Lebtag bleiben werde, ganz unbekümmert um die Wünsche und Anträge der Staatsanwaltschaft. Und wenn der Vertreter der Anklage es wagt, von Schicklichkeit und Anstand zu reden und von der Würde eines gebildeten Mannes, so verwahre ich mich entschieden gegen jede derartige Belehrung. Der Oberstaatsanwalt mag seine Begriffe von Anstand haben; nach meinen Begriffen von Anstand muss man sehr zweifelhaft sein, was anständiger ist, das Kind mit derben Worten beim richtigen Namen zu nennen oder das Schild über einen Mann wie den russischen Zaren zu halten.

Zur Form meiner Ausführungen sei folgendes gesagt: Man kann gewiss die schwersten Angriffe in eine Form eiserner Ruhe kleiden, das mag sogar die wirksamste Form des Angriffs sein. Die Naturen sind jedoch verschieden, und es gibt jedenfalls Naturen, zu denen ich mich rechne, die das Bedürfnis haben, ihrem Gefühl grenzenloser Empörung auch in starken Worten Luft zu machen. Die Sprache will einem dann zu schwach erscheinen. Man greift zu den stärksten Ausdrücken, ohne doch einen befriedigenden adäquaten Ausdruck zu finden. Denken Sie an jene gewaltige Szene im Goetheschen „Faust", in der Faust vergeblich die Sprache zu zwingen sucht, ihm Worte zu leihen, die seinem Gefühl des Abscheus und Ekels gegen Mephisto genügen könnten. Dies war meine Situation gegenüber dem Zaren.

Russische Angelegenheiten interessieren mich nicht nur wie jeden Politiker und jeden Kulturmenschen. Ich bin seit über acht Jahren in dauerndem, engstem Konnex mit zahlreichen Russen, Angehörigen der verschiedenen oppositionellen Parteien Russlands, natürlich vor allem der russischen Sozialdemokratie. Ich habe so das unbeschreibliche Elend der russischen Zustände, die Schrecken der Gegenrevolution, die Leiden der russischen Flüchtlinge und die Schwierigkeiten, mit denen die russischen Ausländer in Deutschland zu kämpfen haben, gewissermaßen an mir selbst miterlebt und auf das Lebendigste alle die Jahre hindurch täglich mitempfunden. All das Entsetzliche, was man sonst hier nur aus den Zeitungen theoretisch kennenlernt, habe ich fast mit derselben Unmittelbarkeit durchgemacht, als sei ich im Reiche der russischen Knute selbst gewesen. Zahlreiche Freunde habe ich durch die russischen Henker verloren und den Wahnsinn, der durch das Grauen der Pogrome erzeugt war, leibhaftig vor mir gesehen. Und Finnland steht mir noch außerdem ganz besonders nahe: Nach diesem Lande führte mich zu Studienzwecken die erste größere Reise meines Lebens – und bis zum heutigen Tage trage ich in mir von Land und Leuten dieses unglücklichen Staates die frischesten Eindrücke voller Sympathie.

Aus alledem erklärt sich die besondere persönliche Stellung, die ich schon seit dem Königsberger Prozess des Jahres 1904 immer wieder in russischen Angelegenheiten genommen habe, und die Stimmung, aus der heraus dies geschehen ist.

Es ist nicht möglich abzuwägen, ob ich in meinen Ausdrücken gegen den Zaren zu weit gegangen bin, ohne dass man die grundlegenden Tatsachen der russischen Zustände, von denen ich ausgegangen bin und noch heute ausgehe, kennt. Ich bin natürlich weit entfernt, dem Gerichtshof all das mir hier vorliegende Material auch nur im Auszug vortragen zu wollen. Es ist indessen nicht zu umgehen, einige Andeutungen über das Wesentlichste vorzubringen.

Ich hatte nach meiner Entgegnung erwartet, dass der Anklagevertreter auf die russischen Verhältnisse eingehen und versuchen werde, meine Angriffe gegen den Zaren als ungerechtfertigt darzutun. Er hat dies nicht getan, vielleicht holt er es nach. Jedenfalls bin ich gewappnet und bereit, ihm zu dienen.

Was zunächst Finnland anlangt, so habe ich das Wesentliche über seine brutale Vergewaltigung in meiner inkriminierten Rede gesagt. Jetzt hat sich erfüllt, was ich damals befürchtete. Wie Ihnen bekannt, hat die russische Regierung jetzt ihre Niederträchtigkeiten gegen Finnland durch den Beginn der Zerstückelung Finnlands noch übertrumpft. Was das Verhalten der zarischen Regierung gegen Finnland bedeutet, sollte gerade uns Deutschen besonders lebendig sein … Der Fall Finnlands aber liegt noch weit tragischer, da diesem Lande seine Suzeränität verbrieft und beschworen war und da es sich eine der freiesten Verfassungen der Welt gegeben hatte.

Der Angeschuldigte geht dann auf das blutige Wüten der Konterrevolution ein, erwähnt, dass in den drei Jahren der „Konstitution", vom 30. Oktober 1905 bis 30. Oktober 1908, ganz abgesehen von den unermesslichen Menschenopfern und von den Brandschatzungen der Strafexpeditionen, nach amtlicher Feststellung wegen politischer Vergehen über 28.000 Personen gerichtlich verurteilt wurden, darunter zu Todesstrafen, Zwangsarbeit und Zwangsansiedlung nahezu 13.000, während von den Kriegsgerichten in dieser Zeit, soweit bekannt geworden, nicht weniger als 5165 Personen zum Tode verurteilt sind, von denen die Hinrichtung von mindestens 2835 oder 54,9 Prozent aus amtlichen Nachweisen hat entnommen werden können. Die Kriegsfeldgerichte verhängten in den acht Monaten ihrer Tätigkeit vom 2. September 1906 bis zum 2. Mai 1907 1102 Todesurteile, das sind 88,1 Prozent der sämtlichen von ihnen gefällten Urteile. Sie überlieferten durchschnittlich 137 Personen im Monat dem Henker.

Als der Angeschuldigte weitere Tatsachen zur Kennzeichnung der Lage im russischen Reiche vortragen will, wird ihm vom Vorsitzenden bedeutet, dass es dieses Vortrags nicht bedürfe, da man den guten Glauben des Angeschuldigten in Bezug auf die entsetzliche Lage in Russland unterstellen könne und ebenso, dass er geglaubt habe, Anlass zur Entrüstung gegenüber diesen Zuständen zu haben.

Der Angeschuldigte entgegnet, dass ihm mit einer solchen allgemeinen Unterstellung nicht gedient sei, er müsse dem Gericht den Umfang der in Russland unter dem Zarenregime verübten Scheußlichkeiten lebendig vor Augen führen, weil nur so die Stimmung im vollen Umfange verstanden werden könne, aus der heraus er seine Anklage geschleudert und speziell die inkriminierten Ausdrücke gebraucht habe. Er weist kurz auf unerhörte Zustände in den überfüllten, von schwersten Krankheiten durchseuchten russischen Gefängnissen hin, auf das Geschick der Spiridonowa2 und auf die Korruption der russischen Verwaltung, die er unter anderem an der Affäre Reinbott, an dem Fall jenes Mädchen handelnden Generals, und an der furchtbaren chronischen Hungersnot in den weiten Gebieten des russischen Reiches demonstriert. Er streift die Zustände in der russischen Polizei, die Fälle Asew, Harting und den neuesten Fall Bogrow, und erwähnt zu letzterem die Anschuldigungen des Bruders Stolypins in der „Nowoje Wremja", wonach das Attentat auf ein Komplott der Ochrana, insbesondere Kurlows, des Gehilfen des Ministers des Innern, Werigins, des Gehilfen des Chefs des Polizeidepartements, und Kuljabros, des Chefs der Kiewer Ochrana, zurückzuführen ist und nach denen es organisiert worden ist von Leuten, die schon die Posten im Ministerium unter sich verteilt hatten und denen Stolypin im Wege stand.

Als er weiter auf die letzten Artikel des Organs der Schwarzhunderter3, der „Russkoje Snamja", eingehen will, in denen der Regierung mit der Rache der ihre Entlassung fürchtenden Ochranisten ganz unverblümt gedroht wird, wird der Angeschuldigte von Neuem vom Vorsitzenden unterbrochen, der ihn mit einer ähnlichen Begründung wie vorher von weiteren Darlegungen in gleicher Richtung abzuhalten sucht.

Der Angeschuldigte geht dann über zu den Pogromen, wobei er auch den jetzt nach sechs Jahren abgeschlossenen Prozess über das Pogrom von Armavir erwähnt. Wiederum greift der Vorsitzende ein mit der Bemerkung: Diese Pogrome würden wohl auch von dem ganzen Gerichtshof verabscheut, worauf der Angeschuldigte entgegnet, es sei für ihn wesentlich, die Schuld der russischen Regierung bis zum Zaren herauf an diesen Pogromen darzulegen. Er beruft sich hierfür auf die Denkwürdigkeiten des Fürsten Urussow, des früheren Generalgouverneurs von Kischinew, auf des Fürsten Krapotkins Schrift über den „Schrecken in Russland", von der er dem Gerichtshof eine Übersetzung überreicht, und auf das neuestens erschienene zweibändige Werk über die Judenpogrome in Russland, das er dem Gericht gleichfalls vorlegt.

Ich habe in meinem engsten Bekannten- und Freundeskreise eine ganze Anzahl von traurigen Beispielen miterlebt, in denen Geisteskrankheit und schwerste Nervenzerrüttungen als Folgen solcher Pogrome entstanden sind. In mir nahestehenden Familien aus Rostow und anderwärts wurde den Frauen und den jungen Mädchen, selbst den halben Kindern von den Eltern Gift gegeben, damit sie im Fall eines Pogroms sich der Schändung durch freiwilligen Tod entziehen könnten. Das sind so erschütternde Tatsachen, dass ein normal empfindender Mensch darüber sein Lebtag nicht hinauskommt.

Schließlich zeichnet der Angeschuldigte in wenigen Strichen die verbrecherische Auslandspolitik des Zarismus auf dem Balkan und in Persien und fährt fort:

Fassen wir nur all das zusammen, was ich hier in Kürze überfliegen konnte, so ergibt sich ein Gesamtbild, vor dem man nur schaudernd und voll des tiefsten Abscheus stehen kann. Es gilt, sich lebendig hineinzuversetzen, wie ich mich lebendig hineinversetzt habe, will man meine Empfindungen verstehen und würdigen. Ich betrachte es als eine natürliche Pflicht jedes Kulturmenschen, seine Kräfte in den Dienst der Befreiung des russischen Volkes aus dieser Hölle zu stellen. Und der Zar ist für all diese Zustände höchst persönlich voll verantwortlich. Er ist ja der Hauptträger der Regierungsgewalt nach seiner eignen Ansicht, trotz der jetzigen sogenannten Konstitution, sogar der noch immer alleinige Träger.

Es handelt sich nicht um vereinzelte, ausnahmsweise Vorkommnisse, sondern um ein System, um allgemeine, tägliche, überall sich fortgesetzt wiederholende gleichartige grauenvolle Erscheinungen, von denen die Regierung und der Zar wissen müssen und wissen und die von der Regierung und dem Zaren nicht nur nicht beseitigt oder bekämpft, sondern geradezu gefördert werden. Das beweisen die gewohnheitsmäßigen Begnadigungen der Pogromisten und anderer Kapitalverbrecher, die zum Verband der Echtrussen4 gehören: Nicht weniger als 564 solcher Delinquenten wurden dadurch allein in den ersten drei Jahren nach dem Oktobermanifest5 auf Ersuchen des echtrussischen Verbands ihrer Strafe entzogen. Das beweist die Begnadigung der Mörder von Jollos und Hertzenstein. Die engen Beziehungen des Zaren zu den Schwarzhundertern belegt der Angeschuldigte aus der erwähnten Schrift des Fürsten Krapotkin, aus der in Petersburg 1906 erschienenen, auf Grund offizieller Nachrichten zusammengestellten Sammlungen der Reden des Kaisers Nikolaus II. von 1894 bis 1906, wo insbesondere über jenen höchst charakteristischen Empfang des Vorsitzenden des Schwarzhunderterverbands Dubrowin vom 23. Dezember 1905 berichtet ist. Hier sprach der Zar den Pogromisten wiederholt seinen Dank aus, hier fiel jenes berüchtigte Wort, das den Schwarzhundertern seither als Schiboleth gilt: „Vereinigt euch, russische Männer, gebt euch Mühe, ich rechne auf euch!" Der Zar hat diesen verbrecherischen Verband aus seiner Privatschatulle unterstützt und sein Abzeichen auf der Brust getragen.

Als im Jahre 1906 sich General Dratschewsky als neuer Stadthauptmann von Rostow vorstellte, sagte ihm der Zar, sein Posten sei schwierig, da in der Bevölkerung viele Juden seien. Als Dratschewsky entgegnete, die Aufgabe sei dank der Pogrome leichter geworden, da viele Juden erschlagen und geflüchtet seien, schüttelte der Zar mit dem Kopf und entgegnete: „Es sind nicht so viele tot; ich erwartete, es würden mehr sein." In einem Artikel der „Nation" vom 15. September 1906 ist die persönliche Verantwortung des Zaren klar nachgewiesen. Eine Zeitung wie die „Posener Neuesten Nachrichten" vom 18. September 1906 hat sich diese Schlussfolgerungen zu eigen gemacht.

Als der Angeschuldigte dann weiter auf die Broschüre Burzews „Der schuldige Zar" und die Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Obschtscheje Delo" (la cause commune) vom 15. Januar 1910 eingehen will, bemerkt der Vorsitzende, es solle unterstellt werden, dass der Angeschuldigte so umfangreiches, von ihm aus wohlerwogenen Gründen für zuverlässig erachtetes Material über die persönliche Mitschuld des Zaren an all den geschilderten Gräueln besitze, dass er daraus die Überzeugung habe entnehmen dürfen, dass diese Mitschuld eine Tatsache sei.

Der Angeschuldigte streifte sodann noch mit wenigen Sätzen den Meineid des Zaren, der die finnische Verfassung, die er schnöde staatsstreichlerisch gebrochen habe, auch persönlich feierlich beschworen habe, und zitiert die wichtigsten Sätze des Oktobermanifestes, in dem der Zar durch Kundgebung seines „unabänderlichen Willens" dem russischen Volke die Grundrechte der bürgerlichen und politischen Freiheit und das Recht der Mitwirkung bei der Verwaltung und Gesetzgebung für alle Zeiten „unwiderruflich" gewährt hat. Man vergleiche damit die oben geschilderten Zustände, die alsbald nach der Niederwerfung des Moskauer Aufstandes6 von neuem etablierte völlige politische Rechtlosigkeit und bürgerliche Unsicherheit; man vergleiche damit die zweifache hochverräterische Auflösung der Duma und die Oktroyierung neuer Wahlgesetze und schließlich den letzten Staatsstreich der Suspension der Duma und des Reichsrats im Frühling dieses Jahres.

Nach alledem ist es nicht mehr als natürlich, dass in allen zivilisierten Ländern, wenn immer der Zar sie zu betreten beabsichtigt oder gewagt hat, dies von weiten Kreisen als eine Schmach empfunden wurde und zu einer erregten Agitation zur Verhinderung dieser Schmach Veranlassung gab; und Sie wissen, dass 1909 der bayrische Landtag einmütig die bayrische Regierung zur sofortigen Kündigung des bayrisch-russischen Auslieferungsvertrages aufforderte.

Als im Jahre 1908 bekannt wurde, dass der englische König einen Besuch beim Zaren unternehmen wolle, wurden die heftigsten Proteste laut, die auch zu einer Interpellation im Unterhause führten.

Der Angeschuldigte trägt die Resolution der Leitung der sozialdemokratischen Partei Englands und einen Artikel im „Labour Leader" vor, in dem der Zar unter anderem als ein „gemeiner Mörder" bezeichnet wird. Er verliest einen Teil des Artikels der „Humanité" aus dem Jahre 1908, in dem in den schärfsten Worten gegen den Besuch des französischen Präsidenten bei dem Zaren Widerspruch erhoben wird. Es ist darin von „zarischen Banditen" die Rede, von der „Räuberbande" der russischen Regierung. Am Schlusse heißt es von dem Zaren, er sei ein gekrönter Bandit, der seinen Eid gebrochen, der alle Freiheiten seines Landes erdrosselt, der die Vereinigung jener Mörder, der Schwarzhunderter, begünstigt habe. Ähnlich lauten der Aufruf des italienischen Parteivorstandes und das Manifest des italienischen Komitees gegen den im Jahre 1909 erfolgten Zarenbesuch und die Gedenktafel, die an dem Tage der Ankunft des Zaren im Volkshause in Rom eingeweiht wurde.

In diesem Zusammenhange verliest der Angeschuldigte auch eine Äußerung, die Fürst Urussow unter allgemeinem Beifall in der Ersten Duma getan hat: „Die große Gefahr … kann nicht verschwinden, solange die Leitung des Staates und des Landesschicksals in den Händen und unter dem Einfluss von Männern bleibt, die Marschälle des Hofes, Polizisten von Erziehung und Mörder aus Überzeugung sind."

Der Zarenbesuch in Deutschland, um den es sich hier handelt, ist nicht nur in der sozialdemokratischen Presse, sondern auch bis weit in die Kreise der bürgerlichen Presse ganz ähnlich empfunden worden. Besonders charakteristisch darf die Auslassung der „Frankfurter Zeitung" vom 30. August 1910 gelten, in der auch mit all den Vorwänden der Sentimentalität gründlich aufgeräumt wird, die jeden Protest gegen den Zarenbesuch als eine Rohheit gegen eine arme, kranke Frau hinzustellen sucht. „Die ,Norddeutsche Allgemeine Zeitung' hat es für nötig erachtet", so heißt es darin, „die Gastfreundschaft des deutschen Volkes mit der Tatsache, dass der Kaiser von Russland sie genießt, in einen ethischen und ursächlichen Zusammenhang zu bringen … Die Regierungen dürfen aber für das, was sie als zweckmäßig erachten, nicht die Gefühle des Volkes arrogieren, ohne auf den berechtigten Widerspruch der edelsten Leidenschaften zu stoßen." Die Verantwortung des Zaren für „eins der lasterhaftesten und verabscheuungswürdigsten Regierungssysteme aller Zeiten" wird festgestellt, es wird „einer westeuropäischen Nation für unwürdig bezeichnet, einem Träger des russischen Regierungssystems die Honneurs der Kultur des 20. Jahrhunderts zu erweisen". Der Zar wird „Blutmensch" oder „geschobener Schwächling" genannt, sein Name eine „blutige Flamme auf weiten Leichenfeldern", und der Artikel schließt mit der Bemerkung, dass für den Deutschen kein Grund vorliege, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen.

Bevor der Angeschuldigte dazu übergeht, weitere Belege für die Ausdrucksweise der Zeitungsproteste zu verlesen, erklärt der Vorsitzende, es solle als wahr unterstellt werden, dass in der Presse nicht nur der Sozialdemokratie, sondern auch bürgerlicher Parteien bei dieser Gelegenheit gegen den Zaren und sein Regime so scharfe und selbst noch schärfere Ausdrücke, als die von dem Angeschuldigten gebrauchten, vielfach gefallen seien.

Der Angeschuldigte fährt fort: „Was meine Angriffe gegen die preußische Regierung betrifft, so sind sie unmittelbar veranlasst durch die Umstände, auf die ich vorhin bereits hingewiesen habe. Um ihre Schärfe jedoch voll zu verstehen, ist es notwendig, sie in einem weiteren Zusammenhange zu betrachten. Immer und immer wieder hat sich ein höchst unheilvoller Einfluss russischer Regierungsmaximen in Deutschland gezeigt, wenn deutsche Behörden dem zarischen Regiment Liebesdienste zu leisten unternahmen, wie sie besonders in der preußischen Geschichte leider zu den häufigen Erscheinungen gehören. Ich erinnere an die Fälschungen im Königsberger Prozess traurigen Angedenkens; an die Affäre Schöne-Brockhusen, in der Passfälschung und Anstiftung zum Hochverrat, noch dazu unter Ausnutzung der Notlage eines rechtlosen Ausländers, von einem höheren Polizeibeamten, wie notorisch sein muss, verübt sind; an die bekannte, im Berliner Polizeipräsidium begangene Fälschung, die in dem Geheimbundsprozess Grienblatt und Genossen in Dresden im Juni 1909 eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat; an die Russifizierung unsrer Universitäten und den jüngsten erschütternden Fall Dubrowsky; an die ungeheuerliche Ausweisungspraxis; an die Kontrollstationen; an die Tätigkeit der gefährlichen russischen Spitzel und Provokateure in Deutschland und vieles andre, was uns immer erneut berechtigten Anlass zu schweren Vorwürfen gegen die Regierung und ihre Organe gegeben hat.

Gerade das Vorgehen der Polizei gegenüber den Versammlungen in Friedberg, Langen und Frankfurt am Main muss wiederum im Zusammenhange mit der gesamten Handhabung des Vereins- und Versammlungsrechts, insbesondere in Preußen, betrachtet werden. Nicht nur die Sozialdemokratie, wenn auch sie in erster Linie, hat ohne Unterlass über die Gesetzwidrigkeiten und die unerhörte Willkür der Verwaltungsbehörden in dieser Handhabung lebhafteste Beschwerden erheben müssen, die sich bereits, wie bekannt, wiederholt zu parlamentarischen Erörterungen und Interpellationen verdichteten und bei denen die Regierung sich eine schonungslose Kritik und Kennzeichnung hat gefallen lassen müssen. Zieht man weiter in Betracht, dass im vorliegenden Falle die Gesetzwidrigkeiten stattfanden zum Schutze des gekennzeichneten russischen Zaren, so wird man begreifen, dass für mich die rücksichtsloseste Abwehr und Brandmarkung geboten war.

Ich bin nicht als Anwalt, sondern als Politiker aufgetreten, als ich jene Rede hielt, und es wäre unerträglich, wenn man dem Politiker, der Anwalt ist, das Recht beschränken wollte, seine politische Ansicht in der nach der Sachlage von ihm für erforderlich gehaltenen Schroffheit zum Ausdruck zu bringen. Den Menschen möchte ich sehen, der in Ausführungen solcher Art, wie sie hier inkriminiert sind, eine Handlung erblicken wollte, die die Würde und Ehre eines Anwalts verletzen könnte. In diesem Falle wäre Schweigen pflichtwidrig, würde – und vielleicht ehrlos gewesen, Reden konnte es nicht sein. Auch nicht, wenn es ein zorniges, heftiges Reden war.

Der Oberstaatsanwalt hat von der Gefährlichkeit meiner Ausführungen gesprochen. Ich stelle fest, dass gegen diese Rede nirgends ein Einschreiten von Seiten der Behörde, die doch bei unsern Parteitagen jedes Wort auf das Genaueste verfolgt, stattgefunden hat, ja anscheinend auch nicht einmal erwogen worden ist. Meine angeblichen strafbaren Beleidigungen haben zu keiner Anklage geführt ; es ist sogar, wie bekannt, das kriminelle Einschreiten gegen mich von allen zuständigen Organen ausdrücklich abgelehnt worden. Nun soll ich im ehrengerichtlichen Verfahren gepackt werden!

Es kann auch hier nicht daran vorübergegangen werden, wie dieses ganze Verfahren zustande gekommen ist. Ich will darüber nicht viel Worte verlieren, aber das Vertrauen habe ich, dass der Ausgang dieses Verfahrens ein ebenso unrühmlicher sein wird, wie sein Anfang unrühmlich war.

Welche Aufgabe des Anwalts wäre höher und heiliger als die, den Schwachen und Unterdrückten Beistand zu leisten, und zwar um so mehr, je bedrückter der Schwache ist und je mächtiger seine Peiniger und Bedrücker sind! Als Politiker habe ich hier zugleich im Geiste jenes edelsten Berufs der Anwaltschaft gehandelt, und es ist ein unerträglicher Gedanke, dass mir gerade in meiner Eigenschaft als Anwalt darum die Ehre verkürzt „werden soll. Das darf nicht sein, und zwar gerade im Interesse der Würde des Anwaltsstandes.

Ich betone zum Schluss noch einmal, dass ich von all dem, was ich gesagt habe, niemals auch nur ein Jota zurücknehmen werde."

1 Wegen seiner Anklagerede auf dem Magdeburger Parteitag am 23. September 1910 gegen den russischen Zaren und die preußische und hessische Regierung wurde gegen Karl Liebknecht im Februar 1911 ein Ehrengerichtsverfahren eröffnet. Trotz aller Bemühungen des Oberreichsanwalts und anderer Oberstaatsanwälte hatte sich keine gesetzliche Handhabe für ein strafrechtliches Verfahren gegen Liebknecht gefunden. Die Verhandlung vor der ersten Instanz der Anwaltskammer für die Provinz Brandenburg in Berlin fand am 11. Oktober 1911 statt. Karl Liebknecht erhielt einen Verweis. Sowohl Karl Liebknecht als auch der Oberstaatsanwalt beim Kammergericht in Berlin legten gegen dieses Urteil Berufung ein. Das Verfahren zog sich bis zum Jahre 1914 hin, da es mehrfach, während der Sitzungsperioden des preußischen Abgeordnetenhauses und des Deutschen Reichstags, ausgesetzt werden musste.

2 Mitglied der Sozialrevolutionären Partei, tötete im Jahre 1906 den Gouverneur von Tambow, den Unterdrücker der Bauernbewegung. Bei ihrer Verhaftung wurde sie von dem Kosakenoffizier Awramow in barbarischer Weise misshandelt. Sie wurde zu Zwangsarbeit verurteilt und erst durch die Februarrevolution 1917 befreit. Darauf schloss sie sich den linken Sozialrevolutionären an und zog sich später vom politischen Leben zurück.

3 bewaffnete Banden, gegründet 1905–1907 durch die zaristische Polizei und durch monarchistische Organisationen. Sie ermordeten revolutionäre Arbeiter und Angehörige der Intelligenz, organisierten Judenpogrome und terrorisierten die nationalen Minderheiten.

4 Mit der Bezeichnung „Echtrussen" sind die Mitglieder des Verbandes des russischen Volkes gemeint, einer 1905 zum Kampf gegen die Revolution gegründeten monarchistischen Schwarzhunderterorganisation in Russland (siehe Anmerkung 34).

5 Gemeint ist das Manifest vom 17. Oktober 1905, in dem der durch die Revolution erschreckte Zar dem Volk „bürgerliche Freiheiten" und eine Verfassung versprach.

6 Der am 5. Dezember 1905 begonnene Streik der Moskauer Arbeiter wurde am 7. Dezember zum politischen Generalstreik proklamiert, der in den bewaffneten Aufstand hinüber wuchs Der Moskauer Aufstand bildete den Höhepunkt der russischen Revolution von 1905 bis 1907. Nach heldenhaftem Kampf scheiterte der Aufstand, nachdem es der Konterrevolution gelungen war, durch Einsatz von starken Truppenverbänden das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern.

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