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Karl Liebknecht 19110420 Protest gegen die Barbarei des russischen Zarismus

Karl Liebknecht: Protest gegen die Barbarei des russischen Zarismus

Schreiben an das Ehrengericht der Anwaltskammer in Berlin1

[Abschrift. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Archiv, Nachlass: Karl Liebknecht. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 336 f.]

In dem ehrengerichtlichen Verfahren gegen mich bemerke ich zuvörderst folgendes:

Ich habe von demjenigen, was ich auf dem Magdeburger Parteitag geäußert habe, nicht einen Buchstaben zurückzunehmen, bin vielmehr der Ansicht, dass die jetzt inkriminierten Angriffe, insbesondere diejenigen gegen den russischen Zaren, noch bei weitem nicht scharf genug sind, um die Fülle der Unmenschlichkeiten, der gesetzlosen und zuchtlosen Barbareien gebührend zu kennzeichnen, die bis in die heutigen Tage von dem russischen Zarismus verübt werden. Es dürfte keine Sprache der Welt geben, die nicht zu arm wäre, um die Empörung auszudrücken, die ein zivilisierter, sittlich normal empfindender Mensch, der Kenntnis von diesen Gräueln besitzt, empfinden muss. Die angebliche Maßlosigkeit meiner Angriffe ist nichts als ein schwacher Reflex der ungeheuerlichen Maßlosigkeit jener Gräuel und Barbareien des Zarismus, unter denen ein dreifacher, das letzte Mal vor wenigen Wochen verübter Hochverrat fast noch am geringsten wiegt.

Niemand kann mir das Recht nehmen, einen Verbrecher, auch wenn er ein gekrönter Verbrecher ist, einen Verbrecher zu nennen. Die sittliche Pflicht zur Wahrheit und Gerechtigkeit duldet es nicht, dass wegen der hohen äußeren Ehrenstellung eines Menschen ein günstigerer Maßstab angelegt werde, sie fordert im Gegenteil für solche Fälle einen strengeren Maßstab. Ich bin begierig, aus welchem sittlichen Prinzip heraus die Anklagebehörde ihre gegenteilige Ansicht glaubt rechtfertigen zu können. Auch vom Standpunkt jeder humanen und ritterlichen Ehranschauung aus gilt ein gleiches. Ich würde es als feig und nichtsnutzig empfinden, in meiner Beurteilung des Zaren einen milderen Maßstab anzulegen als gegenüber gewöhnlichen Sterblichen. Ich würde es als eine Ehrlosigkeit empfinden, wenn ich aus irgendwelchen Rücksichten heraus, die nicht in der Sache selbst liegen, mein Urteil über den Zaren bemänteln oder zurückhalten würde, zu allermeist da, wo ich, wie auf dem Magdeburger Parteitag, zu sprechen verpflichtet war.

Ich würde den Titel eines Rechtsanwalts zu tragen und den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben nicht würdig sein, wenn ich mich von den mir durch die Anklageschrift angesonnenen Rücksichten hätte leiten lassen, wenn ich nicht vielmehr mich des schnöde unterdrückten, vergewaltigten russischen und finnischen Volkes nach meinen Kräften angenommen hätte und überall das Kind bei dem meiner Ansicht nach rechten Namen genannt hätte.

Infolge der Feiertage ist mir die Anschuldigungsschrift erst gestern in die Hände gelangt. Ich bin sehr stark in Anspruch genommen und mit Arbeit überhäuft und dabei ziemlich überarbeitet. Ich bin schlechterdings nicht imstande, mich bis zu dem 26. ds. Mts. hinreichend vorzubereiten. Ich sehe mich genötigt, zur Begründung des von mir auf dem Magdeburger Parteitag und in dem Eingang dieses Schriftsatzes vertretenen Standpunktes Material beizubringen. Ich vermag ohne die Vorbereitung dieses Materials meine Verteidigung nicht in der mir erforderlich erscheinenden Weise zu führen.

Ich bitte daher aufs dringendste, den Termin vom 26. ds. Mts. aufheben zu wollen.

Der Rechtsanwalt

gez. K. Liebknecht

1 Wegen seiner Anklagerede auf dem Magdeburger Parteitag am 23. September 1910 gegen den russischen Zaren und die preußische und hessische Regierung wurde gegen Karl Liebknecht im Februar 1911 ein Ehrengerichtsverfahren eröffnet. Trotz aller Bemühungen des Oberreichsanwalts und anderer Oberstaatsanwälte hatte sich keine gesetzliche Handhabe für ein strafrechtliches Verfahren gegen Liebknecht gefunden. Die Verhandlung vor der ersten Instanz der Anwaltskammer für die Provinz Brandenburg in Berlin fand am 11. Oktober 1911 statt. Karl Liebknecht erhielt einen Verweis. Sowohl Karl Liebknecht als auch der Oberstaatsanwalt beim Kammergericht in Berlin legten gegen dieses Urteil Berufung ein. Das Verfahren zog sich bis zum Jahre 1914 hin, da es mehrfach, während der Sitzungsperioden des preußischen Abgeordnetenhauses und des Deutschen Reichstags, ausgesetzt werden musste.

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