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Karl Liebknecht 19150800 Im Nessusgewand der Revolution

Karl Liebknecht: Im Nessusgewand der Revolution1

Glosse (August 1915)

[Das Zuchthausurteil gegen Karl Liebknecht. Wörtliche Wiedergabe der Prozessakten, Urteile und Eingaben Liebknechts, Berlin 1919, S. 139/140. Nach Gesammelte Reden und Schriften, Band 8, S. 299-301

Seit dem grauen Altertum suchen Konquistadoren Brände des eigenen Landes in auswärtigen Abenteuern zu löschen, an Bränden im fremden Land ihre Siegesfackel zu entzünden. Nur der Schein eines Widerspruchs, der dennoch in die Tiefe des Problems leuchtet, des Problems vom Verhältnis innerpolitischer Gegensätze zu auswärtigen Konflikten, vom Verhältnis zwischen Krieg und Revolution.

Das erfolgreiche auswärtige Abenteuer steigert die innerpolitische Macht des Abenteurers. Eine Niederlage mag ihn Kopf und Kragen kosten.

Aber die Kriegsniederlage eines Regimes ist nur dann der Sieg des Feindes, wenn sie auch die Niederlage des Volkes ist, das in den Kriegsstrudel gezogen wurde. Vermag beim militärischen Zusammenbruch eine revolutionäre Bewegung die Zügel an sich zu reißen, so kann sie eine neue, unwiderstehliche oder doch unüberwindliche kriegerische Macht bilden.

Je mehr ein Land die Revolution im Leibe trägt, je gewaltiger die Volkskräfte sind, die sie zu entfesseln vermag, um so trügerischer die Hoffnung des äußeren Feindes auf ihre Fruktifizierung.

Die Geschichte aller revolutionären Epochen bestätigt dieses Paradoxon, das so lange wahr bleiben wird, bis es jenen politischen Spiritisten des 4. August gelingt, das Wahngebilde eines Krieges zur Befreiung des bekriegten Volkes zu materialisieren.

Wenn sich die revolutionär erwachten, frei erhobenen, souveränen Massen dem Eindringling mit grenzenlosem Opfermut entgegen werfen, so mag man das echten Patriotismus preisen. Patriotismus her und hin – das ist ein Wort. Es gilt die Realitäten!

Vor dem Eroberer kapitulieren hieße sich und seine eben errungene Macht, seine eben erkämpfte Souveränität auf Gnade und Ungnade in die Hände des siegreichen Feindes legen; hieße Unterwerfung der eigenen Freiheit unter fremde Bajonette; hieße Preisgabe, Verrat der Revolution. Sie schlagen heißt Klassenkampf gegen die herrschenden Klassen des „feindlichen" Staats; heißt Fortsetzung der Revolution: Das ist der Schlüssel.

Deutschlands Zabern-Armee zog – so sagt man – unter dem Schutz des Belagerungszustandes aus, um das russische Vierklassenwahlrechtsvolk durch das Dreiklassenwahlrechtsvolk zu erlösen. Wie Anno 1866 die sicher berufene preußisch-bismärckische Regierung in sächsischer und österreichischer, so machte Anno 1914/15 die nicht minder berufene deutsch-bethmännische Regierung eifrigst in englischer, französischer und russischer Revolution – vor der deutschen durch die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie behütet. Vor allem in russischer, so innig sie dem Zarismus ergeben war. Und gewisslich, um ihn, den Torwächter der Junkerherrlichkeit, später wieder um so fester in den Sattel zu setzen.

Die Spekulation schlug natürlich fehl. Die kitschige Talmi-Freiheitsgöttin Borussiens fand nirgends Anbeter; nicht einmal in Russland.

Und wenn das russische Volk während des Krieges die Fahne der Revolution entfalten wird, so nicht, um sie den Hindenburg und Mackensen und Hötzendorff auszuliefern, sondern um sie nach Friedrich Engels' Wort unter dem Gesang der Marseillaise wehrhaft gegen sie zu tragen.

Wenn sie die Fahne des revolutionären russischen Volkes ist! Ergreifen die russischen Imperialisten das Heft, um die Masse des russischen Volks nach preußischem Rezept zu beglücken, verraten sie gar – wiederum nach preußischem Rezept – aus Furcht vor der sozialen Kraft des Proletariats die demokratische Kraft des Proletariats an das Haus Romanow und seine echtrussischen Schildhalter, so mögen die Trauben der deutschen Imperialisten reifen.

Jede ernste demokratische Reform jedoch, die dem bedrängten Zarismus abgerungen wird, bedeutet einen Schlag gegen die deutschen Heere. In der eigenen Schlinge gefangen, werden die Bethmänner den Erfolgen derselben Bewegung entgegensehen müssen, die sie erst mit hundert Grimassen heraufzubeschwören suchten: Irret euch nicht, die Revolution lässt sich nicht spotten!

Die Zukunft wird vielleicht die Hindenburg und Rußki in würdiger Kumpanei gegen den Freiheitskampf des russischen Volkes sehen, und auf dieser Grundlage Sonderfriede und heilige Allianz.- Es wäre die Erfüllung des Traums, des Plans von 1905.

Wenn gewisse Leute in der Wilhelm- und der Lindenstraße wirklich die Welt regierten, so hätte sich das preußisch-russische Fortschrittskarussell wieder einmal herumgedreht. Und das Publikum könnte am Ende des Weltkrieges bewundernd rufen: „Welch eine Drehung durch Gottes Fügung!"

1 Originalüberschrift. – Von Karl Liebknecht nach eigenen Angaben im August 1915 verfasst. Später berücksichtigte er noch die Vorgänge bis Mitte September 1916. Am 18. September 1916 überreichte er sie mit sechs im August 1916 verfassten Glossen dem Militärgericht.

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