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Volkswacht 19010625 Bürgerliche Sozialreform und Sozialdemokratie

Volkswacht: Bürgerliche Sozialreform und Sozialdemokratie

Zeitungsbericht

[Volkswacht (Breslau), 12. Jahrgang, Nr. 145 (Dienstag, 25. Juni 1901), S. 1, Sp. 1 – S. 2,Sp. 3, verglichen mit der Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 331-339]

Wenn die Behauptung unserer Scharfmacher zutreffend wäre, dass Sozialreformer und Sozialdemokratie Spießgesellen von gleichem Kaliber sind, dann hätte gestern Abend im Gewerkschaftshause ein reguläres Verbrüderungsfest gefeiert werden müssen. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Die Herren mit den klangvollen Namen und dem arbeiterfreundlichen Herzen, deren sozialreformatorischer Ruf bis über die internationalen Arbeiterschutzkongresse hinaus reicht, sie fanden nicht einmal den Weg bis zur Maragarethenstraße, um sich die Arbeiter leibhaftig anzusehen, für die man reformieren, mit denen man paktieren und organisieren möchte.

Sonderbar, Herr Professor Sombart hatte sich laut Ansprache im „König von Ungarn“ doch vorgenommen, den Sozialdemokraten die „revolutionären Schrullen“ auszutreiben. Gestern hätte er all die roten Brüder beieinander gehabt, die Austreibung konnte auf dem rationellsten Wege vor sich gehen. Und siehe da, weder das intellektuelle Haupt der Gesellschaft für Sozialreform, noch auf die hilfsbereiten Glieder, die Herren Professoren Kaufmann, Landtagsabgeordneter Porsch, Pfarrer Neumann, Pastoren Nitschke und Späth, Redakteur Oehlke und Nowak hatten den Mut gefunden, ihre patriotische Arbeit zu beginnen. Sie überließen das Schlachtfeld unserer revolutionären Genossin, Frau Dr. Rosa Luxemburg und duldeten ohne Widerspruch, dass sie in einem sachlichen, aber scharfen Vortrag den Breslauer Arbeitern die revolutionären Schrullen kräftigte und – wir fürchten fast – eine große Zahl von Neulingen solche Schrullen einimpfte. Und wie viele Anknüpfungspunkte hatte diese weit ausholende, in jedes Spezialgebiet der Sozialreform eingreifende, von umfassender Kenntnis der einschlägigen Gesetze und Programmforderungen zeugende Rede unserer Genossin für die Vertreter der Sozialreform gegeben! Das war keine Agitationsrede im Durchschnittssinn, das war die Entwicklung eines revolutionären Prinzips, die wissenschaftliche Begründung der sozialdemokratischen Stellung gegenüber den Versuchen, uns durch die Kultivierung der staatlichen Sozialreform von unserem Endziel abzubringen. Doch hierfür möge der ausführliche Bericht zeugen.

Die Versammlung zählte weit über tausend Besucher. Außer den Arbeitern aller Berufe mit ihren Frauen waren hauptsächlich Studenten und Studentinnen, dann aber auch ein Schwarm von Antisemiten anwesend. Das Wort ergriff aber, wie schon oben bemerkt, Niemand.

Um 8½ Uhr eröffnet Genosse Paul Löbe die Versammlung. Er begrüßt die zahlreich Erschienenen herzlichst und spricht seine Freude darüber aus, dass sich Anhänger aller politischer Parteien eingefunden haben, was durchaus den Intentionen der Veranstalter dieser Versammlung entspricht. Wenn er bitte, den Vortrag ruhig anzuhören, so wolle er damit keineswegs den Zuhörern das Recht absprechen, Zeichen des Beifalls aber auch des Missfallens zu geben, nur solle das in einer Weise geschehen, wie sie die Aufechterhaltung der Ruhe und Ordnung erfordere. Die Fenster müssten auf Anordnung der Behörde geschlossen bleiben (bei 30 Grad Hitze! Anm. des Setzers), auch müsse der Mittelgang stets frei gehalten werden.

In das Büro werden dann gewählt Redakteur Kühls, Frau Neukirch und Schriftgießer Schneider. Der Vorsitzende erteilt darauf das Wort

Frau Dr. Rosa Luxemburg:

In letzter Zeit erlebten die deutschen Arbeiter ein merkwürdiges Schauspiel. Niemals zuvor hat die Arbeiterklasse so viele wohlwollende bürgerliche Gönner gefunden, wie eben jetzt. Leitende Staatsmänner, Parteiführer, Sozialpolitiker, ordentliche und außerordentliche Professoren bemühen sich um die soziale Wohlfahrt der arbeitenden Klassen und es ist keiner, der nicht wenigstens einen Vortrag gehalten hat über Besserung der Lage der Arbeiter. Alle aber sind einig in der Überzeugung, dass die eigene Partei der Arbeiter, die sozialdemokratische, gar nichts tauge. Gekrönte Sozialpolitiker versprechen, diese Partei zu zerschmettern, pfiffige Parteimänner suchen derselben durch gefährliche sozialreformerische Konkurrenz das Lebenslicht auszublasen, wild gewordene Privatdozenten wollen ihr mit Zuchthausvorlagen oder mit Belagerungszustand das Leben schwer machen und ruhig gewordene ordentliche Professoren hoffen dieser Partei mittels diplomatischer Behandlung die Giftzähne ausziehen zu können. Aller Absicht aber ist die Vernichtung der Partei, die doch ausschließlich für die Arbeiter, die Schützlinge unserer bürgerlichen Sozialreformer, eintritt.

Wie ist das zu erklären? Die Antwort gibt uns ein Blick auf die Geschichte der Sozialreform wie der Arbeiterbewegung aller Länder. In England ward s. Z., als der Aufschwung der fabrikmäßigen kapitalistischen Produktionsweise erst seinen Anfang nahm, die Theorie von der Nichteinmischung des Staates in die wirtschaftlichen Verhältnisse aufgestellt. Nach wenigen Jahren der unumschränkten Anerkennung und Anwendung dieser Theorie aber war die Degeneration, die Vertierung des englischen Arbeiters infolge der rücksichtslosesten Raubgier des kapitalistischen Ausbeutertums so weit fortgeschritten, dass es einsichtigeren Vertretern der bürgerlichen Gesellschaft klar wurde, so könne es nicht mehr weitergehen, und zwar im Interesse des kapitalistischen Staates selbst. So entstanden dann die ersten Spuren bürgerlicher Sozialreform. Die Zehnstundenbill war der Sieg eines neuen Prinzips, der bewussten Einmischung des kapitalistischen Staates in den eigenen Lebensprozess, im Interesse des eigenen Bestehens dieses Staates. Die Manchestertheorie war verabschiedet. Diese bürgerliche Sozialreform war somit ein Produkt der Angst. Die allmählich sich entwickelnde Bewegung der Arbeiter gegen das volksverwüstende Treiben des Kapitalismus, die furchtbaren Erfahrungen, die in England die Chartistenbewegung den Herrschenden bot, sie ließen diese Bedacht darauf nehmen, dem Arbeiter etwas zu bieten, um auch ihn am Bestehen des kapitalistischen Staates zu interessieren. Nicht anders kann die Sozialreform Napoleons des Kleinen, seine Unterstützung der Hilfskassen etc. betrachtet werden. Sie hatte nur den Zweck, den Arbeitern den Glauben beizubringen, dass sie am Wohlergehen des Staates genau so interessiert seien, wie die herrschenden Klassen. Und Bismarck machte es Napoleon getreulich nach, als er seine Sozialreform durchführte. Er sagte ganz offen im Reichstage: „Ich habe lange genug in Frankreich gelebt, um zu wissen, dass die Anhänglichkeit der meisten Franzosen an die Regierung wesentlich damit in Verbindung steht, dass dieselben Rentenempfänger vom Staate sind. Die Leute sagen: wenn der Staat zu Schaden geht, dann verliere ich meine Rente, und wenn es 40 Francs im Jahre sind, so mag er sie nicht verlieren, und er hat Interesse für den Staat. Wenn wir 700.000 kleine Rentner haben, die vom Reiche ihre Rente beziehen, gerade in diesen Klassen, die sonst nicht viel zu verlieren haben und bei einer Veränderung irrtümlich glauben, dass sie viel gewinnen können, so halte ich das für einen außerordentlichen Vorteil."

Nicht minder bildete das allgemeine Wahlrecht einen Ansporn für das bürgerliche Gewissen. Wenn man nicht irgendetwas für die Masse der Arbeiter tun wollte, müsste man den Zeitpunkt immer schneller herankommen sehen, wo diese Massen restlos zur Sozialdemokratie übertreten. Sind doch manchesterliche Parteien, wie z. B. die Freisinnigen, schon längst diesen Weg gegangen. Daher, aus dieser Furcht vor der Sozialdemokratie die kleineren sozialpolitischen Mittelchen, die im Deutschen Reichstage zurechtgemacht werden zu einem Schaugericht bürgerlicher Sozialreform. Aber schon von vornherein ging immer und überall diese Sozialpolitik Hand in Hand mit Versuchen der gewaltsamen Unterdrückung der Arbeiterbewegung. Und auch hier hatte Bismarck mit seinem Sozialistengesetz Napoleon den Kleinen getreulich kopiert. Und haben wir nicht in unserer neuesten sozialpolitischen Epoche der Februar-Erlasse zugleich das Zuchthausgesetz gehabt? (Beifall.) Es hat aber den Herren nie etwas geholfen. Das bisschen Zuckerbrot haben wir schmunzelnd eingesteckt, die Peitsche des Sozialistengesetzes aber haben wir zerbrochen und ihrem Vater vor die Füße geworfen. (Lebhafter Beifall.) Und nicht glücklicher sind die französischen Gewalthaber gewesen. Das furchtbare Blutbad in Paris vor dreißig Jahren hat die gewaltige Entwicklung der sozialistischen Bewegung Frankreichs nicht hindern können.

Die herrschenden Klassen sind eben in einer Zwickmühle: Versuchen sie es mit der Peitsche, dann kommen infolge des ungerechten Druckes die Massen sicher zu uns, zur Sozialdemokratie. Und versuchen sie es mit dem Zuckerbrot, dann finden wir auch dabei unsere Rechnung: Wenn infolge sozialreformerischer Maßnahmen die Lage des Arbeiters sich um ein Weniges bessert, so dient das um so mehr auch zur geistigen Entwicklung desselben und damit zu der Erkenntnis, dass sein Platz in den Reihen der Sozialdemokratie sein muss. Was man auch unternehmen mag gegen uns, es schadet uns nicht, sondern nutzt uns – der beste Beweis für die historische Notwendigkeit der Sozialdemokratie. (Beifall.) Der Sozialismus erwies sich somit als unausrottbar.

Besonders vorwitzige bürgerliche Sozialpolitiker sind deshalb auf eine sehr schlaue Idee verfallen. Sie suchen dem Arbeiter einzureden, dass er es gar nicht nötig habe, extra noch auf eine völlige soziale Umwälzung hinzuarbeiten, dass er dasselbe vielmehr durch gewerkschaftliche Organisation, durch Genossenschaften, Sozialreformen, durch die Selbstverwaltung in der Gemeinde Stück um Stück, aber sicher erreichen werde. So in 500 Jahren gelangen wir so zum völligen Sieg des Sozialismus. Wenn die Arbeiter sich indes auf diesen Boden stellen sollten, können sie sicher sein, dass das Ziel, welches der Sozialismus sich gesteckt, auch in tausend Jahren noch nicht erreicht ist.

Es kann meine Aufgabe nicht sein, die neueste Lehre der Herren Sozialreformer in ihrem ganzen Umfang und in allen Details hier kritisch zu beleuchten. Hier genügt schon eine kurze Betrachtung. Halten wir uns an die Tatsachen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seit die Sozialreform begonnen hat. Einsichtsvollere Staatsmänner, besonders aber die Arbeiterparteien aller Länder, haben ihre Kräfte daran gesetzt, um die Sozialreform vorwärtszubringen. Und welches ist der Erfolg? Auf dem wichtigsten Gebiete, der gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit auch für die männlichen Arbeiter sind nur in Österreich und in der Schweiz [und] neulich in Frankreich Bestimmungen erreicht worden, während in allen übrigen Kulturstaaten bisher so gut wie nichts erreicht wurde. In England hatte man bereits 1847 den zehnstündigen Arbeitstag für Frauen und Kinder eingeführt, ihn 1850 aber wieder auf 10½ Stunden herauf geschraubt, und erst in späteren Jahren wurde er für die Textilindustrie wieder auf zehn Stunden herabgesetzt. Ebenso mangelhaft ist die gesetzliche Festlegung der Arbeitsdauer in den übrigen Staaten; nach kleinen Anfängen ist nirgends seit Jahren ein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen. Nur des Bergbaus, wo besondere Lebensgefahr vorliegt, nimmt man sich neulich an.

In gleicher Weise langsam geht es auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung vorwärts. Eigentlich sind Ansätze zu Alters- und Invalidenversicherung erst in Deutschland vorhanden, und erst in allerjüngster Zeit will Frankreich folgen. Diese Tatsache aber wird auch den deutschen Arbeitern immer wieder und mehr als zur Genüge unter die Nase gerieben. Und doch, wie mangelhaft ist das Arbeiter-Versicherungswesen auch in Deutschland noch? Falls der Arbeiter nach hartem Leben voller Entbehrungen das Glück hat, 70 Jahre alt zu werden, dann erhält er als schönen Preis seines arbeitsreichen Lebens ganze 39 Pf. tägliche Altersrente! Und der Invalide? Er bekommt noch weniger; denn seine Rente beträgt im Durchschnitt 131½ M. jährlich. Ich möchte einmal die Probe auf das Exempel machen und einen jener arbeiterfreundlichen Professoren auf eine ähnliche Rente angewiesen sehen. Seine Begeisterung für die Sozialreform würde nicht 24 Stunden standhalten. Und ich fürchte sogar, der gesinnungstüchtigste preußische Beamte würde in dieser Lage auf umstürzlerische Gedanken kommen. (Bravo!) Noch weniger wie in Deutschland ist in den anderen Staaten erreicht. In Frankreich sehen wir erst jetzt, seit die radikale Partei am Ruder ist, einen Anfang, und auch dieser Anfang ist voller Widersprüche und Halbheiten. Denn während der elfstündige Arbeitstag der Männer nur durch die Gleichstellung der Frauen und Kinder auf diesem Gebiete erkauft wurde, richtet sich das zweite Waldeck-Millerandsche Gesetz vom obligatorischen Streik und den obligatorischen Schiedsgerichten tatsächlich gegen den Streik, es macht den Streik zum Unsinn und bricht den Gewerkschaften das Genick. Die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften Frankreichs haben sich gegen das Gesetz erklärt, ebenso die deutschen und österreichischen Gewerkschaftsführer. Und die neue französische Vorlage für Invalidenversicherung, sie steht noch weit hinter den deutschen Gesetzen zurück. Noch schlimmer sieht es in Italien und Belgien aus. Alles in allem – die gesetzliche sozialreformerische Ausbeute des 19. Jahrhunderts beschränkt sich auf einige wenige und noch dazu recht armselige Gesetze. Es ist klar, wenn das Tempo der Sozialreform so weiter ginge, dann würde die Reise in den Zukunftsstaat bis zum jüngsten Gericht dauern.

Es wird behauptet, der Staat verliere immer mehr seinen kapitalistischen Charakter und nehme immer mehr sozialistischen Charakter an. Man vergleiche einmal. Auf der einen Seite ein paar dürftige Gesetze für die arbeitenden Klassen, auf der anderen aber die Kornzölle und all' die Liebesgaben für die Agrarier, die Kanalbauten für die Industrie, Militarismus und Marinismus, Welt- und Kolonialpolitik für den Großhandel. Hier armselige 27 Millionen für Arbeiterrenten, dort aber viele Hunderte von Millionen Jahr um Jahr für die nimmersatten Junker. Auf jedes auch noch so bescheidene Entgegenkommen gegenüber den Arbeitern kommt für die Kraut- und Schlotbarone tausendfältige Entschädigung; reicht der kapitalistische Staat den Arbeitern nur den kleinen Finger, dann liefert er sich den Industriellen und den Agrariern mit Haut und Haaren aus. Den Wettlauf mit diesen kann der Arbeiter nicht mitmachen. Trotz alles Arbeiterschutzes, trotz aller Sozialreform wird der heutige Staat immer kapitalistischer und nicht sozialistischer.

Schließlich hat aber auch die bürgerliche Sozialreform ihre unverrückbaren, überaus engen Grenzen. Die Gesundheit des Arbeiters soll allerdings geschützt werden, aber die wirtschaftliche Grundlage des kapitalistischen Lohnverhältnisses wird in Nichts verändert. Es ist bei den heutigen Verhältnissen für den Kapitalisten eben nur dann möglich, auf dem Weltmarkte zu bestehen, wenn er über tüchtige Arbeitskräfte verfügt. Und schon deshalb muss die bürgerliche Sozialreform den Arbeiter vor der gänzlichen Ausbeutung durch das Kapital schützen. (Lebhaftes Bravo.) Hier ein drastischer Vergleich. Wir haben Jagdgesetze, welche für das Wild eine Schonzeit bestimmen, damit dieses sich vermehren und heranwachsen kann. Damit aber wird nichts an der Tatsache geändert, dass das Wild in den Gaumen der Feinschmecker wandert; die Jagd soll durch die Schonzeit nur rationeller gemacht werden. Und ebenso verhält es sich mit der Arbeiterschutzgesetzgebung. Die Arbeiter werden vor völliger Ausbeutung geschützt, damit die Ausbeutung eine immer rationellere sein könne. (Anhaltender Beifall.)

Wir dürfen uns also keinen Täuschungen hingeben: Weder das Tempo der Sozialreform noch das Überwuchern des Kapitalismus machen es möglich, dass sich unsere heutige Gesellschaft auf diese Weise in eine sozialistische verwandelt. Wollten wir diese Meinung ernst nehmen, so würden wir nur den Namen für den Kapitalismus ändern, aber für die wirkliche Emanzipation durch den Sozialismus würde damit nichts erreicht sein.

Nun sagen diese bürgerlichen Sozialreformer: Ja, diese Sozialreform allein wird es ja nicht tun. Ihr Arbeiter müsst Euch auch vereinigen gegen die übermäßige Ausbeutung. Ihr müsst Eure gewerkschaftlichen Organisationen weiter entwickeln. Und man nimmt die gewerkschaftliche Organisation auch gegen die angeblich feindliche Sozialdemokratie in Schutz. Dabei aber trat die Sozialdemokratie schon für die Gewerkschaften ein, als die gesamten bürgerlichen Klassen noch jede Arbeitervereinigung heftig bekämpften. Schon 1847 sagt Karl Marx im „Elend der Philosophie" über die Gewerkschaften: „Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formieren sich diese anfangs isolierten Koalitionen in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung der Koalitionen notwendiger für sie als die des Lohnes." Wenn es einmal innerhalb der Sozialdemokratie eine Fraktion (Schweitzer) gab, welche den Gewerkschaften abhold war, so gab das heftige Kämpfe mit der anderen Richtung, den Eisenachern, und diese Kämpfe endeten mit dem vollen Sieg der Letzteren. Es ist geradezu abgeschmackt, die Sozialdemokratie über den Wert der Gewerkschaften belehren zu wollen. Wenn jene bürgerlichen Schwärmer für die Gewerkschaften aber behaupten, dass dieselben durch unermessliche Steigerung des Lohnes den kapitalistischen Profit allmählich beseitigen, den Sozialismus gewissermaßen durch ein Hintertürchen in die Gesellschaft einführen könnten, so bekunden sie damit nur ihre völlige Verkennung aller tatsächlichen Verhältnisse, eine fast unglaubliche Unwissenheit in ökonomischen Dingen. Die industrielle Reservearmee bildet sich immer neu, findet täglich neuen Zuzug und so bleibt der Kapitalist immer im Vorteil gegen den Arbeiter, dem er im Lohn nur das zum Leben Notwendigste verabfolgt. Gewiss bindet die Gewerkschaft die Arbeiter fest zusammen und setzt sie in die Lage, die Konjunktur zur gewissen Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage auszunutzen. Aber kann sie z. B. den Unternehmer zwingen, mehr Arbeiter anzustellen, um so allmählich diese industrielle Reservearmee verschwinden zu lassen? Gewiss werden wir die Gewerkschaften nicht herabsetzen, aber es ist unsere Pflicht, gefährliche Illusionen über die vermeintliche Bedeutung der Gewerkschaften zu zerstören. Die wortreichen vielversprechenden Schmeichler der Gewerkschaften sind nicht ihre besten Freunde. (Beifall.)

Gewiss haben die Gewerkschaften auch die wirtschaftliche Lage der Arbeiter gehoben, aber man komme beim Vergleich der Unterschiede in der Lage der Arbeiter nicht immer mit dem Hinweis auf die Lage derselben vor 50-60 Jahren. Auch der Bettler in der modernen Großstadt lebt heute in gewisser Beziehung komfortabler als ein vor tausend Jahren lebender Fürst. Der Bettler benutzt zum Feuermachen gewiss die allen erreichbaren schwedischen Streichhölzer, während jener Fürst mühsam Holzstücke aneinander reiben musste, wenn er Feuer haben wollte. Jede soziale Lebenslage will aber aus ihrer eigenen Zeit heraus beurteilt werden. Auch die Lage der besitzenden Klassen hat sich von Grund aus geändert. Marx sagt in seinem Werke „Lohnarbeit und Kapital": „Was hilft mir, dass ich jetzt statt in einer elenden Hütte im ordentlichen Hause wohne, wenn das Haus meines Nachbarn daneben, das mir Licht und Luft raubt, inzwischen zu einem Riesenpalast angewachsen ist?“ Gewiss hat sich die Lage des Arbeiters gebessert, aber der Abstand zwischen ihm und dem Reichen ist deshalb nicht kleiner, sondern er ist ganz erheblich größer geworden. Auch der Hinweis auf die Erfolge der englischen Gewerkschaften ist verfehlt. Allerdings haben s. Z. die englischen Unternehmer in der Zeit der goldenen Ernte den Gewerkschaften einige Brocken hingeworfen, wie aber sieht es jetzt aus? Man denke nur an den großen Streik der Maschinenbauer, der so überaus große Opfer erforderte und doch so unselig endete? Wie groß ist übrigens denn die Zahl der englischen Arbeiter, denen die Erfolge der Gewerkschaften zugute kamen? Es sind etwa 1.800.000 Personen, kaum zwanzig Prozent der sämtlichen erwachsenen Arbeiter Englands. Indes ein großer Teil der englischen Arbeiter bewegt sich in seiner Lebenshaltung unter dem Niveau der in England üblichen Lebenshaltung. Das Schlagwort von der industriellen Demokratie ist in England erfunden worden. Nach der Meinung gewisser bürgerlicher Sozialreformer ist die Tarifgemeinschaft schon der Anfang vom Ende der kapitalistischen Herrlichkeit, schon der Beginn der Herrschaft des Sozialismus. Diese Bewunderer der „industriellen Demokratie" vergessen aber, den Arbeitern zu sagen, dass die formelle Gleichberechtigung derselben eins der Grundgesetze der kapitalistischen Gesellschaft ist. Die Behandlung der Arbeiter, wie sie Papa Stumm übte, ist nicht die Regel, sondern eine Abnormität. In der Beseitigung solcher Schlacken der Leibeigenschaft liegt nicht eine Konzession an den Sozialismus, sondern der Übergang der kapitalistischen Produktion zu einer rationelleren Stufe.

Im großen wirtschaftlichen Getriebe vollziehen sich so gewaltige Wandlungen, dass alle Sozialreform, alle industrielle Demokratie dagegen ohnmächtig sind. Was kann die bürgerliche Sozialreform gegen die gewaltigen Krisen, die das Wirtschaftsleben in seinen Grundfesten erschüttern? Was kann sie, was kann die Gewerkschaft gegen die immer fortschreitende Kartellierung? Das Kapital ballt sich überall zur Faust, die mit unwiderstehlicher Gewalt auf die Arbeiter hinab saust. Die beiden Webb sagen treffend über die Kartelle: „Wenn die ganze Industrie in der Hand eines einzigen Großen liegt oder unter eine kleine Zahl nicht konkurrierender Unternehmer verteilt ist, dann findet die Gewerkschaft, dass ihre Methoden der gegenseitigen Versicherung und des Kollektivverbandes so gut wie nutzlos sind. Gegenüber den unbeschränkten Hilfsmitteln, dem sicheren Kundschaftsmonopol, der absoluten Willenseinheit dieser modernen Leviathane ist das 5-Millionen-Mark-Vermögen der reichsten Gewerkschaft und die Empörung von 1-200.000 hartnäckigen und erbitterten Arbeitern so wirkungslos wie Pfeile gegen ein Panzerschiff." Angesichts solcher Wandlungen, solcher sich stets steigernder Anarchie erscheinen Gewerkschaften und bürgerliche Sozialreform als schwächlicher Notbehelf. Und es ist ein weltgeschichtliches Verdienst der Sozialdemokratie, den Arbeitern gesagt zu haben, dass all' jene Mittelchen unzulänglich sind und dass es in allererster Reihe gilt, die politische Staatsgewalt zu erobern. (Beifall.)

Die bürgerlichen Sozialreformer behaupten, die Sozialdemokratie sei deshalb gar nicht für praktische Arbeit geeignet, weil sie, wie eine alte Jungfer auf den Bräutigam, auf den großen Kladderadatsch wartet. Das ist ein Blödsinn, wie er nur im Hirn eines immerfort in der Studierstube hockenden Gelehrten ausgebrütet werden kann. Die beste Widerlegung gibt die Geschichte der Arbeiterbewegung. Kein Geringerer wie Bismarck war es, der der Sozialdemokratie offen das Verdienst zuschrieb, das, was wir an Sozialreform haben, verursacht zu haben. Gerade weil wir den Arbeitern den nimmersatten Hunger nach Luft und Licht beigebracht haben, gerade dadurch haben wir die bürgerliche Gesellschaft genötigt, Stück um Stück ihrer Sozialreform herzugeben.

Was sind die Gewerkschaften und die Sozialreform vereint mit unserer politischen Tätigkeit. Sie sind der beste Hebel zur Hebung der gegenwärtigen Lage und zugleich zur Hinführung zum Endziel. Als Gegensatz zur Sozialdemokratie aber bedeuten die ersten beiden Verlängerung und Erhaltung der kapitalistischen Herrschaft. Unsere Gegner verfahren nach dem alten Grundsatze: Divide et impera! (Teile und herrsche.) Sie wissen es, dass keine Macht der Erde uns zu bezwingen vermag, wenn wir zusammenhalten, darum suchen sie uns zu spalten. Darum sucht man uns die Gewerkschaften abtrünnig zu machen, darum ist man bemüht, uns dem Klassenkampfe abwendig zu machen. Aber die Herren Sozialreformer sind zu spät aufgestanden. Der deutsche Arbeiter hat nicht umsonst die letzten dreißig Jahre, die schwere Zeit des Sozialistengesetzes durchgekämpft. Heut' weiß der deutsche Arbeiter, dass er alles dank der Sozialdemokratie erreicht hat. Darum, Arbeiter und Genossen, wenn jene Leute zu Euch kommen, um Euch zu ködern, dann sagt zu ihnen: „Gute Herren, spart Euch die Mühe. Redet Ihr vom Nutzen der Sozialreform, so rennt Ihr nur offene Türen ein. Das, was Ihr uns lehren wollt, das haben wir uns schon längst an den Schuhen abgelaufen. Das seichte Geschwätz einiger Professoren aber wird uns von unseren Zielen nicht abbringen, uns, die wir die schweren Zeiten des Sozialistengesetzes durchgemacht haben. Die Sozialdemokratie braucht die Anerkennung dieser Herren so wenig wie die Sonne, denn sie kann nicht geleugnet werden."

Unter brausendem, lang anhaltenden Beifall verhallten die letzten begeisterten Worte der Rednerin. Der Vorsitzende bat nun die anwesenden Gegner, ihre Eintragung in die Rednerliste zu bewirken.

Nach einer viertelstündigen Pause, als die Versammlung aufs Neue eröffnet wurde, hatte sich noch Niemand gemeldet und eine erneute Aufforderung blieb ebenfalls erfolglos. Genosse Klühs verlas herauf die beim Büro der Versammlung eingelaufene Resolution:

Die am 24. Juni in dem Gewerkschaftshause tagende Versammlung von über 1000 Personen erklärt sich mit den Ausführungen der Referentin Dr. Rosa Luxemburg einverstanden und verspricht, nach wie vor den Überlieferungen der Sozialdemokratie treu und allen Demagogen der bürgerlichen Sozialreform zum Trotz, unbeschadet und zugleich mit der praktischen Gegenwartarbeit stets auf die sozialistischen Endziele hinzuarbeiten.“

Die Annahme dieser Resolution erfolgte einstimmig, die anwesenden Gegner enthielten sich der Abstimmung. Der Vorsitzende weist darauf hin, dass in dieser Woche eine zweite große Versammlung stattfindet, in welche die Gegner abermals Gelegenheit haben sollen, mit uns über die Stellung der Sozialdemokratie zu debattieren. Am Freitag Abend spricht Redakteur Stücklen aus Altenburg über das Thema: „Die Sozialdemokratie und ihre Gegner“.

Mit einem dreifachen Hoch auf die revolutionäre Sozialdemokratie wurde die Versammlung geschlossen.

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