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Rosa Luxemburg 19120419 Brief an Franz Mehring

Rosa Luxemburg: Brief an Franz Mehring

[Nach Gesammelte Briefe, Band 4, Berlin 1983, S. 201 f.]

Südende, 19. April 1912

Sehr verehrter Genosse!

Ihre freundlichen Zeilen haben mir durch die Schlusswendung einen so lebhaften Schreck eingejagt, dass ich den Drang habe, sofort zur Feder zu greifen. Sie schreiben, dass Ihres Bleibens in der »Neuen Zeit« vielleicht nicht mehr lange sein werde. Ich las heute in der »Neuen Zeit« den Angriff Bebels auf Sie, erfuhr auch heute, dass eine von Ihnen angehängte Replik auf telegraphische Disposition Kautskys aus der Nr. entfernt wurde. Ich finde diese Handlungsweise K[autsky]s seinem Mitredakteur gegenüber schmachvoll und die Bebelsche Erklärung ein seniles Gefasel. Jeder anständige Mensch in der Partei, der nicht geistiger Knecht des Parteivorstands ist, wird auf Ihrer Seite stehen. Aber wie dürfte all das dazu führen, dass Sie einen so hochwichtigen Posten hinschmeißen könnten?! Bitte, behalten Sie unsere allgemeine Parteilage im Auge, Sie werden sicher auch das Gefühl haben, dass wir immer mehr Zeiten entgegengehen, wo die Masse der Partei einer energischen, rücksichtslosen und großzügigen Führung bedarf, und dass unsere führenden Instanzen: Parteivorstand, Zentralorgan, Fraktion und – das »wissenschaftliche Organ« ohne Sie genau in demselben Verhältnis immer kleinlicher, feiger und parlamentarisch-kretinhafter werden. Wir müssen also offen dieser schönen Zukunft ins Auge blicken, alle Posten besetzen und festhalten, die es ermöglichen, der offiziellen »Führerschaft« zum Trotz das Recht der Kritik wahrzunehmen. Wie wenig solcher Posten leider da sind und wie wenig Leute die Situation begreifen wollen, das wissen Sie sicher besser als ich. Dass trotzdem die Massen hinter uns stehen und eine andere Führung haben wollen, das hat ja die letzte Generalversammlung der Berliner, ja, die Haltung aller Parteimitgliedschaften im Lande gezeigt. Daraus erwächst aber für uns die Pflicht, gerade auszuharren, gerade nicht den offiziellen Parteibonzen den Gefallen zu tun und die Flinte ins Korn zu werfen. Auf ständige Kämpfe und Reibungen müssen wir ja gefasst sein, namentlich, wenn man das Allerheiligste: den parlamentarischen Kretinismus so derb schüttelt, wie Sie das getan haben. Aber trotz alledem - keinen Fußbreit nachgeben scheint mir die beste Parole. Die »Neue Zeit« darf nicht der Senilität und dem Offiziösentum ganz ausgeliefert werden. Lachen Sie über die Erbärmlichkeiten und schreiben Sie darin weiter so, dass uns allen das Herz im Leibe lacht!

Mit herz. Grüßen, auch an Ihre verehrte Frau,

Ihre R. L.

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