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Leo Trotzki 19100114 Rund um das Land des Muschiks

Leo Trotzki: Rund um das Land des Muschiks

[eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Nr. 9 der Wiener „Prawda“ vom 1./14. Januar 1910]

Am 27. November verabschiedete die Duma in seiner endgültigen Form den Gesetzentwurf der Regierung über die Landbewirtschaftung. Der Staatsrat wird natürlich ohne Verzögerung unterschreiben, was Stolypin ihm sagen wird. An der Zarenunterzeichnung wird es auch nicht fehlen. Und hier werden wir bald haben – es ist ein Witz, es zu sagen: das Gesetz über die allrussische bäuerliche Landbewirtschaftung Treten wir näher, um uns genauer anzusehen, was das für eine Art Gesetz ist.

I. Neue Eigentümer

Kriwoschein, der Oberaufseher für Landverwaltung und Landwirtschaft, drückte die Aufgabe der Regierung und der Duma so aus: „Millionen neuer Grundeigentümer zu schaffen". Das Gesetz vom 9. November drängt die Bauern zur Sicherung der Anteile als Privateigentum, und der Gesetzentwurf der Duma über die Landbewirtschaftung führt zur Ausweitung der Anteile auf den Ackerflächen. Das Gesetz vom 9. November tötet dorfgemeinschaftliches Grundeigentum – das Gesetz über die Landbewirtschaftung will – zusammen mit Felderzersplitterung und erzwungener Fruchtfolge – das Dorf zerstören und umwälzen. Nicht die schwachen Bauern mit Gutsbesitzerland versorgen, sondern aus 150 Millionen Desjatinen von Bauern- und Staatsland mehrere Millionen „starke" Bauernwirtschaften zuschneiden. Um einen Muschik-Farmer zu schaffen, einen Fanatiker des Privateigentums, der nach dem Worten des Abgeordneten Fürst Wolkonski ein einziges Gebot kennen würde: „Fass Fremdes nicht an!“ Dieser Landwirt soll zu einem unzerstörbaren Bollwerk des Gutsbesitzerlandes werden – gegen den Ansturm der landlosen und verarmten Massen. Ist das nicht verlockend? Es ist verlockend, das zu sagen – nur hat diese Sache eine andere Seite, eine Kehrseite.

II. Neue Proletarier

Für einen Hof braucht man unter unseren Bedingungen nicht weniger als acht Desjatinen. Dies erkennen sowohl die Regierung als auch die Dumamehrheit an. Indessen haben 2.857.000 Höfe oder 23% aller Bauernwirtschaften weniger als 5 Desjatinen, und 27% haben 5-8 Desjatinen Land. Das bedeutet, dass 50%, d.h. gerade die Hälfte aller Bauernhöfe, nach der Aufteilung Anteile erhalten werden, die für eine unabhängige Bewirtschaftung ungeeignet sind. Wohin werden diese 6 und mehr Millionen Bauernhöfe gehen? Ein gewisser Teil von ihnen wird sich unter das Joch der Bauernbank begeben und zu unsinnigen Bankpreisen Land kaufen. Aber die überwältigende Mehrheit wird im Gegenteil ihre unzureichenden Anteile an die Bauern-Kulaken verkaufen. Die landlosen Kader des Dorfes werden schrecklich an Zahl zunehmen. Hunderttausende, Millionen werden sich den Städten zuwenden. – „Sie spielen doch der Sozialdemokratie in die Hände, Sie führen ein viele Millionen starkes Proletariat ein!“ – erschreckte die Oktobristen der Kadett Kutler. – „Was kann man tun?“ – antwortete ihm der hilflos die Arme ausbreitende oktobristische Gutsbesitzer Schidlowski: „Durch keinerlei Maßnahme kann man die Geburt des Proletariats verhindern.“

Das ist die Kehrseite ihrer Landgesetze. Für die Kulaken – Landbewirtschaftung, für die Armen Landzerrüttung. Durch die Schaffung von Kadern neuer Landeigentümer werden Millionen alter landlos. Auf der Flucht vor einem Klassenfeind, dem Dorfgemeinschaftsbauern, schaffen sie einen Klassenfeind, den ländlichen und städtischen Proletarier.

III. Wer verfügt über das Land des Muschiks?

Die Bodenangelegenheiten vor Ort werden von den Kreis-Landbewirtschaftungskommissionen der Landkreise verwaltet. Sie setzen das Gesetz vom 9. November im Leben um, erweitern die Zuteilung von Landanteilen auf Höfe, verwalten den Verkauf von Staats- und Bankland und wählen die Partien der Umsiedler aus. Das ganze Schicksal des Bauernlandeigentums ist nun in ihren Händen. Wer ist Mitglied der Kommissionen? Zuerst einmal: der Adelsführer, der Vorsitzende des Semstwoamtes und der Semstwovorsitzende – also drei Beamte der lokalen Gutsbesitzer. Zweitens: Drei Vertreter des Bezirkssemstwo, wiederum drei Gutsbesitzer. Drittens: ein Mitglied des Bezirksgerichts und ein von der Regierung ernanntes unerlässliches Mitglied – zwei Beamte. Und schließlich viertens: 3-4 Vertreter der Bauern. Nach der Zusammensetzung sind die Landbewirtschaftungskommissionen mehr oder weniger wie die dritte Staatsduma: 8 Gutsbesitzer und Beamte und 3-4 Bauern. Das bedeutet, dass die Gutsbesitzer-Beamten-Kommissionen bei der Umsetzung des Gesetzes der Gutsbesitzer-Beamten-Duma vor Ort nach Willkür verfügen werden – nicht über das Gutsbesitzer-, sondern über das Bauernland. Aber schließlich zahlten die Bauern durch Vermittlung des Staats den Gutsbesitzern nicht nur den vollen Preis für ihre Landanteile, sondern auch einen Überschuss von 25%, also was kümmern sich die Gutsbesitzer um das Land der Muschiks? So oder so, das Gebot: „Fass Fremdes nicht an!" gilt nur für die Bauern, nicht für die Adligen. Die Stärke und die Macht liegt jetzt bei den Gutsbesitzern, und die Herren Adelsführer sind auch mit Scheren bewaffnet, um das Bauerneigentum zu zerschneiden und neu zuzuschneiden. In dieser Hinsicht sind sie Meister. Ihre Väter, die Konservativen wie die Liberalen, beschnitten im Jahre 1861 rühmlich die bäuerlichen Anteile, und mit Hilfe von Diebesabschnitten aus dem Dorfgemeinschaftsland werden die Bauern immer noch zu Leibeigenschafts-Grundrentenzahlungen gezwungen. Natürlich werden die Stolypin-Landbewirtschaftungskommissionen diese bewusst geschaffenen Handtuchfelder nicht zerstören. Im Gegenteil, sie werden ihn nach Kräften vermehren. Sie werden es fertigbringen, die Höfe so umzukrempeln und zu stutzen, dass sich der Muschik nicht der Schlinge des Gutsbesitzers entwinden kann. Jeder Bauer sollte sich diese Wahrheit fest hinter die Ohren schreiben: Nicht Befreiung, sondern brutale Knechtschaft bringt den ländlichen Massen die Landbewirtschaftungs-Diktatur (Herrschaft) der Gutsbesitzer – im Zentrum und vor Ort.

IV. Die Kadetten und der Muschik

Wenn Sie mit einem Pferd arbeiten wollen", ermahnte die Dumamehrheit der Kadett Beresowski, „müssen Sie es füttern. So müssen Sie auch mit dem Bauern verfahren … Er wird sich selbst ernähren – er wird Sie ernähren, wie er die vorherigen Generationen ernährt hat...."

Dass der Bauer geboren wurde, um heutige und zukünftige adlige Generationen zu ernähren, daran zweifelt der liberale Deputierte nicht. Aber genau zu diesem Ziel darf man den Muschik nicht allzu sehr mit adliger Vorherrschaft piesacken. Im Namen der Kadettenpartei schlug Beresowski der Duma daher folgende Zusammensetzung der Landbewirtschaftungskommissionen vor: drei Semstwo-Gutsbesitzer, zwei Beamte und fünf Bauern. Gleichmäßig, aus „Gerechtigkeit", fünf gegen fünf. Aber zum Vorsitzenden wird nach dem Kadettenentwurf vorsorglich ein Beamter ernannt, und die Stimme des Vorsitzenden entscheidet, wenn die Kommission in der Mitte geteilt ist. Das bedeutet, dass die Kadetten nicht nur damit einverstanden sind, dass sich die Gutsbesitzer an der Verteilung des Bauernlandes beteiligen, sondern sie sind auch bewusst bereit, ihnen zusammen mit den Beamten den Vorteil gegenüber den Eigentümern dieses Landes, den Bauern, zu verschaffen. Wessen Interessen liegen den Kadetten näher am Herzen: die der Bauern oder die der Gutsbesitzer? Denke darüber nach, Bauer!

V. Bauernabgeordnete und Landbewirtschaftung

Wie reagierten auf die Landbewirtschaftung Stolypins die Abgeordneten der Bauernschaft selbst? Nicht gleich.

Beginnen wir mit den Trudowiki. Für sie ist das neue Gesetz ein scharfes Messer. Sie vertreten die Interessen der Mittelbauern, unsicher auf ihren Füßen stehender Eigentümer, die sich mit ihren Fingernägeln und Zähnen an ihren mageren Anteile klammern, sich anklammern und fürchten, sie zu verlieren. Und sie sehen, dass die Duma-Gesetzgebung sie mit Kopf und Kragen den „Starken und Kräftigen" ausliefert. Sie halten dagegen, protestieren. Aber es gibt keine Zuversicht in die Reden der Trudowiki: Sie drohen, sie betteln. Sie wollen eine bäuerliche Mehrheit in den Landbewirtschaftungskommissionen, aber sie stimmen zu, dort auch Sitze an zaristische Beamte zu vergeben. „Auch ein mageres Schaf gibt Wolle“, denken sie. Aber vergeblich, sie werden kein Stück Wolle bekommen, doch mit ihrem Schwanken verwirren sie die Dorfmassen.

Den anderen rechten Bauernabgeordneten zuzuhören ist wie mit den Trudowiki. „Sie verteidigen nur Ihre persönlichen Interessen", schleuderte der Duma der Rechte Amosenok zu Recht entgegen, „und lassen die Bauern sitzen!“ „Dieser Gesetzentwurf“ – sagte der Rechte Daniljuk richtig – „kann nur 10% der Bevölkerung dienen und 90% werden zugrunde gehen.“ So sieht es aus, oder? Der Punkt ist, dass unter den oktobristischen und rechten Bauern die Vertreter der 10 und nicht der 90% vorherrschen. Sie sind in Eintracht mit ihrer adligen Deputierten, sie haben ihren eigenen Zugang zu den Bezirkskommissionen und dem Gouverneur – sie werden bei der Landbewirtschaftung keinen Verlust erleiden. Die Daniljuks und Amosenoks können noch einmal den Gutsbesitzern in der Duma ein paar bittere Worte sagen, vor allem wenn sie sich erinnern, dass sie vor Ort ihren bäuerlichen Wählern Rechenschaft ablegen müssen. Aber wenn die Sache zur Entscheidung, zur Abstimmung gelangt – gehen auch all diese rechten Muschiks demütig und schmählich mit der Dumamehrheit. So auch hier. Sie versuchten, auf einer Erhöhung der Zahl der Bauern in den Landbewirtschaftungskommissionen zu bestehen, aber sie fürchteten die Auflösung der Duma, den Verlust der Deputiertendiäten – und sie zogen sofort ihren Schwanz ein, schlossen den Mund und verrieten schweigend die blutsverwandten Interessen der millionenschweren Bauernschaft.

Die erste Pflicht eines jeden bewussten und ehrlichen Bauern ist, die Tricks und Kniffe dieser Verräter an den unaufgeklärten Dorfmassen rücksichtslos zu verurteilen.

VI. Die Stimme der Sozialdemokratie

Klar, deutlich und entschlossen brachte ihre Haltung zur Landbewirtschaftung der Konterrevolution die sozialdemokratische Fraktion zum Ausdruck.

Sie singen", sagte der Duma Genosse Beloussow, – „als ob alles Übel von der Bodenzersplitterung käme. Unsinn! Wir Sozialdemokraten meinen, dass der schlimmste Feind des landwirtschaftlichen Fortschritts die Latifundien der Gutsbesitzer sind – riesige Ländereien, die wie eine Boa constrictor die Bauernfelder umschlingen. Unsere Lösung ist die gleiche wie im Jahre 1905: Beschlagnahme der Gutsbesitzerlandes. Wer sollte diese Ländereien verteilen? Natürlich nicht Sie, meine Herren Adligen und Beamten, sondern Volks-Landbewirtschaftungkommissionen, die in allgemeiner, gleicher, direkter und geheimer Abstimmung gewählt werden. – Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur landwirtschaftlichen Entwicklung ist Ihre Staatsmaschinerie, die Sie auf Kosten des Volkes tränkt und füttert, Ihre Latifundien schützt und zur gleichen Zeit den Muschik würgt und erschöpft. Deshalb fordern wir das Volk auf, gegen die Selbstherrschafts-Landbewirtschaftung zu kämpfen, die auf dem russische Land herrscht!“

Es gibt keinen unversöhnlicheren Feind dieser Selbstherrschafts-Landbewirtschaftung als die Sozialdemokratie. Und doch ist sie die einzige Partei, die von der Stolypin-Landbewirtschaftung nichts zu befürchten hat. Mit all ihren Maßnahmen wird die Konterrevolution den Prozess der Proletarisierung der Massen verzehnfachen. Schnell wächst und bildet sich das viele Millionen starke ländliche Proletariat, das eine große Rolle für das Schicksal unseres Landes spielen wird. Oder glaubt Stolypin, dass die „Schwachen", denen er die Anteil wegnimmt, schwach bleiben werden? Verrechnet! Wir werden sie stark machen. Wir werden ihre Köpfe aufklären, wir werden sie zu Verbänden zusammenschließen, wir werden sie mit den Arbeiterorganisationen der Städte verbinden, wir werden sie unter dem Banner des internationalen Sozialismus zusammenbringen.

Arbeitet, arbeitet, Selbstherrschafts-Landbewirtschafter – wir werden nicht hinter Ihnen zurückbleiben. Unsere Energie ist unerschöpflich, denn wir wissen fest und denken immer daran, dass nicht Ihnen, sondern uns die Zukunft gehört!

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