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Leo Trotzki 19171030 Die Bedrohung Petrograds und der Kampf um den Frieden

Leo Trotzki: Die Bedrohung Petrograds und der Kampf um den Frieden

[„Rabotschij i Soldat" Nr. 1, 17./30. Oktober1917. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 2. Москва-Ленинград, 1925]

Der Krieg dauert neununddreißig Monate. Und es ist kein Ende in Sicht. Die Bourgeoisie fordert die Fortsetzung des Krieges – „bis zum Sieg". Im August sagte Kerenski in der Moskauer Staatsberatung: „Verdammt, wer jetzt vom Frieden spricht".1 Die Verbündeten unserer Bourgeoisie – die Kapitalisten Großbritanniens, Amerikas, Frankreichs, Italiens – fordern von uns, den Krieg „bis zum „Ende" zu führen. Und wo ist das Ende? Es ist nicht in Sicht. Sind wir jetzt näher am Frieden als zu Beginn der Revolution? Hat sich unsere militärische Lage verbessert? Nein, sie ist unermesslich schlechter geworden. Die von Kerenski am 18. Juni eingeleitete kriminelle Offensive führte zu einem Rückzug, zur Kapitulation Rigas und zu der großen Gefahr, die sich für Petrograd abzeichnete.

Dreieinviertel Kriegsjahre gaben der Hauptstadt keine Sicherheit. Wo ist die Garantie, dass die Dinge besser werden? Wenn wir Petrograd verlieren, verlieren wir fast die Hälfte unserer Verteidigungsindustrie. Evakuieren (verlagern) wir Betriebe in die Provinz, können sie dort nicht an einem Tag oder in einer Woche installiert werden. Dies dauert einige Monate. Deshalb hätte die Kapitulation Petrograds einen nicht wiedergutzumachenden, direkt tödlichen Schlag gegen die Ausrüstung unserer Armee zur Folge. Und eine Regierung, die eindeutig mit der Möglichkeit rechnen muss, Petrograd den Deutschen auszuhändigen und sich darauf vorbereitet, ergreift keine Maßnahmen zur Beendigung des Krieges.

Bei den allerersten Nachrichten über die Gefahr eines deutschen Einmarsches in die Hauptstadt begann das Kabinett vom Umzug nach Moskau zu sprechen. Die Kerenski-Regierung hatte schon früher versucht, das revolutionäre Petrograd im Stich zu lassen, wo sie sich wie auf einer heißen Platte fühlte. Jetzt beeilte sie sich, sich an den „strategischen" Grund zu klammern, nach Moskau zu flüchten.

Die Garnison und die Arbeiter von Petrograd waren alarmiert. Wie? Die Regierung erkennt deutlich an, dass sie nach 39 Kriegsmonaten nicht in der Lage ist, die Hauptstadt zu verteidigen. Aber statt entschiedene Schritte zum Friedensschluss zu unternehmen, bevor es zu spät ist, bereitet sich die frivole und kriminelle Regierung der Bourgeoisie vor, Petrograd der Gnade des Schicksals zu überlassen. Die Soldatensektion2 (-teil) des Petrograder Sowjets widersetzte sich sofort dem verräterischen Plan der Konterrevolutionäre und Bonapartisten. Eines von beidem – sagten die Deputierten der Garnison – eine Regierung, die nicht in der Lage ist, die Hauptstadt zu verteidigen, kann entweder einen sofortigen Frieden schließen oder, wenn sie keinen Frieden schließen kann, den Platz für eine echte Volksregierung räumen. Der Petrograder Sowjet schloss sich seiner Soldatensektion an und fügte hinzu, dass sich die Bourgeoisie bereitwillig mit dem Verhängnis der revolutionären Metropole versöhne. Die Berechnung der Konterrevolutionäre ist klar: Wilhelm wird die stärkste Festung der Revolution, das rote Petrograd, nehmen, und die Kornilowisten werden dies für die endgültige Niederlage der Volkserrungenschaften verwenden.

Die Regierung wurde durch die Empörung, die durch ihren Plan des Desertierens nach Moskau hervorgerufen wurde, deutlich erschreckt. Im sogenannten Vorparlament erklärte Herr Kerenski, dass er missverstanden worden sei, dass er „verleumdet" werde und dass die Regierung jetzt nicht gehen werde. „Petrograd übergeben?" protestieren die „patriotischen" Kadetten, die Lehrer und Vormünder Kerenskis, „eine solche Idee kam uns nie in den Sinn!"

Gegenüber den Schwierigkeiten der Petersburger Konterrevolutionäre sind jedoch ihre Moskauer Gesinnungsfreunde viel offener. Rodsjanko, der ehemalige Vorsitzende der Staatsduma und allgemein anerkannte Repräsentant des gesamten Grundbesitzer- und bürgerlichen Konterrevolution, erklärte in der Handelszeitung „Utro Rossii" offen:

Petrograd ist in Gefahr … ich denke, Gott ist mit ihm, mit Petrograd. … Sie fürchten, dass zentrale Institutionen (z.B. Sowjets usw.) in Petersburg zugrunde gehen werden usw. Darauf erwidere ich, dass ich sehr glücklich bin, wenn all diese Institutionen zugrunde gehen, weil sie Russland außer dem Bösen nichts gebracht haben.“

Gott ist mit ihm, mit Petrograd!" sagt der Patriot Rodsjanko im Namen des ganzen bürgerlichen Russlands. Und in gleicher Weise bezieht er sich auf die Baltische Flotte. „Mit der Einnahme von Petrograd – sagt Rodsjanko offen – wird die ganze Flotte zugrunde gehen." Aber Bedauern darüber ist nicht notwendig: „Da sind Schiffe absolut verdorben".3

Die direkte und offene Berechnung der Bourgeoisie besteht also darin, Petrograd und die baltische Flotte in die Hände Wilhelms zu übergeben. Rodsjanko kündigt recht genau an, warum dies notwendig sei: „Nach der Kapitulation von Riga", sagt er, „wurde eine Ordnung eingeführt, wie sie nie gesehen wurde, zehn führende Leute wurden erschossen, die Polizisten kehrten zurück, die Stadt ist völlig sicher."

Der Patriot Rodsjanko reicht dem deutschen Kaiser die Hand, vielleicht verabredet er sich schon durch Dritte mit dem Kaiser über die gemeinsame Strangulierung der Baltischen Flotte und Petrograds. Und Kerenski beschwert sich im Vorparlament über „Verleumdung" und schwadroniert über die Rettung Petrograds. Aber wer glaubt Kerenski? Erstens hatte Kerenski im August mit Kornilow zusammengearbeitet, um drei Kavalleriekorps nach Petrograd zu schicken, um die Garnison und das Proletariat „zu beruhigen". Und zweitens ist Kerenskis Hauptaufgabe in der Regierung jetzt vor allem das Reden. Gegenwärtig werden die Angelegenheiten hinter den Kulissen geregelt. Dort erwarten die Rodsjankos, Miljukows, Gutschkows, Rjabuschinskis, Kaledins mit Ungeduld Wilhelm, der Petrograd genau die Ordnung bringen muss, die er Riga brachte.

Für die Bourgeoisie ist die Fortsetzung des Krieges jetzt nicht mehr zum Sieg nötig (sie glaubt nicht an den Sieg), sondern zur Ausrottung der Revolution. Die baltische Flotte, Kronstadt, Petrograd den Deutschen ausliefern, die Armee erschöpfen, ihren Geist brechen, die Bauern teilen und unterdrücken – das sind die teuflischen Projekte der besitzenden Klassen. Jeder Arbeiter, Soldat, Matrose und Bauer muss dies deutlich machen!

Die baltischen Matrosen haben kürzlich auf dem Nördlichen Regionalkongress der Sowjets durch ihren Vorsitzenden Genossen Dybenko angekündigt: „Nur die Sowjetregierung kann die Baltische Flotte, Petrograd und die Revolution retten, die allen Völkern einen sofortigen Frieden bieten wird."

Und die gleiche Stimme kommt aus den Schützengräben zu uns. Jeden Tag kommen die Delegierten der Armee, der Regimenter und der Korps zu uns, zum Sowjet, und sie sprechen alle mit einer Stimme:

Die Armee kann nicht länger warten, sie ist barfuß, unbekleidet und hungrig, der Winter kommt herein. Die Soldaten haben den Glauben an die Lügen der bürgerlichen und Vaterlandsverteidiger-„Patrioten“ verloren, hinter denen die Rodsjankos tätig sind. Der Frieden ist für sie die einzige Rettung. Die Geduld der Armee ist nicht endlos. Was ist, wenn die Armee in einem Anfall von Verzweiflung zurück ins Hinterland zieht? Dann ist die Revolution gestorben. Es gibt nur eine Rettung: den Vorschlag für einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten!“

Aber die jetzige Regierung ist unfähig, kann und will diesen Weg nicht gehen: Sie handelt auf Geheiß russischer und alliierter Rodsjankos. Sie ist nicht dem Volk, sondern den Börsianern verantwortlich. „Die Kerenski-Regierung", erklärte der Petrograder Sowjet, „ruiniert das Land." So ist die schreckliche Wahrheit. Jeder Tag bringt uns dem Verderben näher. Wenn Petrograd fällt, ist es zu spät, um von Rettung zu sprechen: Wenn der Kopf abgeschlagen ist, weint das Haar nicht. Es ist notwendig, jetzt zu handeln, bevor es zu spät ist. Die Sowjets müssen die Macht übernehmen. Der Allrussische Sowjetkongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der am 20. Oktober zusammentritt, muss im Namen der Armee dem Proletariat und der revolutionäre Bauernschaft einen sofortigen Waffenstillstand vorschlagen. In allen Ländern ist die innere Lage bis zum Äußersten angespannt. Überall und allerorts werden Armeen und Volksmassen von dem Verlangen nach unmittelbarem Frieden erfasst. Der Winterfeldzug bedroht Europa wie ein schreckliches Gespenst. Unter diesen Bedingungen wird die Stimme der revolutionären Sowjetmacht entscheidend sein. Die Fortsetzung des Krieges wird für die Regierungen Europas unmöglich werden, wenn Russland Frieden anbietet.

Soldaten, Arbeiter, Bauern! Die Regierung der konterrevolutionären Bourgeoisie ruiniert das Land. Retten kann es nur der Allrussische Sowjetkongress. Er muss den Frieden anbieten. Diesen Vorschlag werdet ihr mit eurer ganzen Kraft unterstützen. Es geht um Leben und Tod. Unser Volk will leben. Jeder, der es zu Tod und Zerstörung stößt, muss rücksichtslos weggefegt werden!

1 Diesen Satz äußerte Kerenski in einer Abschlussrede auf der Sitzung der Moskauer Staatsberatung am 15. August 1917.

2 Die Sitzung der Soldaten, die diese Frage diskutierte, fand am 6. Oktober statt. Siehe die Rede von L. D. Trotzki und die Resolution dieser Versammlung.

3 Bei John Reed sind diese Sätze folgendermaßen übersetzt: „Petrograd ist in Gefahr“, schrieb er [Rodsjanko]. „Ich sage mir, ‚überlassen wir Petrograd unserem Herrgott‘. Sie fürchten, wenn Petrograd verloren ist, dann werden auch die zentralen revolutionären Organisationen vernichtet werden. Dazu sage ich, dass ich überglücklich sein werde, wenn all diese Organisationen vernichtet sind; denn sie werden nichts als Unglück über Russland bringen …

Mit dem Fall Petrograds wird auch die Baltische Flotte vernichtet werden ... Aber das braucht uns nicht leid zu tun; die meisten Kriegsschiffe sind ohnehin völlig demoralisiert ...“ [der Übersetzer]

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