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Leo Trotzki 19171004 Rede in der Sitzung des Petrograder Sowjets zum Bericht über die Demokratische Beratung

Leo Trotzki: Rede in der Sitzung des Petrograder Sowjets

zum Bericht über die Demokratische Beratung

(21. September)1

[„Rabotschij Putj“ Nr. 19, 7. Oktober (24. September), 1917. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 1. Москва-Ленинград, 1924]

Genossen! Ich gestehe, ich hörte mit einiger Überraschung die Argumente der Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Gegen die Losung: „Alle Macht den Sowjets!“ (Eine Stimme ist zu hören: „Dieser Losung wurde aus Deutschland gebracht!“) Nein, Genossen, antwortet Genosse Trotzki die Losung kommt nicht aus Deutschland, aber der Zwischenruf kommt von der Gegenspionage! (Lachen, stürmischer Beifall).

Genossen, denkt euch in ihre Argumente hinein! Erinnern sie euch nicht an die Argumente der eingefleischten Reaktionäre der vorrevolutionären Zeiten gegen das allgemeine Wahlrecht? „Wie können Sie“, fragten sie, „ein solches Wahlrecht einer unaufgeklärten Analphabetenmasse geben?“ „Wie können Sie“, sagt Genosse Kaplan, „bei der Unaufgeklärtheit unserer Bauern und vieler Soldaten die Übertragung aller Macht an die Sowjets fordern?“

Der gleiche Einwand wird jetzt gegen unsere Losung erhoben. Es ist wahr, wir haben niemals Macht in unseren Händen gehabt, wir sagen, wir haben keine „Erfahrung“, vielleicht werden wir zuerst Fehler machen … Aber allmählich werden wir das Regieren lernen. Wenn wir jetzt nicht die Macht in unsere Hände nehmen, bleiben wir unerfahren. Geben Sie dem Volk Macht, und es wird lernen, sie zu besitzen!

Warum haben Sozialrevolutionäre und Menschewiki diesen Einwand nicht erhoben, als wir das allgemeine Wahlrecht hatten?

Genossen, bei den Wahlen zu den Stadtdumas und den Sowjets gingen alle Stimmen an uns, die Bolschewiken und die Sozialrevolutionäre, mit deren linkem Teil wir immer leichter übereinkommen. Das gleiche passiert bei allen anderen Wahlen. So gibt das Volk den sozialistischen Parteien die Macht. Werden wir sie der Bourgeoisie übertragen, wie es die demokratische Beratung vorschlägt?

Es wäre ein krimineller Unglaube an die eigene Kraft.

Alle Sozialisten unterscheiden sich weniger in den Programmen von einander, der ganze Punkt ist, wie die Programme umgesetzt werden. Aber die Programme existieren nur, um sie möglichst vollständig umzusetzen. Das ist unsere Aufgabe. Wenn wir die Macht der Bourgeoisie übertragen, wozu dann alle Programme?

Wenn wir versuchen, das Programm möglichst vollständig umzusetzen, wird uns gesagt, dass wir uns selbst isolieren. Ja, wir isolieren uns von all denen, die eine Vermittlung mit der Bourgeoisie suchen. Aber wir isolieren uns nicht von den Volksmassen überhaupt. Wir sind in der Mehrheit in allen revolutionären Organisationen, während die Menschewiki zunehmend von den Massen wegbrechen.

Zereteli zum Beispiel verließ unseren Sowjet, und musste sich dann auf das ZEK stützen, das auf dem Kongress gewählt wurde, der selbst damals gegenüber den Provinzlern zurückgeblieben war und weniger aktiv ist als der Sowjet.

Aber das ZEK scheiterte schon pompös mit seinem Vorschlag einer Koalition mit den Kadetten und fängt nun an, sich mehr auf Genossenschaftler, Duma-Mitglieder und Semstwo-Mitglieder zu stützen. Es bewegt sich den ganzen Weg immer weiter nach rechts und entfernt sich zunehmend von den Massen.

Sie sagen, dass es nur vier Kadetten in der Demokratischen Beratung gibt.2 Ja, Genossen, es gibt vier offene Kadetten und Dutzende von Kadetten, die ihre Denkweise verbergen.

Die Genossenschaftler sagen, dass sie von Millionen gewählt werden. Das ist wahr, aber für die Genossenschaftstätigkeit, nicht für die Politik. Deshalb verkörpern sie nicht die politische Physiognomie ihrer Wähler. Für die Politik sind jedoch die Sowjets gewählt, und die Mehrheit in ihnen ist jedem bekannt.

Wir wurden beschuldigt, wegen der Spaltung in der Versammlung schadenfroh zu sein. Das ist nicht wahr. Wir protestieren nur gegen ihre Zusammensetzung. Wir haben dieses Treffen nicht einberufen. Es bekam die Schaffung einer revolutionären Regierung nicht hin, und ein repräsentativer Körper bekam es nicht hin.

Genossen, wir haben die Selbstherrschaft gestürzt, weil wir keine individuelle Macht wollten, aber hier ist sie hinter unserem Rücken entstanden. Die Demokratische Beratung sollte, wie die Zeretelli-Resolution sagt, Kerenski bei der Schaffung der Macht „unterstützen“. Es wird auch gesagt, dass die Regierung das Vorparlament anerkennen sollte, aber die Beratung wurde nicht einberufen, damit die Macht das revolutionäre Volk anerkenne, sondern damit das revolutionäre Volk die Macht anerkenne.

Auf diese Worte muss wachsam achtgegeben werden, oder man kann die gesamte russische Revolution verpassen.

Wir protestierten, da wir die Macht uns verantwortlich machen wollen und wir sie deshalb schaffen müssen. Dann ist eine seltsame Situation eingetreten. Zereteli sagte, dass er selbst eine Resolution verfasste und uns seine Resolution zur Abstimmung stellte.

Wir verließen die Demokratische Beratung nicht, weil wir von Zereteli beleidigt wurden, sondern wegen seiner Aussage, dass wir für seine Resolution gestimmt zu haben scheinen. Wenn wir es getan hätten, sollten wir mit einem Besen aus allen Ecken gekehrt werden. Wir haben es für nötig gehalten, scharf zu sagen, dass wir nicht für die Macht, die uns angeboten wird, stimmen können. Immerhin war es eine Frage der revolutionären Macht, das Schicksal der ganzen Revolution wurde entschieden. Wir beschlossen, die Interessen des revolutionären Volkes streng zu beachten, denn das ist das höchste Gesetz für uns!

Sie sagen, dass wir Bolschewiki alle Macht in unsere eigenen Hände nehmen wollen … Was ist daran so seltsam? Es gibt keine Partei, die nicht nach der Macht strebt. Was ist eine Partei? Das ist eine Gruppe von Menschen, die nach Macht strebt, um ihr Programm durchführen zu können. Eine Partei, die keine Macht will, ist unwürdig, eine Partei zu heißen. Wenn es wahr ist, dass die meisten Sowjets keine Macht wollen, dann haben sie anscheinend noch nicht ihre Reihen gesäubert (Beifall). Diese Säuberung muss sofort durchgeführt werden.

Genosse Brojdo machte uns Vorwürfe dafür, dass wir nach Macht streben und uns auf ein „vielleicht“ verlassen, auf Glück. „Sowjetmacht wir haben noch nicht gehabt“, sagt er. „Werden wir damit umgehen können?“

Tatsächlich – antworte ich – hatten wir noch keine Sowjetmacht, aber wir hatten bis zum 28. Februar auch keine Republik. Also haben wir einen Fehler gemacht!

Wir haben die Koalitionsmacht ausprobiert, und es ist klar, dass wir jedenfalls überzeugt sind, dass die Koalitionsregierung nicht gut ist, auch wenn man Zweifel haben kann, ob das eine relativ einheitliche Macht war.

Dann sagte Genosse Brojdo, dass in Moskau die ganze Demokratie vereint war … War es wirklich die ganze? Schließlich gab es in der Moskauer Beratung keine Bolschewiki. Aber 600.000 Moskauer Arbeiter waren im Streik, protestierten gegen das Treffen, und die Delegierten mussten zu Fuß vom Bahnhof zum Bolschoi-Theater gehen … (Lachen) Wer ist uns näher und lieber: Die Herren Delegierten oder die Moskauer Arbeiter?

Wir ziehen es vor, uns mit den Arbeitern zu vereinigen.

Zereteli aber entschloss sich, sich mit den Genossenschaftlern, den Semstwos usw. zu vereinigen. Nach dem Verlassen des proletarischen Sowjets ging er durch das Zentrale Exekutivkomitee noch weiter nach rechts und reichte Bublikow die Hand.3

Diese Linie Zeretelis – vom Proletariat zur liberalen Bourgeoisie – isolierte ihn völlig von der Umgebung, aus der er hervorgegangen war.

Nur eine Partei, die alle Fragen kategorisch stellt, nur eine solche Partei kann dazu beitragen, die gesamte revolutionäre Demokratie zu vereinen. Wir haben keine Angst vor der Isolation von den Oberschichten, wir haben Angst vor der Isolation vom Proletariat.

Lasst uns jeden Kompromiss beiseite legen! Nur dann werden wir alle Feinde besiegen und die Freiheit und Zustimmung unseres Volkes errichten! (Stürmischer, langer unaufhörlicher Applaus).

1 Am 21. September fand eine Plenarsitzung des Petrograder Sowjets statt, bei der eine Reihe von äußerst wichtigen Fragen erörtert wurden, zum Beispiel: Wiederwahl von Mitgliedern des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets, Bestätigung der Wahl des Exekutivkomitee der Soldatensektion. Unter Punkt 3 der Tagesordnung – zur Demokratischen Beratung – erstattete Bucharin einen Bericht. Nach den Reden des Menschewisten Brojdo und des Sozialrevolutionärs Kaplan hielt Genosse Trotzki eine Rede. Nach der Debatte wurde eine Resolution angenommen, die von Bucharin verlesen wurde. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre nahmen an der Abstimmung nicht teil.

2 Bekanntlich weigerte sich das Zentralkomitee der Kadettenpartei offiziell, an der Demokratischen Beratung teilzunehmen.

3 Hier denken wir an das folgende „bewegende“ Ereignis, das in den Tagen der Staatsberatung stattfand. Das große Eisenbahn-As Bublikow tauschte, nachdem er seine Rede unter heftigem Beifall des bürgerlich-kompromisslerischen Saals beendet hatte, einen starken Händedruck mit Zereteli. Die Zeitungen priesen das dann als eine lebendige Manifestation der Einheit der „lebendigen Kräfte“ des Landes.

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