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Leo Trotzki 19191107 Petrograd

Leo Trotzki: Petrograd

(Oktober 1917 – 1919)

[Prawda Nr. 250, 7. November 1919. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 2. Москва-Ленинград, 1925]

Zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution steht Petrograd wieder im Zentrum der intensiven Aufmerksamkeit des ganzen Landes. Und wie schon vor zwei Jahren ist Petrograd von Südwesten in Gefahr, und genau wie damals, Ende Oktober 1917 (alten Stils), wird auf den Höhen von Pulkowo das Schicksal Petrograds entschieden.

Die damaligen militärischen Operationen, sowohl von der Gegenseite als auch von unserer Seite, waren von einer Atmosphäre völliger Unsicherheit umgeben. Niemand konnte uns auch nur annähernd sagen, welche Kräfte auf uns zukamen. Manche sagten tausend Kosaken, andere drei-, fünf-, zehntausend usw. Die bürgerliche Presse und die bürgerlichen Gerüchte (über beide wurde noch sehr viel geredet) übertrieben die Krasnow-Truppen enorm. Ich erinnere mich an die erste verlässliche Information über die Anzahl der Kosaken, die vom Genossen Woskow kam, der in Sestroretsk ihre Staffel beobachtete und kategorisch darauf bestand, dass bei den Kosaken nicht mehr als tausend Mann waren. Aber es war immer noch möglich, dass andere Abteilungen in Marschordnung gekommen waren, – Woskow hat nur von den Eisenbahnstaffeln gesprochen.

Die Kräfte, die wir den Kosaken entgegenstellen konnten, waren ebenso vage. Zu unserer unmittelbaren Verfügung befand sich die sehr große Petrograder Garnison. Aber sie bestand aus Regimentern, die in den ersten Erschütterungen der Revolution ihre Kampfkraft verloren hatten. Die alte Disziplin brach zusammen mit dem alten Kommandostab zusammen. Die Revolution verlangte die Zerstörung des alten Militärapparates. Neue militärische Disziplin gab es noch nicht. Hastig wurden Abteilungen der Arbeiter-Roten-Armee geschaffen. Wie war ihre Schlagkraft? Niemand sonst konnte das sagen. Wir wussten nicht genau, wo die notwendige Ausrüstung war. Die alte Militärmacht hatte es nicht eilig, sie uns zur Verfügung zu stellen. Die neue Macht kannte den Weg zu ihr nicht. All dies schuf ein Umfeld extremer Unsicherheit, in dem Panikgerüchte leicht aufkamen und sich verbreiteten.

Im Smolny wurde unter Beteiligung von Genossen Lenin und mir (ich kann mich nicht genau erinnern, in welcher Anzahl) eine Garnisonsversammlung unter Beteiligung des Kommandostabes einberufen.1 Ein Teil der Offiziere war zu dieser Zeit bereits verschwunden. Aber ein bedeutender Teil blieb bei ihren Regimentern, ohne zu wissen, was zu tun war, und hielt es aus Tradition für inakzeptabel, seine Abteilung zu verlassen. Keiner der Offiziere, die an diesem Treffen teilnahmen, gestattete sich auch nur, eine Unannehmbarkeit von „Bürgerkrieg" und eine Unerwünschtheit von Widerstand gegen Kerenski und Krasnow zu erwähnen. Dies erklärte sich hauptsächlich durch die völlige Verwirrung der Offiziere, die keinen Grund hatten, das Kerenski-Regime zu schätzen, aber für die es auch keinen Grund gab, sich über das Aufkommen des Sowjetregimes zu freuen. Es gab noch kein organisiertes Lager der Konterrevolution. Die Entente-Agentur hat ihre Netzwerke noch nicht befestigt. Unter solchen Bedingungen bestand die einfachste Lösung für den Stab darin, am eigenen Regiment festzuhalten und dessen Entscheidungen auszuführen. Dazu müssen wir hinzufügen, dass der Stab bereits gewählt wurde. Die bösartigsten Elemente waren entfernt.

Keiner der Kommandanten wollte jedoch die Verantwortung für die Leitung der gesamten Operation übernehmen – zum Teil, weil es unter den Teilnehmern des Treffens, soweit ich mich erinnere, keine Personen mit ernsthaften Kampferfahrungen gab, und vor allem, weil niemand seine Kopf zu weit vorstrecken wollte, da niemand wusste, was daraus werden würde. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, Regimentskommandeure zu bekommen, fiel die Wahl auf Oberst Murawjow, der später eine bedeutende Rolle in den militärischen Operationen Sowjetrusslands spielte.

Murawjow war ein geborener Abenteurer. In dieser Zeit hielt er sich für einen linken Sozialrevolutionär (die linken Sozialrevolutionäre waren damals ein Deckmantel für viele, ein Schlupfloch für die, die sich an das Sowjetregime klammern wollten, aber nicht die schwere Last der bolschewistischen Disziplin auf sich zu nehmen wagten). Nach seiner militärischen Vergangenheit war Murawjow anscheinend Taktiker an der Junker-Schule. Murawjow war ein Chlestakow2 und Angeber, war jedoch nicht ohne militärisches Talent, Schnelligkeit der Auffassungsgabe, Kühnheit, die Fähigkeit, sich dem Soldaten zu nähern und ihn zu ermutigen. In der Kerenski-Ära machten die abenteuerlichen Qualitäten Murawjows ihn zum Organisator von Schockkampfabteilungen, die bekanntermaßen weniger gegen die Deutschen als gegen die Bolschewiki gerichtet waren. Nun, mit der Annäherung Krasnows an Petrograd, stellte Murawjow selbst sehr beharrlich seine Kandidatur für den Posten des Kommandanten der Sowjettruppen auf. Nach einem klaren Zögern wurde seine Kandidatur angenommen. Murawjew wurden fünf Soldaten und Matrosen, die von der Garnisonsversammlung gewählt wurden, zugeteilt, denen geraten wurde, Murawjow unverkennbar zu überwachen und ihn im Falle des geringsten Verratsversuchs zu entfernen.

Murawjow änderte sich jedoch nicht. Im Gegenteil, mit der größten Heiterkeit und dem Glauben an den Erfolg setzte er sich an die Arbeit. Im Gegensatz zu anderen Militärarbeitern jener Zeit, insbesondere zu Parteifunktionären, beschwerte er sich nicht über Mängel, Lücken, Sabotage, sondern stopfte im Gegenteil alle Löcher mit fröhlichen Wortschwällen, die allmählich auch andere mit dem Glauben an Erfolg ansteckten.

Die wichtigsten organisatorischen Arbeiten fielen jedoch auf die Arbeiterbezirke. Sie suchten nach notwendigen Gewehrpatronen, Granaten, Waffen, Pferden und Geschirren und rollten improvisierte Batterien zu Stellungen hinaus, die sich in der Zwischenzeit Petrograd immer mehr näherten. Die entscheidende Schlacht fand an den Pulkowo-Stellungen statt.

Die Regimenter der Petrograder Garnison traten ziemlich träge auf. Damals, zu Beginn der Oktoberrevolution, hatten die arbeitenden Massen noch nicht das Bewusstsein, dass ein schwerer Kampf zur Festigung des Umsturzes unausweichlich war. Mit der ideologischen Kraft der Revolution, die die Massen ergriffen hatte, schien es, als ob das Problem durch Agitationsmaßnahmen, durch die Kraft des Wortes gelöst werden würde. Bewaffnete Zusammenstöße mit den Kosaken erschienen ihnen als ein bedauerliches Missverständnis, das versehentlich den siegreichen Verlauf der Oktoberrevolution verletzte. Sie nahmen die anstehenden Kämpfe nicht ernst und bevorzugten, dem Feind Agitatoren und Parlamentäre zu schicken.

Die Petrograder Proletarier nahmen die Dinge ernster als die Soldaten der Garnison, aber sie konnten nur hastig geschaffene Abteilungen der sogenannten Roten Garde aufstellen ...

Das Ergebnis der Schlacht wurde von der Artillerie entschieden, die von den Pulkowo-Höhen erhebliche Verwüstungen in die Reihen der Kavallerie Krasnows brachte. Sie gaben 300-500 Tote und Verwundete an. Die Zahl ist zweifellos übertrieben. Die Kosaken kämpften ohne jeden Eifer. Ihnen war versichert worden, dass die Petrograder Bevölkerung sie als Retter empfangen würde, und ein kleiner Artillerieangriff reichte aus, um ihre Bewegung zu stoppen. Sie hielten und fingen an, gegen ihre Kommandanten zu murren, sich einzumischen und Verhandlungen mit Vertretern der Roten Garden aufzunehmen. Sobald sich die Sache auf das Feld der Verhandlungen verschob … hier waren wir definitiv stärker. Die Kosaken zogen sich nach Gatschina zurück, wo sich das Hauptquartier Krasnows befand. Kerenski floh und betrog Krasnow, der offenbar ihn betrügen wollte. Die Adjutanten Kerenskis und Woitinski, die bei ihm waren, wurden von ihm der Gnade des Schicksals überlassen und wir nahmen sie wie den ganzen Stab Krasnows gefangen.

Der Angriff war zurückgeschlagen, die Oktoberrevolution war gefestigt. Zur gleichen Zeit begann die Epoche eines kontinuierlichen, angespannten Bürgerkriegs.

Zwei Jahre später müssen wir wieder die Oktoberrevolution auf denselben Pulkowo-Höhen verteidigen. Krasnow wurde im Jahre 1917 unüberlegt in die Freiheit entlassen und kämpft jetzt in den Streitkräften Judenitschs und bei demselben Gatschina, wo er gefangen genommen wurde. Hinter diesen Ähnlichkeitsmerkmalen ist jedoch ein großer Unterschied! Damals wimmelte Petrograd immer noch mit bürgerlichen und Intelligenzler-Elementen, -Gruppen, -Kreisen, -Parteien und -Zeitungen, und all diese bunt zusammengewürfelte Sippschaft glaubte, dass die Welt daran festhalte, dass die Sowjetmacht ein kurzlebiger Unfall sei. Das Proletariat trat mit großer Enthusiasmus, mit großem Glauben, Elan, aber mit einem großen Maß an Selbstzufriedenheit in seine Revolution ein. Während dieser zwei Jahre ging der Besen der Revolution durch die Petrograder Bourgeoisie. Auf der anderen Seite gingen die Arbeiter von Petrograd durch große Prüfungen. Der Enthusiasmus brennt nicht mit so einer äußerlich hellen Flamme wie vor zwei Jahren, aber es kamen Erfahrung, Festigkeit, Sicherheit, seelische Kraft hinzu. Der Feind organisierte sich und wurde stärker. Es sind nicht tausend Kosaken, die nach Petrograd kommen, sondern viele Hunderttausende Soldaten, die mit den Mitteln des Weltimperialismus bewaffnet sind, fallen im Oktober-Russland ein. Petrograd wird von Zehntausenden von weißen Soldaten bedroht, die perfekt bewaffnet sind. Englische Schiffe schießen an unserer Küste Fünfzehnzöller-Granaten ab. Aber wir wurden stärker. Es gibt keine alten Regimenter. Improvisierte Abteilungen bewaffneter Arbeiter sind ebenfalls antiquiert. Ihr Platz wurde von der ordnungsgemäß organisierten Roten Armee übernommen, die – was nicht zu leugnen ist – Momente des Niedergangs, Misserfolge und sogar Feigheit kennt, die aber letztlich in der Minute der Gefahr immer die notwendige Energie zu konzentrieren und den Feind zurückweisen weiß.

Vor zwei Jahren war Petrograd der große Aufwiegler. Jetzt will der internationale Imperialismus in Petrograd seine Kraft beim Erwürgen der Revolution zeigen. Der Kampf um Petrograd nimmt den Charakter eines Weltduells zwischen der proletarischen Revolution und der kapitalistischen Reaktion an. Wenn dieser Kampf für uns ungünstig enden würde, das heißt, selbst wenn wir Petrograd vorübergehend aufgeben würden, würde dieser schwere Schlag keineswegs den Zusammenbruch der Sowjetrepublik bedeuten. Hinter uns befindet sich ein riesiger Brückenkopf, der uns erlauben würde, bis zum vollständigen Sieg der proletarischen Revolution in Europa zu manövrieren. Aber unser Sieg im Petrograder Duell würde einen erdrückenden Schlag gegen den anglo-französischen Imperialismus bedeuten, der zu viel auf Judenitschs Karte gesetzt hat. Wir kämpfen um Petrograd und verteidigen nicht nur die Wiege des proletarischen Aufstands, sondern wir kämpfen auf direkteste Weise für seine weltweite Ausbreitung. Dieses Bewusstsein vervielfacht unsere Stärke. Wir werden Petrograd nicht aufgeben. Wir werden Petrograd verteidigen.

1 Dieses Treffen fand am 29. Oktober [11. November] statt. Siehe den „Bericht bei der Beratung der Regimentsvertreter der Petrograder Garnison."

2Hauptfigur aus Nikolai Gogols Komödie „Der Revisor” (1836), ein Hochstapler. [Der Übersetzer]

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