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Leo Trotzki 19281022 Brief an die Tscheboksarer

Leo Trotzki: Brief an die Tscheboksarer

[„Rundbrief Nr. 42". Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen Übersetzung, unter dem Titel „Как критиковать центристов?“, Wie die Zentristen kritisieren?]

Liebe Genossen Tscheboksarer,

auf Ihren Brief vom 22. September antworte ich mit einiger Verzögerung, da ich in den letzten Wochen sehr beschäftigt war. Ich beantworte die Punkte.

1. Meine Gesundheit war nach der letzten Periode – nach einer langen Chininbehandlung – viel besser. Ich arbeite wieder ohne Unterbrechungen. Ich gehe sogar auf eine große Jagd. Ob die Malaria in diesem Herbst zurückkehrt, wird die Zukunft zeigen.

2. Ich bin erfreut über Ihre Anmerkungen zur „Programmkritik". Leider musste ich die Arbeit mit dem höchsten Maß an Eile schreiben. Nachdem ich sie abgeschickt hatte, fand ich in ihr viele Lücken und in meinen eigenen Ordnern fand ich viele Aufzeichnungen, Zitate, Dokumente, die hätten verwendet werden können, um zu klären und zu ergänzen, was in der Kritik gesagt wurde. Nun, da kann man nichts machen. Das nächste Mal kann man mehr erzählen.

3. Ich hoffe, dass die „Chinesische Frage nach dem Sechsten Kongress" Sie erreichen wird, eine Arbeit, die sich den unmittelbaren Perspektiven und Aufgaben in China widmet und insbesondere die Losung der Verfassungsgebenden Versammlung begründet.

4. Sie werfen die Frage nach der „Permanenten Revolution" auf – sozusagen in einer rückblickenden Darstellung, d.h. mit Blick auf die Vergangenheit. Ja, die Frage wurde gestellt, und man muss sie beantworten. Ich habe den Rohentwurf einer Arbeit, die sich zu dieser Frage gegen Stalin-Bucharin richtet, die weder die Leninsche Stellung der Frage noch meine verstanden haben und sie gerade in der Hauptfrage einander gegenüberstellen, die sie einander annähert. Sobald ich mich von den drängendsten Aufgaben freimache, werde ich mich mit der „Permanenten Revolution" befassen, d.h. ich werde die alte Arbeit beenden. Dies wird jedoch mindestens zwei bis drei Wochen dauern, da die Arbeit sehr umfangreich ist.

5. Sie „arbeiten" ziemlich meine Definition hinsichtlich des „linken Kurses" „durch“. Dass Sie sehr geschickt alle Unvollkommenheiten meiner Terminologie in Beziehung auf den zentristischen Zickzack erwischt haben, das gestehe ich ein. In einem Falle spreche ich von einer „Wendung", in einem anderen von einer „Verschiebung", hier von einer „sich vollziehenden" Wendung, dort von einer „vollzogenen" und so weiter. All das ist wahr, aber bis zu einem gewissen Grade setzen sie Grammatik an die Stelle der Politik. Keine Wissenschaft hat bisher genaue Begriffe für zentristische Zickzacks ausgearbeitet. Die Wendung (das heißt die bekannte Wendung1) fand am 15. Februar statt, d.h. es gab einen Knick in der Linie. Aber diese Linkswendung „vollzieht sich", da sie auf andere Bereiche oder auf andere Parteien (z.B. die Tschechoslowakei) übertragen wird. Wenn die Sache sich um einen unvollendeten und darüber hinaus innerlich widersprüchlichen Prozess handelt, kann man auf der Suche nach einer genauen und vollständigen Terminologie in Schematisierung verfallen und die Punkte nicht da anordnen, wo es nötig ist.

So kann Ihr Brief in dem Sinne verstanden werden, dass der Kampf der Rechten mit den Zentristen beendet sei und dass der Juli die endgültige Bilanz brachte. In Genosse Newelsons Brief ist die Möglichkeit zugelassen, dass sich die Zentristen in einer gewissen neuen Etappe uns nähern werden (natürlich nur unter dem Einfluss großer objektiver Gründe: Widersprüche, Druck der Massen, etc.). Über dieses Thema rede ich jedoch im beigefügten Brief an eine Reihe von Genossen ausführlicher, so dass ich mich nicht wiederholen werde.

6. In seinem Brief über die Richtung des Feuers kommt Genosse Newelson zu dem absolut unbestreitbaren Schluss, dass das Hauptfeuer gegen den Zentrismus als Schutz, Unterstützung und Rückhalt der Rechten in der Partei gerichtet werden muss. Leider hat Genosse Newelson nicht angemerkt, dass dies bis zu dieser Zeit bereits der Fall war. Gegen wen haben wir das Feuer in allen Artikeln, Reden, Plattformen usw. gerichtet? Gegen Stalin und gegen Bucharin, in dem Maße, in dem letzterer sich mit Stalin identifizierte. Den Rechten waren bei uns in der Plattform ein paar Dutzend Zeilen gewidmet. Auf sie wurde einfach mit dem Finger gezeigt. Mehr brauchte man bei den Arbeitern auch nicht. Unverhüllt werden die Rechten die Arbeiter nicht bewegen. Alles Feuer der Kritik konzentrierten wir die ganze Zeit fast ausschließlich auf die Zentristen. Aber es gibt noch eine andere, nicht minder wichtige Seite der Sache, der nicht übersehen werden darf. Die Zentristen stützen sich durch den Apparat auf die undifferenzierte Masse der Parteimitglieder, zu der auch Arbeiter gehören. Die Rechten stützen sich durch den Sowjetapparat auf die neuen Eigentümer. Solange Zentrum und Rechte „monolithisch" handeln, benutzt Stalin die ganze Macht der Eigentümer gegen uns und Rykow2 – die Unterstützung der Arbeiter. Der Bruch zwischen Zentrum und Rechten würde einen Klassenriss bedeuten, und die Eigentümer würden weiter als Rykow nach rechts ziehen, und die Arbeiter würden weiter als Stalin nach links ziehen. In der Perspektive kann es zwischen der Armee der Rechten und uns sogar einen Bürgerkrieg geben und mit der Armee der Zentristen eine Einheitsfront. Ich spreche von Armeen, d.h. von Klassen, und nicht von Spitzengruppen. Ein kompletter Selbstmord wäre, die Kritik am Zentrismus zu mildern, mit dem Ziel, den Massen näher zu kommen, die heute mit dem Zentrismus gehen. Aber es ist völlig richtig und politisch sinnvoll, sich an diese Massen zu wenden, um zu sagen:

Ihr fürchtet eine Spaltung? Ihr fürchtet Erschütterungen? Also macht die vollzogene oder sich vollziehende Wendung in Eurer Führung, der ihr vertraut, und der wir nicht im Mindesten vertrauen, 3zum Ausgangspunkt für einen linken Kurs. Wir sind bereit, euch auf diesem Weg in jeder Hinsicht zu helfen. Lasst uns zunächst diese und jene bescheidenen Forderungen an die Führung stellen (die Rückkehr der Opposition, eine ehrliche Einberufung des Parteitags, eine Kürzung des Parteibudgets usw.) – und auf diese Weise die politische Linie und die einfache Gewissenhaftigkeit der Führung überprüfen.“

Diese Herangehensweise an die Zuhörerschaft ist absolut richtig. Jeder Oppositionelle in einer Zelle oder bei einer Arbeiterversammlung wird genau das tun, wenn es sich um einen Bolschewisten-Leninisten und nicht um eine fanatische Dezisten handelt, der der Partei den Rücken zukehrt und entscheidet, dass die Partei ein Leichnam sei (W. Smirnow). In dem Maße, indem Sie durch den Ton meiner Herangehensweise an die Zuhörerschaft verwirrt sind, in dem Maße haben Sie, wie mir scheint, Unrecht. Prinzipielle Zugeständnisse gibt es bei dieser Herangehensweise nicht. Denn die Umwandlung des linken Zickzacks in einen linken Kurs ist nicht ausgeschlossen (sie war gestern nicht ausgeschlossen und kann sich morgen als nicht ausgeschlossen erweisen) – unter einer kleinen Voraussetzung: der wachsenden Massenaktivität und dem wachsenden Einfluss der Opposition auf diese Massen.

Damit schließe ich. Ich fürchte, ich habe schon zu viel geschrieben und habe mich irgendwo in der Gegenwart und Vergangenheit „verbummelt". Nehmen Sie dies jedoch nicht ernst: Ich freue mich nur über das sorgfältige und genaue Lesen aller unserer Dokumente durch Sie. Genauigkeit ist eine gute alte marxistische Tradition.

Ich drücke Ihnen fest die Hände und wünsche Ihnen alles Gute.

L. Trotzki

Alma-Ata, 22. Oktober 1928

1 In der englischen Übersetzung: „allerdings eine Wendung in einem gewissen Grad“

2 In der englischen Übersetzung: „gegen Rykow benutzt er“

3 In der englischen Übersetzung eingefügt: „versuchen wir diese Wendung (ob vollzogen oder im Prozess) … zu machen“

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