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Leo Trotzki 19281100 Der elfte Jahrestag des Oktobers

Leo Trotzki: Der elfte Jahrestag des Oktobers

[Eigene Übersetzung nach dem russischen Text]

Der 11. Jahrestag der Oktoberrevolution ist der größte Festtag des internationalen Proletariats. Wir, die Bolschewiki-Leninisten (Opposition), die die Diktatur des Proletariats im Untergrund vorbereitet haben, die auf den Barrikaden des Oktober gekämpft, die Sowjetmacht im Bürgerkrieg verteidigt und den Arbeiterstaat aufgebaut haben, feiern diesen Tag als unseren Festtag. Die herausragende Bedeutung des Oktober-Sieges der Werktätigen und Unterdrückten erkennen und empfinden wir viel tiefer als die Mehrheit der gegenwärtigen Bürokratie, die zur Hälfte seine revolutionär-proletarische Herkunft vergessen hat und den Oktober-Jahrestag zu einem staatsoffiziellen Tag macht.

Der 7. November ist für uns jedoch nicht nur ein Festtag, sondern auch ein Tag unruhigen Nachdenkens über die Gefahren, die den proletarischen Errungenschaften drohen. In den letzten fünf Jahren haben enorme Veränderungen stattgefunden – nicht nur zum Guten, sondern auch zum Schlechten.

Unter der Leitung des Leninschen Generalstabs führte die Partei immer ein volles Parteileben. Trotz der Qualen von Hunger und Kälte, die von Krieg und Verwüstung ererbt waren, fühlte und erkannte die Arbeiterklasse, dass sie die herrschende Klasse war, dass sie die Herrin im Land war.

Die in den ersten fünf Jahren nach dem Oktober gelegten Grundlagen, trugen Früchte. Die richtige Einführung der neuen Wirtschaftspolitik, die von der Partei unter der Führung Lenins ausgearbeitet wurde, sorgte nach dem Ende des Bürgerkriegs für das Wachstum der Produktivkräfte von Stadt und Land und die allgemeine Verbesserung des Wohlstands des Landes. Die enormen Vorteile sozialistischer Wirtschaftsmethoden kamen erstmals in der Praxis zum Vorschein trotz der fehlerhaften Politik der nachleninschen Führung, die zunehmend von der proletarischen Linie nach rechts abglitt.

Am härtesten spiegelte sich die falsche Linie von Stalin-Rykow in der Lage der Arbeiter wider. Trotz des Anstiegs der Produktivkräfte hat sich der Lebensstandard der Arbeiterklasse seit dem Herbst 1925 nicht erhöht, sondern ist in jüngster Zeit unverkennbar gesunken. Indessen steigt der Lebensstandard der nichtproletarischen Schichten der Stadt und der kulakischen Oberschichten des Dorfes ständig. Arbeitslosigkeit zersetzt die Arbeiterklasse. Gleichzeitig wächst und stärkt sich der Einfluss bürokratischer und bürgerlicher Elemente in allen Institutionen und Organisationen, in allen Bereichen der Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung. Der Arbeiter wird in den Hintergrund gedrängt. Vor unseren Augen wird eine neue Doppelmacht geschaffen.

Der denkende und rechtschaffene Proletarier schaut mit Sorge darauf, wie sich die Kraft von den Arbeitern zum Apparat, vom Apparat zur Bourgeoisie verlagert. Die Stimme der revolutionären Kritik wird unterdrückt. Lärmend proklamierte Selbstkritik verwandelte sich in bürokratisches Geschwafel.

Die Smytschka [= Bündnis] der Stadt mit dem Dorf ist das Fundament der Fundamente der proletarischen Diktatur. Die Bolschewiki-Leninisten, die zusammen mit Lenin die ersten Steine dieser Smytschka gelegt haben, beschuldigt die stalinistische Führung fälschlich und gehässig des Strebens, „die Bauernschaft auszurauben". Unterdessen schlägt die gesamte Politik Stalin-Rykows auf die Smytschka ein, am einen Ende auf die Arbeiter, am anderen auf die Bauern, die armen und mittleren Bauern. Mit der falschen Wirtschaftspolitik blieb die Rede über die Senkung der Industriepreise leere Worte. Die Führung Stalin-Rykows leugnete zunächst den Kulaken, gab ihm nach, ließ ihn in die Sowjets gehen. In einer schwierigen Minute entdeckte sie ihn, begann mit dem Artikel 107 das Dorf zu bedrängen, ohne in der Eile den Kulaken vom Mittelbauern, den Mittelbauern vom armen Bauern zu unterscheiden. Jetzt wieder eine scharfe Rechtskurve, eine Erhöhung der Getreidepreise, d.h. zunächst eine Prämie für den Kulaken. Das Werfen von einer Seite auf die andere bringt die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht, bringt Unruhe, erzeugt Unzufriedenheit.

Lenin warnte in den letzten Jahren seines Lebens unermüdlich vor den Gefahren der Bürokratie. Nach seinem Tod verzehnfachte sich die Bürokratie und der ungeheure Berg erdrückt nun die Errungenschaften des Oktobers.

Der bürokratische Apparat erhob sich über die Masse. Wahlen und Verantwortung wurden zu einem leeren Ton – in der Partei, in den Gewerkschaften, in den Sowjets. Verantwortungslosigkeit führt zu Korruption und Willkür. Der zehnte Jahrestag des Oktobers wurde mit der Niederlage des Leninschen Flügels der Partei gefeiert. Das elfte Jahr hob jedoch einen Zipfel des Schleiers über Schachty, Artemowsk, Smolensk und anderen Dingen, die eine direkte und unvermeidliche Folge des Stalinschen Regimes sind.

Mutige und selbständige Arbeiter werden von überall verdrängt und vertrieben: aus der Partei, von Sowjetposten, aus Gewerkschaften, aus Wirtschaftsorganen und schließlich aus Fabriken und Betrieben. Die Masse ist verängstigt und still. Das Übergewicht haben Egoisten und Bürokraten. Durch Kriechertum sichern sie ihr Unvermögen und ihren Mangel an Talent ab. Endlose Fehleinschätzungen und Fehler der Wirtschaftsführung trafen die Industrie und daher die Arbeiter. Bürokratismus und Verantwortungslosigkeit bedeuten für die Wirtschaft einen jährlichen Verlust von Hunderten von Millionen Rubel, die den Lebensstandard der werktätigen Massen erhöhen könnten. Und bezahlen für die Fehleinschätzungen müssen die Muskeln und Nerven der Arbeiter.

Der revolutionären Erziehung der heranwachsenden Generationen bringt die Beamtenherrschaft unüberwindliche Hindernisse. Im Komsomol, noch mehr als in der Partei, wird alles durch Befehle und Spickzettel entschieden. Die materielle Lage der heranwachsenden Arbeiter verschlechtert sich. Leninsche Ideen werden verzerrt und ausgetauscht.

Die Bürokratie versetzt auch besonders brutale Schläge den rückständigen Völkerschaften unserer Union. In den Außenbezirken noch mehr als im Zentrum, wird die Eigeninitiative der Unteren durch den Zeigestock des Beamten ersetzt. Die Willkür der Bürokratie erreicht ein beispielloses Ausmaß. Die Herren der Lage sind oft jene „Derschimordas", über den Lenin schon 1922 schrieb und die Politik Stalins in der nationalen Frage scharf verurteilte.

Der nach Lenins Tod eröffnete Staatsverkauf von Wodka fügt der Wirtschaft und Kultur des Landes unzählige Wunden zu. Industrie, Transport, Handel, Landwirtschaft verlieren durch Wodka zwei- bis dreimal mehr, als das Staatsbudget aus ihm erhält. Aber über den moralischen Schaden für die Werktätigen gibt es keine Buchführung. Im staatlichen Betrunkenmachen des Volkes kommt das ganze Übel der Bürokratie am deutlichsten zum Ausdruck, die blind und arrogant im Verhältnis zu den Massen ist.

Die berechtigte Unzufriedenheit der Werktätigen findet keinen normalen Ausweg und Genugtuung. Immer gibt es Verbote und Hindernisse. Dies schafft Bedingungen, die die Feinde der Oktoberrevolution ausnutzen: Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Anarchisten und direkte Schwarzhunderter. Sie untergraben den Oktober. Revolutionäre Abrechnung mit diesem Gesindel der Bourgeoisie ist notwendig. Aber allein Abrechnung reicht nicht aus. Man braucht eine richtige Politik. Und dafür ist es vor allem notwendig, die schamlose Verfolgung der besten kämpfenden, hingebungsvollen und uneigennützigsten Kämpfer der Arbeiterklasse einzustellen, der Bolschewiki-Leninisten (Opposition).

Die Schwächung der materiellen und politischen Positionen des Proletariats der UdSSR geht einher mit den schwersten Niederlagen der Politik der Komintern in Deutschland, Bulgarien, Estland, England, Österreich, China und anderen Ländern. Die vom proletarischen Weg abgewichene Führung stieß alle Parteien der Komintern auf den Weg des Kompromisslertums und des Irrtums. Die beispiellosen Niederlagen der internationalen Revolution schwächten die Stellung der UdSSR, stärkten die europäische Bourgeoisie und erhöhten die militärischen Gefahren erheblich, die den ersten Arbeiterstaat bedrohten.

Zeitungsrufe über militärische Gefahren können das nicht beseitigen. Um die Verteidigungsfähigkeit des Sowjetstaates zu erhöhen, gibt es nur einen Weg: die wirtschaftliche und politische Stellung des Proletariats im Land zu stärken, seine engste Beziehung zu den armen, seine untrennbare Union mit den mittleren Bauern.

Die Bürokratisierung der Armee ging noch weiter als die Bürokratisierung des gesamten Staatsapparates. Die Verbindung der Bevölkerung mit der Armee bei Paraden und Feiern kann die tägliche Wirkung der proletarischen Avantgarde auf die mobilisierten Bauern nicht ersetzen. In der Minute der Gefahr kann der militärisch-bürokratische Apparat nicht diese Begeisterung einhauchen, die nur durch das revolutionäre Selbstbewusstsein der arbeitenden Massen erzeugt wird, die sich als Herren ihres Landes fühlen.

Gemeine Verleumder sagen, dass wir Bolschewiki-Leninisten, die die Rote Armee aufgebaut und an all ihren Kämpfen teilgenommen haben, Defätisten seien. Kein ehrlicher Arbeiter, Kämpfer und Rotarmist, Bauernpartisan wird dieser Verleumdung gegen Trotzki, Rakowski, I. N. Smirnow, Preobraschenski, Sosnowski, Radek, Muralow, Mratschkowski, Beleborodow, Kasparowa und viele Hunderten und Tausende von gestählten Kämpfern glauben, die mit Gefängnis und Verbannung für ihre Treue zur Sache der Arbeiterklasse bezahlen.

Die Bolschewiki-Leninisten waren und bleiben bis zum Ende revolutionäre Vaterlandsverteidiger, nicht nach dem Beispiel vieler der heutigen Bürokraten, die beim ersten Sturmläuten der Gefahr davonlaufen werden wie die Ratten. Trotz der Fehler der Politik, die Verleumdung und Schikanen der Stalinschen Führung verachtend, wird jeder Bolschewik-Leninist die Sowjetrepublik gegen den Klassenfeind mit der Waffe in der Hand bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.

Aber das ist nicht genug. Jetzt, wo die Stunde des militärischen Sturms noch nicht geschlagen hat, fordern wir eine entscheidende Veränderung der Partei-, Wirtschafts-, Gewerkschafts-, Militär- und internationalen Politik. Auf den proletarischen Weg! Auf die Leninsche Linie!

Was ist notwendig, um auf die richtige Bahn zurückzukehren? Notwendig ist nur, dass Arbeiter-Parteileute erneut wollen und beschließen, Parteimitglied zu werden. Notwendig ist, dass die Arbeiterklasse den Apparat zur Antwort drängt. Notwendig ist, die Wahlen und Abwählbarkeit wiederherzustellen, d.h. die proletarische und Sowjetdemokratie. Dies kann ohne Umsturz auf dem normalen Weg der Parteisatzung und Sowjetverfassung erreicht werden.

Als Grundlage der Wirtschaftspolitik: eine systematische Erhöhung der Realeinkommen. Mehr Gleichheit in den Lebensbedingungen der Oberen und Unteren.

Im Dorf Organisierung der Union der Dorfarmut als Organ der Diktatur des Proletariats.

Veröffentlichung der Plattform der Opposition, die die richtigen Wege zur Industrialisierung des Landes aufzeigt und Leninsche Antworten auf alle Fragen des sozialistischen Aufbaus gibt.

Rückkehr der Bolschewiki-Leninisten aus der Verbannung und Aufhebung des ihnen schamlos auferlegten Artikel 58.

Durchführung von Neuwahlen in allen Institutionen und Organisationen von oben bis unten auf der Grundlage echter proletarischer Demokratie.

Denkt daran, Genossen: die Macht verlieren ist einfacher als sie gewinnen. Wenn von oben eine falsche Politik gemacht wird, muss sie von unten korrigiert werden. Wir Bolschewiki-Leninisten wenden uns an die Unteren. Durch und für sie wurde vor elf Jahren der große Umsturz vollzogen.

Hoch die Diktatur des Proletariats!

Hoch die Kraft der Arbeiter und Bauern!

Hoch die Rückkehr des Zentralkomitees und der Komintern auf den Leninschen Weg!

Hoch die internationale Revolution!

L. Trotzki

Anfang November 1928

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