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Leo Trotzki 19340313 Die Rote Armee

Leo Trotzki: Die Rote Armee

[Nach Schriften 1.1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936. Hamburg 1988, S. 514-536. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Barbizon, 13. März 1934

Offensichtlich wird die Menschheit durch den sogenannten Gang der Ereignisse in einen neuen Krieg hineingezogen, das heißt durch den unpersönlichen Faktor, der den verantwortlichen Politikern im Notfall zu einem Alibi verhilft.

Zwei der möglichen Kriegsherde lassen sich bereits verhängnisvoll deutlich ausmachen: der Ferne Osten und Mitteleuropa. Im einen wie im anderen Fall – und beide können sich ohne weiteres miteinander verbinden – wird die Sowjetunion unweigerlich in den Strudel der Ereignisse hineingezogen werden. Angesichts dieser Perspektive stellt sich jedem denkenden Individuum die Frage: Was stellt die Rote Armee wirklich dar? Politische Leidenschaften und tendenziöse Propaganda haben aus dieser Frage ein unlösbares Rätsel gemacht.

Der Autor dieser Zeilen hat an Aufbau und Ausbildung der Roten Armee in den ersten sieben Jahren ihrer Existenz intensiv teilgenommen; während der nächsten vier Jahre verfolgte er ihre Entwicklung direkt oder anhand von Originalquellen; in der jüngsten Phase – in den fünf Jahren seines Exils – konnte er ihre Entwicklung nur als aufmerksamer Leser beobachten. Natürlich hängt sein erzwungenes Exil mit seiner von Grund auf kritischen Haltung zur Politik der gegenwärtig herrschenden Schicht der Sowjet-Bürokratie zusammen.

Ohne in irgendeiner Weise auf seine eigenen Schlussfolgerungen und Einschätzungen zu verzichten, möchte der Verfasser dem Leser zunächst einmal einen kurzen Überblick über die psychologischen und materiellen Grundzüge des Problems geben, ihm allgemeine Kriterien an die Hand geben, die es ihm ermöglichen sollen, den wirklichen Charakter der Roten Armee hinter dem geheimnisvollen Schleier zu erkennen.

Lässt man die Neunzehn- und Zwanzigjährigen unberücksichtigt, also die beiden Jahrgänge, die jeweils vor der Einberufung zum Militär stehen, so umfasst die Rote Armee neunzehn Jahrgänge, die Einundzwanzig- bis Vierzigjährigen; die aktive Dienstzeit beträgt fünf Jahre, dazu kommen vierzehn Jahre Reservedienst in zwei Stufen. Das heißt, dass sich unter den heutigen Militärdienstpflichtigen noch die vier letzten Jahrgänge aus der Zeit des imperialistischen Krieges befinden, die drei letzten Jahrgänge der Bürgerkriegszeit – in Wirklichkeit sind es mehr, da oft Jugendliche von zwanzig und selbst neunzehn Jahren eingezogen wurden – und zwölf Jahrgänge, die ihre militärische Ausbildung im Frieden erhielten oder noch erhalten.

Bei einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von fast drei Millionen erreicht die Bevölkerung der UdSSR gegenwärtig eine Gesamtzahl von fast 170 Millionen. Ein einziger einberufener Jahrgang umfasst gegenwärtig etwa 1,3 Millionen Männer. Selbst bei strengster medizinischer und politischer Auslese dürften nicht mehr als 400.000 für untauglich befunden werden. Folglich würde ein stehendes Heer mit zweijähriger Dienstzeit über weit mehr als zwei Millionen Mann verfügen. Bei dem heutigen Stand der Militärtechnik wäre allerdings keine nationale Wirtschaft einer derartigen Belastung gewachsen.

Von Anfang an war es das Ziel der Sowjetregierung, ein territoriales Milizsystem einzurichten. Schon der 8. Parteitag der Bolschewistischen Partei beschloss im Frühjahr 1919 in Übereinstimmung mit dem Militärbericht, den der Autor dieses Artikels vorgelegt hatte – folgende Maßnahmen

»Die bestmögliche Armee bekämen wir, wenn wir auf Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht Arbeiter und Bauern unter Bedingungen ausbildeten, die ihrem täglichen Arbeitsleben möglichst nahe kämen. Eine allgemeine Belebung der Industrie, ein Wachstum des kollektiven Charakters und der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft würden die gesundeste Grundlage für die Armee abgeben, deren Regimenter und Divisionen den Betrieben und Distrikten... (usw.) entsprechen sollten... Wir streben genau diesen Typus einer Armee an, und werden ihn früher oder später verwirklichen.«

Die Miliz in ihrer reinen Form hat jedoch eine Achillesferse. Im Fall einer Mobilmachung braucht es mehrere Wochen oder gar Monate, bis die Territorialarmee einsatzfähig ist. Während dieser kritischen Phase müssen die Landesgrenzen geschützt werden. Die Lage eines Landes, dessen riesige ungeschützte Grenzen 10.000 Kilometer voneinander entfernt sind, erzwingt die Kombination eines territorialen Milizsystems mit einem stehenden Heer. Das heutige Ergänzungsverhältnis der beiden Komponenten wurde nicht auf Anhieb erreicht, und es ändert sich weiterhin unter dem Einfluss des Fortschritts der Technologie und der Erfahrung.

Das stehende Heer der Zaren umfasste 1,3 Millionen Soldaten, zum größten Teil schlecht ausgerüstete Analphabeten. Während des Krieges löste es sich völlig in den 18 Millionen mobilisierten Rekruten auf. Die Kette von Niederlagen und schließlich die beiden Revolutionen von 1917 haben diese Armee von der Erdoberfläche hinweggefegt. Die Sowjets mussten von vorn anfangen. Von anfänglich 100.000 Mann wuchs die Rote Armee im Verlauf des Bürgerkriegs auf fünf Millionen an. Die aktive Rote Armee (oder ihr Kader) wurde aus dieser Feldarmee durch Reduktion gebildet. Heute zählt sie alles in allem 562.000 Mann; rechnet man die GPU-Truppen hinzu, so sind es 620.000 Soldaten und 40.000 Offiziere. Die Reduktion wurde so vorgenommen, dass die Armee – unter Aufrechterhaltung ihrer militärischen Schutzfunktion – später maximal erweitert werden konnte. Folglich besteht eine Infanteriedivision in Friedenszeiten nur aus sechs- bis siebentausend Soldaten, das heißt, sie umfasst ungefähr ein Drittel ihrer Kriegsstärke. Gerade deshalb kann aber die Rote Armee nicht mehr als 260000 Soldaten in ihre Reihen aufnehmen, und deren Ausbildungszeit hängt von der Waffengattung ab – sie beträgt zwei Jahre bei der Infanterie und vier Jahre bei der Marine. Die übrigen mehr als 600.000 Rekruten müssten vollständig von den Territorialtruppen übernommen werden, bei denen die Ausbildungszeit acht bis elf Monate beträgt. Die eigentlichen Miliz-Korps benötigen aber selbst einen aktiven Kader, etwa 1500 Mann für eine Schützendivision, das heißt weniger als 10 Prozent ihrer Kriegsstärke. Um alle verfügbaren Rekruten zu schulen, müssten allein die Kader der Territorialdivisionen die gegenwärtige zahlenmäßige Stärke der Armee – 620.000 Mann – übersteigen, und in diesem Fall wäre das Land wiederum seines militärischen Schutzes beraubt. Aus diesem Grund ist der Kader des Territorialkorps so berechnet, dass jährlich etwas mehr als 200.000 Mann aufgenommen werden können. Die restlichen 3-400.000 Jugendlichen erhalten ihre militärische Ausbildung unter Aufsicht derselben Kader, aber außerhalb der regulären Armee in provisorischen Ausbildungs-Bataillonen und -Regimentern.

Bis jetzt hat die zuletzt erwähnte Kategorie von Rekruten bei weitem nicht die erforderliche sechsmonatige militärische Ausbildungszeit erhalten; erst seit Kurzem wird sie systematisch durchgeführt. Darüber hinaus erhalten die Neunzehn- und Zwanzigjährigen im Allgemeinen zwei Monate lang eine vormilitärische Ausbildung außerhalb der regulären Armee. Schließlich sind noch die Manöver und die Übungen der Zivilbevölkerung – unter Einschluss der Frauen – für die chemische Kriegsführung zu erwähnen, ferner die rasche Entwicklung des Militärsports. Auf diesem Gebiet ist die offizielle Organisation Ossoawiachim mit 12 Millionen Mitgliedern von besonderer Bedeutung. Vormilitärische Ausbildung, Manöver, militärische Ausbildung außerhalb des Territorial-Korps und der regulären Armee – das sind die Grundzüge eines komplexen und in gewissem Sinne eklektischen Systems. Während der Herbstmonate, wenn die einander ablösenden aktiven Verbände der Territorialdivisionen zusammenkommen und Feldübungen stattfinden, stehen bis zu 1.500.000 Mann unter den Fahnen.

Wollte man eine ins einzelne gehende Analyse der Waffengattungen der Roten Armee unternehmen, so müsste man diesen Artikel mit einer Unmasse von approximativen Zahlen belasten, die sich ohne große Schwierigkeiten leicht zugänglichen Nachschlagewerken entnehmen lassen. Die allgemeine Struktur der verschiedenen Truppenteile wird in viel stärkerem Maße direkt von der Militärtechnik als vom Charakter des sozialen Regimes bestimmt. Eine Division der Sowjetarmee ist dem Durchschnittstyp ähnlich, wie er nach dem Kriege in den fortgeschrittenen Heeren der ganzen Welt entwickelt wurde. Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass die allgemeine zahlenmäßige Stärke der Roten Armee in Friedenszeiten zu einem gewissen Grade elastisch ist. Nötigenfalls hat das Kriegskommissariat8 das Recht, die Soldaten für weitere vier Monate zu verpflichten. Im Allgemeinen ermöglicht es der eklektische Charakter des Systems, insgesamt die am meisten gefährdeten Armeeteile zu verstärken, ohne doch insgesamt über die Friedensstärke der Armee hinauszugehen. Deshalb wäre es nicht überraschend, wenn bekanntwerden sollte, dass das Kriegskommissariat zur verstärkten Sicherung der Amurgrenzen oder zur Befestigung der Zugänge zu einer Eisenbahnlinie besondere neue militärische Einheiten aufgestellt hätte.

Zur Frage der mutmaßlichen Größe der Armee in Kriegszeiten lassen sich allenfalls ganz allgemeine Orientierungsdaten angeben. Bei seinen jüngsten Berechnungen ging der sowjetische Generalstab von einem entwaffneten und mehr oder weniger freundlich gesonnenen Deutschland aus. Aus geographischen Gründen war und ist es kaum wahrscheinlich, dass französische oder englische Truppen auf dem russischen Kriegsschauplatz erscheinen. Folglich könnte ein Angriff aus dem Westen nur von den direkten Nachbarn der UdSSR – Rumänien, Polen, Litauen, Lettland, Estland und Finnland – ausgehen, mit materieller Unterstützung viel mächtigerer Feinde. In der ersten Phase des Krieges könnten die angrenzenden Nationen zusammen 120 Infanteriedivisionen aufbringen. Geht man hypothetisch von einer zahlenmäßigen Gesamtstärke der feindlichen Armeen von 3.500.000 Mann aus, dann müsste der Mobilmachungsplan der Roten Armee für die Westfront für den Anfang eine Armee von ungefähr 4.000.000 Menschen vorsehen. Während eines einzigen Kriegsjahres braucht man auf je 1000 Frontsoldaten 750 Mann, um die Lücken zu füllen. Sieht man von denen ab, die aus den Lazaretten an die Front zurückkehren, würden zwei Kriegsjahre dem Land ungefähr 10.000.000 Mann entziehen.

Standen diese Zahlen ohnehin schon unter mancherlei Vorbehalten, so sind sie jetzt noch abstrakter geworden: Deutschland rüstet fieberhaft auf, und zwar hauptsächlich gegen die UdSSR. Andererseits suchen die zweit- und drittrangigen Anrainerstaaten – die im Allgemeinen ihre schwankende Haltung wahren –, sich durch Annäherung an ihren östlichen Nachbarn doppelt zu sichern. Aber die alten Berechnungen sind auch heute nicht gänzlich bedeutungslos, da die Grundlage der neuen mittlerweile nur mit einem großen Fragezeichen versehen werden kann. An der Fernostgrenze können infolge der Beschaffenheit des Kriegsschauplatzes – jedenfalls in den nächsten zwei oder drei Jahren – nur Hunderttausende, nicht aber Millionen von Soldaten in Kämpfe verwickelt werden. Der kombinierte Charakter des Militärsystems der Roten Armee hat die qualitative Ungleichartigkeit ihrer Bestandteile und ihrer viele Millionen Menschen zählenden Reserve zur Folge. Das allein bedeutet noch keine besondere Gefahr: Eine in Aktion befindliche Armee ist wie ein gewaltiges Förderband, das zuerst halbfertiges Material transportiert und es dann unterwegs vervollkommnet. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass die Grenze der Mobilisierungskapazität der UdSSR durch die technischen, nicht durch die menschlichen Ressourcen bestimmt wird.

Von 1928 bis 1933 stieg das Armee- und Flottenbudget von 744.000.000 auf 1.450.000.000 Rubel an, das heißt auf beinahe das Doppelte. Diese Zahlen schließen nicht die Ausgaben ein, die auf lokale Sowjetorganisationen und auf öffentliche Organisationen wie die Ossoawiachim und dergleichen entfallen. Was die Kapitalinvestitionen für die Kriegsindustrie anbelangt, so sind diese in den Budgets der Nationalen Wirtschaftskommissariate, nicht im Budget des Kriegskommissariats enthalten.

Die Zahlen, die sich auf die Entwicklung der sowjetischen Industrie beziehen, sind zum Gemeingut der zivilisierten Welt geworden. Es ist richtig, dass gegenüber den verblüffenden Wachstumsraten mehr als einmal der Einwand erhoben worden ist, das Missverhältnis zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen werde den tatsächlichen Wirkungsgrad der neuen Industriegiganten erheblich reduzieren. Der Autor neigt umso weniger dazu, eine solche Kritik zu unterschätzen, als er sie selbst mehr als einmal gegen die Übertreibungen der optimistischen offiziellen Schätzungen vorgebracht hat. Doch in Bezug auf die uns hier interessierende Frage kommt diesem Argument nur beschränktes Gewicht zu. Erstens stellt das Gesetz, das gegenwärtig die Wirtschaft der ganzen Welt beherrscht, alle Proportionen, die nationalen wie die internationalen, von Grund auf in Frage. Zweitens verliert die allgemeine Frage des Gleichgewichts der nationalen Proportionen in Friedenszeiten unter dem Gesichtspunkt militärischer Notwendigkeiten viel von ihrer Schärfe. Eine Mobilmachung, die von oben her in das Wirtschaftsleben eindringt und es sich gewaltsam unterordnet, ist selbst eine organisierte Störung aller Proportionen der Friedenszeit. Auf jeden Fall wird die staatliche Zentralisierung enorme Vorteile für die Realisierung der Kriegsziele mit sich bringen; sie werden konjunkturelle und sogar strukturelle Disproportionen der Volkswirtschaft bei weitem aufwiegen. Da die Sowjetregierung die wirtschaftliche und militärische Planung in ihren Händen konzentriert, hat sie zudem die Möglichkeit, die Erfordernisse einer künftigen Militarisierung schon bei der Ausrüstung der wichtigsten Betriebe zu berücksichtigen.

Um die militärisch-industriellen Bemühungen der Sowjetmacht in den letzten Jahren richtig einschätzen zu können, kann man an Stalins Verlautbarung anknüpfen, wonach der erste Fünfjahresplan nicht zu 100, sondern zu 94 Prozent erfüllt wurde, hauptsächlich wegen der erzwungenen Umstellung einer beträchtlichen Zahl von Fabriken von Friedens- auf Kriegsproduktion. Die offizielle Bilanz des Fünfjahresplans – »Planerfüllung zu 94 %« – kann in Frage gestellt werden und ist vom Autor dieser Zeilen in Frage gestellt worden. Hier aber interessiert uns eine andere Seite der Angelegenheit. Stalin hält es für möglich, den Verlust, der sich aus der Umstellung von Friedens- auf Kriegsproduktion ergibt, öffentlich auf 6 Prozent der Gesamtproduktion zu schätzen. Daraus können wir indirekt, aber eindeutig auf die zusätzlichen Opfer schließen, die der Verteidigung gebracht wurden – 6 Prozent entsprechen ungefähr 6 Milliarden Rubel, also einer Summe, die das eigentliche Jahresbudget der Roten Armee um das Vierfache übersteigt.

Auf dem Gebiet der Neuausrüstung der Armee mit Artillerie wurden schon vor 1932 entscheidende Erfolge erzielt. Während der letzten beiden Jahre galten die Hauptanstrengungen der Produktion von Lastwagen, gepanzerten Fahrzeugen, Tanks und Flugzeugen. Was die Herstellung von Panzern angeht, so können wir von den Ziffern der Traktorenproduktion ausgehen, die auch für die Armee äußerst wichtig ist. Praktisch vom Nullniveau aus hat die Traktorenproduktion während des ersten Fünfjahresplans einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht. Zu Beginn des laufenden Jahres gab es im Lande bereits mehr als 200.000 Traktoren; die gegenwärtige Jahresproduktion der Betriebe übersteigt 40.000 Stück. Die Panzerproduktion hat sich parallel dazu entwickelt und einen sehr beachtlichen Umfang erreicht, wie Paraden und Manöver gezeigt haben. Die Mobilmachungspläne der Roten Armee basieren auf einem Bedarf von dreißig bis fünfundvierzig Panzern pro Kilometer aktiver Front. Nach einer Erklärung Woroschilows, des Volkskommissars für Armee und Flotte, »sind modernste Panzer in ausreichender Zahl verfügbar«. Wir haben keinen Grund, diese Aussage anzuzweifeln.

Wie allgemein bekannt, wurde die Flotte infolge des Weltkrieges auf einen äußerst geringen Umfang reduziert. Von den 518.000 Brutto-Registertonnen des Jahres 1917 blieben 1923 nur noch 82.000 BRT übrig. Selbst heutzutage kann die Flotte – die immerhin wieder 140.000 BRT erreicht hat – nur eine Hilfsrolle bei der Verteidigung der Seegrenzen übernehmen. Doch werden von der Kriegsindustrie beträchtliche Anstrengungen unternommen, um die entscheidenden Flottenzweige, besonders den U-Boot-Sektor, zu verstärken.

Die Luftwaffe nimmt einen ungleich bedeutenderen Platz ein. Während des Bürgerkrieges standen der Roten Armee etwa 300 meist veraltete und ramponierte Flugzeuge zur Verfügung. Die Flugzeugindustrie musste praktisch wieder bei Null anfangen, vor allem mit Hilfe deutscher Technologie und deutscher Ingenieure. 1932 wurden insgesamt ungefähr 2300 Flugzeuge und 4000 Motoren für das militärische wie das zivile Flugwesen produziert. Diese Zahl wurde 1933 zweifellos erheblich übertroffen. Nach einer Meldung des offiziösen Le Temps, der mit jedem Lob für die UdSSR geizt, war die Delegation französischer Techniker, die im vergangenen Herbst den Luftfahrtminister Cot begleitete, über die erzielten Erfolge »erstaunt und begeistert«.

Die französischen Spezialisten hatten insbesondere Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass die Rote Armee schwere Bomber mit einer Reichweite von 1200 Kilometern herstellen ließ; im Falle eines Krieges im Fernen Osten sind von den Küstenprovinzen her Angriffe auf alle politischen und militärischen Zentren Japans möglich. Anfang März brachte die Londoner Daily Mail die Nachricht, dass pro Tag in der UdSSR ein schwerer Bomber hergestellt wird und dass Maßnahmen ergriffen worden sind, um die Produktion von bis zu 10000 Flugzeugen pro Jahr zu sichern. Natürlich war diese demonstrative Nachricht von Erfordernissen der britischen Innenpolitik diktiert. Aber uns erscheinen die Zahlen der Daily Mail keineswegs als phantastisch. Den rückständigen Sektor der Luftfahrt bilden die Marineflieger, wo noch ausländische Modelle vorherrschen. Aber sogar dort sind in letzter Zeit beträchtliche Erfolge erzielt worden.

In ihrem Bericht für die Abrüstungskommission des Völkerbundes hat die Regierung der UdSSR für den 1. Januar 1932 einen Bestand von 750 Armeeflugzeugen angegeben. Nimmt man diese Zahl als ein Minimum an – sie ist jedenfalls nicht übertrieben – und geht davon aus, dass in den letzten drei Jahren der Wachstumskoeffizient der Luftwaffe den von Woroschilow für die Kriegstechnologie insgesamt angegebenen Koeffizienten von 200 Prozent erheblich übertroffen hat (was kaum in Abrede gestellt werden kann), so kann man ohne Schwierigkeiten folgern, dass es heute mehr als 2500 einsatzfähige Flugzeuge in Armee und Flotte gibt. Jedenfalls ist die Produktionskapazität der sowjetischen Flugzeugindustrie der japanischen bei weitem überlegen.

Die Luftwaffe ist untrennbar mit der chemischen Industrie verbunden, also mit dem Industriezweig, der im zaristischen Russland praktisch nicht existierte. Während des ersten Fünfjahresplans wurden anderthalb Milliarden Rubel in die chemische Industrie investiert. Der Wert der chemischen Bruttoproduktion des vorigen Jahres wurde auf 1,75 Milliarden Rubel geschätzt. Verglichen mit der Zarenzeit hat sich die Produktion von Schwefelsäure verfünffacht; die von Superphosphaten ist auf das Fünfundzwanzigfache gestiegen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Sowjetregierung – wie übrigens alle Regierungen der Welt – keinen Augenblick den wiederholten Absichtserklärungen Vertrauen schenkte, die chemische Kriegführung zu ächten. Seit 1921 schon haben die besten sowjetischen Laboratorien systematisch auf der Grundlage immer besserer internationaler Informationen und mit Hilfe qualifizierter Spezialisten an der Herstellung von Giftgasen und anderen Substanzen gearbeitet. Diese Arbeit ist keinen Tag unterbrochen worden. Es ist äußerst schwierig, für diesen streng geheimen und bedrohlichen Sektor Voraussagen zu wagen. Ohne leichtfertig zu urteilen, kann man aber meiner Meinung nach folgendes sagen: Die Rote Armee ist, wenn nicht besser, so doch gewiss nicht schlechter als die modernen Armeen des Westens gegen jede Art von katastrophischen Überraschungen auf dem Gebiet der chemischen Kriegführung gerüstet; gleiches gilt, wie ich hinzufügen möchte, für das der bakteriologischen Kriegführung.

Doch die Angaben über die beeindruckenden quantitativen Erfolge bei der Produktion von Artillerie, Maschinengewehren, Automobilen, Panzern und Flugzeugen führen zu der Zusatzfrage nach der Qualität dieser militärischen Erzeugnisse. Es ist allgemein bekannt, dass die industriellen Rekordziffern oft durch eine enorme Verschlechterung der Qualität der sowjetischen Fabrikate erkauft wurden. Tuchatschewski, einer der Kommandeure der Roten Armee, der den komplizierten Anforderungen wissenschaftlicher Technologie viel Aufmerksamkeit widmet, hat während des letzten Parteitags vorsichtig, aber doch sehr deutlich die Qualität der Fließbandproduktion kritisiert.

Die Behauptung der Daily Mail, die sowjetischen Militärflugzeuge seien den englischen überlegen,widerspricht den jüngsten Erklärungen Tuchatschewskis, aber auch denen von Woroschilow. Es ist kaum zu bestreiten, dass die sowjetischen Flugzeugmotoren den besten westlichen Typen weit unterlegen sind.

Um negative wie positive Übertreibungen hinsichtlich der Qualität der Sowjettechnologie zu vermeiden, müssen wir einige allgemeine Erwägungen berücksichtigen. Während des ersten Fünfjahresplans war und in großem Maße ist auch heute noch die Aufmerksamkeit der herrschenden Kreise auf jene Industriezweige konzentriert, die die Produktionsmittel herstellen. Auf diesem Gebiet sind die quantitativen, aber auch die qualitativen Erfolge viel größer als auf dem Gebiet der Konsumgüterproduktion. Obwohl es unwahrscheinlich klingen mag: Turbinen und Transformatoren werden in der UdSSR in besserer Qualität hergestellt als Schuhe oder Holztische. Der Webstuhl ist in der Regel besser als der auf ihm angefertigte Stoff.

Im kapitalistischen System sichert der Druck, den die Konsumenten über den Markt auf die Unternehmer ausüben, die Qualität der lebenswichtigen Produkte. In einer Planwirtschaft kann die Konkurrenz nur durch eine von den Konsumenten ausgeübte, organisierte Kontrolle ersetzt werden. Das Funktionieren der Massenkontrolle wird durch die faktische Diktatur der Sowjetbürokratie – die ja auch die Trusts beherrscht – extrem behindert. Die außerordentlich niedrige Qualität der wichtigsten Produkte belegt, wie weit das Sowjetregime noch von der Verwirklichung der selbst gesetzten Ziele entfernt ist. Früher oder später wird sich der Kampf der Bevölkerung für qualitativ bessere Güter gegen die Herrschaft der unkontrollierten Bürokratie richten. Wo aber die Kunden oder Konsumenten in einflussreichen Kreisen der Bürokratie selbst zu suchen sind, wo die Trusts nicht für die Konsumenten, sondern für andere Trusts arbeiten und infolgedessen die Aufträge an bestimmte Garantien gebunden sind, da ist die Qualität der Produkte schon heute befriedigend. Und zweifellos ist das Kriegskommissariat der wichtigste Kunde. Kein Wunder, dass die Destruktionsmittel nicht nur den Konsummitteln, sondern auch den Produktionsmitteln an Qualität überlegen sind.

So erstaunlich es scheinen mag: Gegenwärtig liegt der schwache Punkt der Ausrüstung der Roten Armee nicht bei Gewehren und Munition, nicht bei Panzern, Flugzeugen und Gasen, sondern bei den Pferden. Parallel zu der stürmischen Industrialisierung und der fieberhaften Produktion von Traktoren verringerte sich die Anzahl der Pferde im Lande von 33,5 Millionen im Jahre 1928 auf gegenwärtig 16,6 Millionen, also genau um die Hälfte. Verantwortlich für diesen Rückschlag für die Volkswirtschaft ist einzig und allein die unbedachte und unvorbereitete Politik der Kollektivierung der Landwirtschaft. Der Verlust von 17 Millionen Pferden ist bisher keineswegs durch die etwa 200.000 Traktoren mit ihren insgesamt 3,1 Millionen Pferdestärken ausgeglichen worden. Gleichzeitig ist der Bedarf an Pferden in den modernen Armeen trotz Motorisierung des Transports und der militärischen Ausrüstung fast unverändert geblieben; wie zu Napoleons Zeiten braucht man noch heute für je drei Soldaten ein Pferd. Nachdem die Sowjetregierung gelernt hatte, Flugzeugmotoren und Magnetzünder im eigenen Land herzustellen, sah sie sich gezwungen, in den letzten Jahren Pferde für die Armee im Ausland zu kaufen.

So bedenklich der Niedergang der Pferdezucht für die Volkswirtschaft auch sein mag, wäre es doch falsch, die Bedeutung dieses Faktors für den Verlauf eines möglichen Krieges, vor allem im Osten, zu überschätzen. Eine Feldarmee von einer Million Soldaten würde 300.000 Pferde benötigen. Diese Menge kann auf jeden Fall aufgebracht werden, zudem die erforderliche Anzahl, um Verluste auszugleichen. Man muss auch hinzufügen, dass die Regierung – obwohl mit beträchtlicher Verzögerung – eine Reihe von Maßnahmen ergriffen hat, um den Pferdebestand wieder zu vergrößern.

Doch Probleme gibt es nicht nur beim Pferdebestand. Zur gleichen Zeit und aus den gleichen Gründen hat das Land ebenso bedenkliche Verluste an Groß- und Kleinvieh erlitten und eine drastische Lebensmittelknappheit durchgemacht. In der Weltpresse hat das häufig zu der übereilten Schlussfolgerung geführt, die Sowjets seien außerstande, auch nur einen Verteidigungskrieg zu führen. Es ist unbestreitbar, dass die außerordentlich nachgiebige Haltung der Sowjetdiplomatie gegenüber Japan bis zum Herbst letzten Jahres unter anderem von der Lebensmittelknappheit diktiert worden ist. Wie sich aber im letzten Jahr zeigte, war die Zuspitzung jener Krise weitgehend auf vorübergehende Umstände zurückzuführen. Eine einzige gute Ernte hat das Lebenshaltungsniveau des Landes sofort wieder gehoben.

Aber selbst im Fall einer schlechten Ernte wird die Regierung eines Landes mit einer Bevölkerung von 170 Millionen Menschen mit Hilfe des Außen- (und Getreide-)handelsmonopols stets imstande sein, genügend Vorräte für die Front zu beschaffen – selbstverständlich auf Kosten der übrigen Bevölkerung; aber die Zivilbevölkerung aller Länder hat im Fall eines neuen großen Krieges nichts außer Hunger und Giftgas zu erwarten. Aufgrund der Rekordernte sind jedenfalls die militärischen Vorratslager im Fernen Osten weitgehend wieder aufgefüllt worden. Nichts erlaubt die Annahme, die Rote Armee sei mit unzureichenden Vorräten versehen.

Seit 1918 hatte die Rote Armee 50.000 zaristische Offiziere in ihre Reihen aufgenommen, die 40 Prozent des Kommandostabs stellten, dazu 200.000 Unteroffiziere, die im Bürgerkrieg ebenfalls eine sehr wichtige Rolle spielen. Nach der siegreichen Beendigung des Bürgerkriegs wurden ungefähr 80.000 Offiziere in die Reserve versetzt. Gegenwärtig ist der Anteil der ehemaligen zaristischen Offiziere in der Roten Armee auf weniger als 10 Prozent gesunken. Sie sind durch Rote Kommandeure ersetzt worden, die is der Revolution und den sowjetischen Militärschulen und -akademien hervorgegangen sind.

Die Partei, der Kommunistische Jugendverband, die Gewerkschaften, die Verwaltungsstäbe der nationalisierten Industrie, die Genossenschaften, Kolchosen und Sowchosen dienen dazu, unzählige junge Verwaltungskader erziehen, die den Umgang mit vielen Menschen und großen Gütermengen lernen und sich mit dem Staat identifizieren; sie bilden ein unermessliches Reservoir für das Offizierskorps. Die intensive vormilitärische Ausbildung der studierenden Jugend erschließt ein weiteres, von den genannten unabhängiges Reservoir. Die Studenten werden in speziellen Ausbildungsbataillonen bzw. Regimentern zusammengefasst, die nicht der regulären .Armee unterstellt sind. Im Fall einer Mobilmachung können diese Ausbildungskorps sehr rasch in Offiziersschulen umgewandelt werden. Jeder Hochschulabsolvent muss neun Monate – bei Flotte und Luftwaffe ein Jahr – in der aktiven Truppe dienen und sich danach einer Prüfung für den Grad eines Reserveoffiziers unterziehen. Die Mittelschulabsolventen können nach zwölf Monaten Dienst – bei der Flotte nach zwei Jahren – ähnliche Prüfungen ablegen. Die Größe dieses Reservoirs lässt sich danach einschätzen, dass die Zahl der Studenten beider Geschlechter jetzt fast 500.000 beträgt, wovon jährlich 40000 ihr Abschlussexamen ablegen, und dass sich die Zahl der Mittelschüler auf ungefähr sieben Millionen beläuft.

Die 100.000 Unteroffiziere werden aus der breiten Masse der Roten Armee rekrutiert und während des aktiven Dienstes in einem speziellen Neun-Monats-Kurs in Regimentsschulen ausgebildet. Gewisse Schwierigkeiten bereitet die Ausbildung von Unteroffizieren für das Territorialkorps. Aber neben Freiwilligenkadern, die nach Ende ihrer regulären Dienstzeit weiter dienen, stehen dem Kriegskommissariat dank einer Reihe von Hilfsorganisationen ausreichende Ressourcen zur Verfügung, die eine breite und intensive Ausbildung von Unteroffizierskadern – auch aus der studentischen Jugend – gewährleisten.

In den Schriften emigrierter Offiziere und teilweise auch in der ausländischen militärischen Literatur ist es üblich geworden, von der Strategie des Bürgerkriegs mit einer gewissen Verachtung zu sprechen. Der Autor, der drei Jahre lang tagtäglich gegen den Disziplinmangel, gegen den Dilettantismus und alle Formen von Anarchie, die den Bürgerkrieg begleiteten, zu kämpfen hatte, möchte in gar keiner Weise das Organisations- oder Funktionsniveau der Roten Armee während dieser schrecklichen Jahre idealisieren. Man darf aber nicht übersehen, dass diese Jahre eine große historische Taufe für die Armee bedeuteten. Einfache Soldaten, Unteroffiziere, Fähnriche und Leutnants stiegen plötzlich aus der Masse empor: Sie zeigten Organisationstalent und militärische Führungsqualitäten und sie stählten ihren Willen in diesem großen Kampf. Diese Autodidakten mussten angreifen und sich zurückziehen, sie siegten, erlitten Niederlagen und gingen schließlich als Sieger aus dem Kampf hervor. Die Besten von ihnen haben später lange und ausdauernd studiert. 80 Prozent der höheren Offiziere, die alle am Bürgerkrieg teilnahmen, haben die Akademien durchlaufen oder Sonderkurse belegt, um sich weiterzubilden. Von den höheren Kadern haben etwa 50 Prozent eine höhere militärische Ausbildung erhalten, die übrigen eine mittlere. Die militärische Theorie half ihnen, ihren Geist zu schulen, erstickte aber nicht die Kühnheit, die sich in den ungestümen Bürgerkriegsaktionen bewährt hatte. Heute ist diese Generation im Alter zwischen 35 und 40 Jahren – einem Alter, in dem die körperlichen und geistigen Kräfte in ein Gleichgewicht kommen, kühne Initiative sich auf Erfahrung stützt, doch von ihr nicht erstickt wird.

Ein Roter Offizier kann nach achtjähriger Dienstzeit ein Bataillon, nach dreizehn Jahren ein Regiment und nach siebzehn Jahren eine Division befehligen. Diese Fristen verkürzen sich noch für diejenigen, die von einer Militärakademie kommen. Die französische Delegation war über die Jugend der Offiziere der sowjetischen Luftwaffe erstaunt: viele Generäle der Luftwaffe sind erst in ihren frühen dreißiger Jahren. Beförderungen erfolgen nur nach Verdienst, das Anciennitätsprinzip ist völlig abgeschafft. Dies System führt nicht nur zum jüngsten Kommandostab der Welt, sondern auch zur Auswahl der aktivsten und fähigsten Angehörigen der jungen Generation.

In der Roten Armee gehören die Hälfte der Soldaten und 70 Prozent der Offiziere der Partei oder dem Kommunistischen Jugendverband an. Der oberste Kommandostab besteht fast zur Gänze aus Parteimitgliedern. Sicherlich würde der prozentuale Anteil der Kommunisten im Fall der Mobilmachung beträchtlich sinken, aber nicht so weit, dass dies politische Skelett der Armee geschwächt würde. Inwieweit man die jetzt herrschende Partei »bolschewistisch« oder »kommunistisch« nennen kann, ist eine andere Frage. Aber auch in ihrem jetzigen Zustand gibt die Partei zweifellos der Armee den politischen Zusammenhalt.

Solange die zaristischen Offiziere im Kommandostab dominierten, musste man ihnen politische Kommissare mit unbeschränkten Machtbefugnissen zur Seite stellen. Das daraus resultierende System der Doppelherrschaft musste als kleineres Übel in Kauf genommen werden, denn es war vor allem notwendig, dass der Kommandostab das Vertrauen der revolutionären Armee gewann und die Armee durch die neue einheitliche Doktrin zusammengeschweißt wurde. Cromwell antwortete zu seiner Zeit jenen Pedanten, die sich über die militärische Ausbildung der meisten seiner Offiziere geringschätzig äußerten: »Und dennoch sind es ausgezeichnete Prediger!« Mit Hilfe seiner Kommandeure aus den Reihen der Handwerker und Kaufleute schlug Cromwell die glänzenden Offiziere des Königs. Die Rote Armee hat sich mit ihrem System der Doppelherrschaft vor dem Feind nicht schlechter bewährt als die Armee Cromwells. Weil die Offiziere Kommunisten und die Kommunisten Offiziere geworden sind, ist heute das für die Armee so unentbehrliche Prinzip der einheitlichen Führung verwirklicht. Offizier und Prediger sind nun in einer einzigen Person vereinigt.

Der charakteristische Zug des alten russischen Soldaten war der blinde Herdeninstinkt, der von den patriarchalischen Bedingungen seiner dörflichen Welt genährt wurde. Die »slawische Seele«, von der der Westen teils bewundernd, teils verächtlich sprach, war der Reflex des ungebildeten und barbarischen russischen Mittelalters. Die Armee der »christlichen Liebe«, die dem Zarentum einst eine Aura von Allmacht verlieh, war durch und durch von den Traditionen der Leibeigenschaft geprägt. In den längst vergangenen Zeiten des halb feudalen Europas mochte diese Armee eine gewisse Überlegenheit als vollendetstes Beispiel eines allgemein vorherrschenden Typus haben. Suworow, der Oberbefehlshaber Katharinas II. und Pauls, war zweifellos Meister einer Armee von Leibeigenen. Die Große Französische Revolution hat aber der Militärkunst des alten Europas und des zaristischen Russlands ein für allemal ein Ende gemacht.

Es ist richtig, dass das Zarentum in seiner seitherigen Geschichte noch die Annexion riesiger Gebiete verzeichnen konnte, aber über die Armeen der zivilisierten Nationen errang es keine Siege mehr. Es bedurfte einer Kette von schweren Niederlagen und heftigen Aufständen, um in deren Flammen den Nationalcharakter umzuschmelzen. Die Rote Armee konnte nur auf dieser neuen gesellschaftlichen und psychologischen Basis geschaffen werden. Der Rotarmist unterscheidet sich vom zaristischen Soldaten unendlich viel mehr, als sich der napoleonische Grenadier vom bourbonischen Soldaten unterschied. Der Kult der Passivität und der servilen Kapitulation vor Hindernissen ist durch den Kult politischer und gesellschaftlicher Kühnheit und des technologischen Amerikanismus ersetzt worden. Von der slawischen Seele ist nur eine literarische Erinnerung geblieben.

Die erwachende nationale Energie manifestiert sich im Großen und im Kleinen – vor allem in der Entwicklung der Kultur. Der unbedeutende Prozentsatz von Analphabeten bei den Rekruten sinkt ständig; die Rote Armee entlässt aus ihren Reihen keinen einzigen Analphabeten. Innerhalb und außerhalb der Armee ist eine stürmische Entwicklung aller Sportarten zu beobachten. Im Laufe des vergangenen Jahres wurden allein in Moskau 50.000 Arbeiter aus zivilen Berufen und aus Schulen als Scharfschützen ausgezeichnet. Die Armee stellt sich immer mehr auf Skier um, was wegen der klimatischen Bedingungen von allergrößter militärischer Bedeutung ist. Auf den Gebieten des Fallschirmspringens, des Segel- und Motorfliegens macht die Jugend große Fortschritte. Die sowjetischen Rekordflüge in die Stratosphäre sind in guter Erinnerung. Diese Gipfel charakterisieren eine ganze Bergkette von großen Leistungen.

Will man die Stärke der Roten Armee einschätzen, darf man das, was ist, nicht idealisieren. Es ist, gelinde gesagt, noch zu früh, vom Wohlstand der Völker der Sowjetunion zu sprechen. Es gibt dort noch zu viel Mangel, Elend, Ungerechtigkeit und, infolgedessen, Unzufriedenheit. Aber die Vorstellung, die sowjetischen Massen tendierten dazu, Hilfe von den Armeen des Mikado oder Hitlers zu erwarten, kann nur als eine Wahnvorstellung gelten. Trotz aller Schwierigkeiten des Übergangsregimes sind die politischen und moralischen Bindungen zwischen den Völkern der UdSSR stark genug; auf jeden Fall sind sie enger als das bei ihren möglichen Feinden der Fall ist. Das oben Gesagte bedeutet keinesfalls, dass ein Krieg – selbst ein siegreicher Krieg – im Interesse der Sowjetunion läge. Er würde sie im Gegenteil weit zurückwerfen. Aber die Erhaltung des Friedens hängt zumindest von zwei Seiten ab. Man muss die Dinge so nehmen, wie sie sind: Der Krieg ist nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern fast unvermeidlich. Wer die Geschichtsbücher studieren will und kann, wird eins sogleich begreifen: Sollte die Russische Revolution, die seit dreißig Jahren – seit 1905 ein ständiges Auf und Ab kennt, gezwungen sein, ihre Strömung in den Kanal eines Krieges zu lenken, so wird sie eine ungeheure, alles überwältigende Kraft entfalten.

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