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Otto Schüssler 19381215 Nach dem Münchener „Frieden"

Otto Schüssler: Nach dem Münchener Frieden"

[Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 6. Jahrgang, Nr. 6-7, Mitte Dezember 1938, S. 3]

Der Münchner Friede brachte als Hauptergebnisse: internationale Aufrüstung, reaktionäre Offensiven in den demokratischen und weitere Knebelung der Massen in den faschistischen Ländern, schließlich eine Periode von Verhandlungen der imperialistischen Länder unter sich.

Die Tatsache, dass die USSR von diesen Verhandlungen ausgeschlossen ist, weist darauf hin, dass sich die Kriegsgefahr nach dem Osten hin bewegt. Es liegt im Bereiche der Wahrscheinlichkeit, dass die Diplomaten jetzt nach einem Kompromiss suchen, der ganz auf Kosten der USSR gehen müsste. Möglich, dass Stalin versuchen wird, einem solchen Kompromiss zuvorzukommen und seinerseits ein Übereinkommen mit Deutschland zu finden. Aber auch diese Lösung wäre keine Lösung.

Abgesehen davon, dass Hitler heute (in erster Linie dank der Politik Stalins) in der Lage ist. seine Bedingungen zu diktieren, wäre eine solche Annäherung für Stalin nur eine Flucht nach vorn, in die Arme des Feindes. Stalin würde für Hitler zu dem was Benesch für Daladier und Chamberlain gewesen ist. oder sogar nur das, was Beneschs Nachfolger für Hitler sind, eine Art Unterführer.

Angesichts der passiven Rolle der UdSSR während der letzten Ereignisse wurde wieder häufig über das «russische Geheimnis» oder die «russische Sphinx» geschrieben. Leider aber ist das «russische Geheimnis» allzu offenkundig, und die «Sphinx» ist ein zwar skrupelloser, aber ganz gewöhnlicher Bürokrat, der jede Orientierung verloren hat und der höchstens noch darüber nachsinnt, welcher Art der Katastrophe er den Vorzug gibt.

Sicher wird die imperialistische Front gegen die UdSSR nicht plötzlich und nicht ohne Zwischenfälle zustande kommen. Augenblicklich wächst ihre Chance allerdings mit jeder weiteren Niederlage des französischen Proletariats, Niederlagen, deren Ursachen sich kurz und exakt durch das Wort «Volksfront» kennzeichnen lassen. Doch ist die Niederlage des französischen und englischen Proletariats durchaus noch nicht besiegelt. Noch hängt das Schicksal der französischen Arbeiterklasse davon ab, in welchem Zeitraum es den revolutionären Kräften in Frankreich gelingen wird, die Volksfront zu liquidieren und den Einfluss der verräterischen Bürokraten mit Stumpf und Stiel auszurotten. Noch ist es Zeit, aber bereits höchste Zeit.

Kolonien

Es ist wahrscheinlich, dass die imperialistischen Machte, ehe sie sich über das Schicksal der UdSSR verständigen, erst noch für einige Zeit mit dem Schacher um. die Kolonien beschäftigt sein werden.

Die Frage der ehemaligen deutschen Kolonien nimmt immer klarere Formen an. Noch verweigert jede demokratische Kolonialmacht die Rückgabe. Dass dabei patriotische und zivilisatorische Redensarten in Hülle und Fülle fließen, ist selbstverständlich. Besonders bemühen sich die imperialistischen Kolonialtheoretiker um den Nachweis, dass eine Rückgabe der Kolonien auch materiell wertlos sei. Auf das Dritte Reich macht all das jedoch keinen Eindruck; der faschistischen Presse fällt die Antwort nicht schwer: «Warum will Deutschland Kolonien Eine seltsame Frage. Warum will Frankreich, warum will England Kolonien? Jeder Franzose und jeder Engländer wäre sehr erstaunt, wenn man in so naiver Weise Selbstverständlichkeiten mit ihm erörtern wollte…» (Berliner Tageblatt, 20. November 1938.)

Und in der Tat: es handelt sich um imperialistische «Selbstverständlichkeiten», um ein imperialistisches Geschäft. Die «Mutterländer» stürzen sich gerade jetzt wieder mit gesteigerter Gier auf die Kolonialvölker. Nach der Niederschlagung der Arbeiterklasse Europas steht die Ausrottung jeder Selbständigkeitsbewegung in den kolonialen Ländern im Vordergrund. Jede Gefahr, die von den Kolonien her drohen könnte, soll rechtzeitig beseitigt werden.

Für die Niederschlagung der Kolonialvölker aber ist das faschistische Deutschland eine unbedingte Garantie. Mehr denn je wären die Eingeborenen dann Freiwild. Dass Hitler sich auf die barbarischste Sklaverei versteht, hat er bereits in Deutschland bewiesen. Die innere Sicherheit der übrigen Kolonien wäre für den Fall einer Rückgabe des ehemaligen deutschen Besitzes also durchaus nicht gefährdet. Diese Gedanken mögen es auch sein, die Herrn Pirow auf seiner Rundreise von Südafrika aus durch die europäischen Hauptstädte begleiteten.

Vom Selbstbestimmungsrecht der Kolonialvölker sprechen die Sklavenhalter natürlich nicht gerne, nachdem sie eben darüber in Bezug auf die CSR allzu viel geredet haben. Ab und zu versucht man aus purer Demagogie, über das beklagenswerte Schicksal, das die Eingeborenen unter der Knute Hitlers erwartet, zu philosophieren. Doch das Dritte Reich macht sich über diese Bedenken lustig. Wenn Hitler in seinen Reden auf diesen Punkt zu sprechen kam, erinnerte er nur höhnisch (und oft genug sogar seinerseits anklagend) an die Kolonialbrutalitäten der Engländer.

Ebenso wenig wie bei der CSR dreht es sich bei den Kolonien für die Imperialisten um Fragen der Moral und der Humanität. Die imperialistische Moral heißt Geschäft und Ausbeutung. An diesem Punkte berührt sich auch die Frage der UdSSR mit dem Kolonialproblem. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die großen imperialistischen Mächte, vom Wunsche getrieben, die Kolonien «ungeteilt» zu behalten, Hitler eindringlich auf seine Chance im Osten hinweisen.

Auf welcher Münchner Konferenz das Kolonialproblem bereinigt werden wird, darüber zu spekulieren wäre verfrüht. Eines steht fest: mit der Rückkehr Deutschlands in die Kolonien beginnt für die Kolonialvölker eine Periode der verschärften blutigen Sklaverei, und das durchaus nicht nur in den faschistischen Kolonien. Auch den Kolonialvölkern bleibt es nicht erspart, die verbrecherische Politik der 2. und 3. Internationale auszubaden. Die Kolonialvölker sind die natürlichen Bundesgenossen der europäischen Arbeiterklasse, doch noch nie haben die «zivilisierten» Bürokraten aus Brüssel und Moskau sich dieser Verbündeten ehrlich angenommen. Wenn es hoch kam, standen sie den «Farbigen» in der Pose einer Art Partei- und Gewerkschaftsmissionar gegenüber. Die 2. Internationale schlägt heute die «Internationalisierung der Kolonien» vor. nachdem die Wels, Otto Bauer und Leon Blum eben mitgeholfen haben, eine «Internationalisierung der faschistischen Diktatur» herbeizuführen. Dieser «Ausweg» ist nur eine verlogene billige Phrase. Und ob die 3. Internationale ebenfalls ein Rezept auf Lager hat, dafür interessiert sich überhaupt kein Mensch. Wichtig aber ist gerade in dieser Zeit wieder der Hinweis darauf, dass die Volksfrontpolitik der französischen Stalinisten in der Unterdrückung der revolutionären Bewegung in den französischen Kolonien bestand.

Während jetzt die kapitalistischen Ausbeuter um die Haut der Kolonialvölker feilschen, haben die revolutionären Sozialisten Europas die Pflicht, ihre unbedingte Solidarität mit dem Befreiungskämpfe der Kolonialvölker immer wieder zu betonen und ihm jede Art praktische und moralische Hilfe zu leisten. Mehr denn je steht der revolutionäre Internationalismus vor der Aufgabe, die unzerstörbare Einheitsfront der weißen und der farbigen Massen für den Kampf gegen die imperialistischen Sklavenhalter (gleichgültig, ob sie in demokratischer oder faschistischer Verkleidung auftreten) herzustellen. Die Schaffung dieser wahrhaft internationalen Kampfeinheit gehört zu den wichtigsten und dringendsten Aufgaben, vor denen heute die 4. Internationale steht.

Die antisemitische Welle

Augenblicklich wird oft die Frage der Kolonien mit der neuen antisemitischen Aktion des Dritten Reiches in Verbindung gebracht. Kann einem Lande, das sich unter dem Vorwand des «Rassenkampfes», den blutigsten Exzessen hingibt, das Schicksal farbiger Völker anvertraut werden?

Doch auch diese moralische Frage ist wiederum eine politische Frage, eine Frage der imperialistischen Macht. Jene, die die Lehren der letzten Ereignisse nicht begreifen, stehen den jüngsten antisemitischen Ausschreitungen der Hitlerdiktatur verständnislos gegenüber, Dass die Schüsse des verzweifelten Jugendlichen (der nicht nur aus Deutschland geflohen, sondern auch aus Frankreich ausgewiesen war, d.h. gleichermaßen als Opfer des Faschismus wie der Polizei-Demokratie zu gelten hat) auf den völlig uninteressanten Diplomatenlehrling in Paris nicht die Ursache, sondern höchstens ein Vorwand für das neue Pogrom waren, begreifen auch die Blinden noch zur Not. Die wahren Ursachen aber?

Die wahren Ursachen liegen für Hitler just da, wo auch für Daladier die Ursachen liegen, seinen Kollegen von der Volksfront den Fußtritt zu versetzen und auf die Losung des Generalstreiks mit militärischen Maßnahmen zu antworten: in der inneren Aufrüstung.

Das, was wir den passiven Widerstand gegen den herannahenden Krieg nennen, war auch unter der faschistischen Diktatur eine Massenerscheinung. Die Furcht vor dem Kriege hatte in Deutschland die breitesten Kreise ergriffen und selbst unter den «Kriegsbegeisterten» gab es einen hohen Prozentsatz, dessen Begeisterung in der Hoffnung bestand, den blutigen Adolf durch einen Krieg ebenso loszuwerden wie 1918 den komischen Wilhelm.

Mit einigen Vorbehalten lässt sich sagen, dass gerade zu jenem Zeitpunkt, als die Hitlerschen Eroberungsphrasen am drohendsten klangen, die faschistische Diktatur ihre schwärzesten Tage erlebte. Diese Tatsache war den faschistischen Spitzen ebenso wie den ausländischen Generalstäben bekannt. Für Hitler, aber auch für die demokratischen Mächte, war das ein Grund zur Kompromissbereitschaft. Volksfrontgehirne werden nie begreifen, warum die Imperialisten einem schlechten Frieden mit Hitler der Gefahr eines Sturzes der faschistischen Diktatur den Vorzug gaben. – sie werden nie verstehen, dass sie selbst Hitler zum Münchener Frieden verhalfen, indem sie im Auslande unter Hinweis auf die dumpfe Verzweiflung der deutschen Volksmassen in die Kriegstrompeten bliesen.

Die faschistische Spitze hat in den Septembertagen die ihr drohende Gefahr erkannt. Jetzt geht sie mit gewohnter Hemmungslosigkeit daran, den Gefahrenherd zu zertreten. Eine große Auswahl von Mitteln steht ihr dazu allerdings nicht mehr zur Verfügung. Die Diktatur hat eine Waffe: den Terror. Doch sind dem Terror in Deutschland bereits Grenzen gesetzt. Die Massen, denen in den kritischen Tagen der Patriotismus fehlte, kann Hitler beim besten Willen nicht ausrotten: er kann nicht die große Hälfte der Bevölkerung aufs Schafott schleifen.

Was also lag unter diesen Umständen für die Hitlerclique näher als eine terroristische Demonstration? Um das Volk nochmals abschreckend an die ganze Entschlossenheit und Gewalttätigkeit des Regimes zu erinnern, wurden die Judenpogrome inszeniert. Für Hitler war es ein glücklicher Zufall, dass die Vorbereitungen zu jenem Pogrom gerade abgeschlossen waren, als die Schüsse in Paris fielen. Auf Grund zahlreicher Nachrichten aus dem Reiche steht fest, dass die Gefangensetzung der Juden systematisch durch Barackenbau etc. vorbereitet worden war. Wann begannen diese Vorbereitungen? Höchst unwahrscheinlich, dass dies gerade in den Tagen geschah, als Deutschland mit der Mobilisierung genug zu tun hatte. Die Ausschreitungen sind vielmehr erst dann beschlossen worden, als die faschistische Clique sich mit den inneren Lehren der Septemberkrise zu beschäftigen begann.

Und so erklärt sich auch die außerordentliche Brutalität des Pogroms: es richtet sich gegen das ganze deutsche Volk. Es ist eine Warnung an alle Unzufriedenen ohne Rassenunterschiede, denen u.a. das «schwarze Corps», Zentralorgan der SS, d.h. aller Rowdies Deutschlands, damit droht, dass man sie als Juden behandeln werde, denn ihre Unzufriedenheit sei Geist vom Geiste des Judentums.

Die rein politischen Ursachen des Antisemitismus treten gerade in diesen Tagen klar hervor. Jedes Versagen und jeder Rückzug der internationalen Arbeiterklasse verschafft der antisemitischen Pest neuen Nährboden. Nicht durch humanitäre Aufrufe und nicht durch wissenschaftliche Widerlegung allein kann der Antisemitismus geschlagen werden, sondern durch die politische Aktion. Die Entwicklung in Frankreich ist dafür ein neues Beispiel. Auf den Trümmern der Volksfront wuchert der Antisemitismus schnell empor. Alle internationalen Protest- und Hilfsaktionen aber sind zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, wenn der Kampf der Arbeiterklasse nur mit Niederlagen endet.

Oscar Fischer.

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