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Positivismus

Positivismus nennt man eine philosophische Richtung, die durch Auguste Comte (1798–1857) begründet und dann durch Herbert Spencer weiter entwickelt wurde. Wie der Name andeutet, will diese Richtung nur auf „positive" Erkenntnisse, also in erster Reihe auf die „Erfahrung" gegründet sein. Trotzdem ist der Positivismus eine idealistische Richtung in der Philosophie, denn unter „Erfahrung" verstehen ihre Vertreter nicht die von den Menschen unabhängige materielle Welt, sondern die Empfindungen der Menschen. Ob diesen ein von den Menschen unabhängiges materielles Sein entspricht oder nicht, erklären sie im besten Falle für ungewiss. Besonders stark tritt der Idealismus der Positivisten auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften hervor. Die Entwicklung der Gesellschaft machen sie alle von der Entwicklung der menschlichen Ideen, der Wissenschaften usw. abhängig, statt umgekehrt, die Entwicklung der Ideen von der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse abzuleiten. [Sämtliche Werke, Band 13]

Der Positivismus als philosophische Richtung entstand in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich als Reaktion auf den französischen Materialismus und Atheismus des 18. Jahrhunderts. Sein Begründer Auguste Comte setzte den Positivismus mit wissenschaftlichem Denken gleich, als dessen Hauptaufgabe er die Beschreibung und Vereinfachung der Zusammenhänge der Erfahrungstatsachen betrachtete. Comte trat gegen die Theologie auf, versuchte aber gleichzeitig die Notwendigkeit einer „neuen Religion“ zu beweisen. Er bezeichnete jede Theorie, die die Existenz und Erkennbarkeit der objektiven Realität anerkannte, als „Metaphysik“ und versuchte zu beweisen, dass der Positivismus sowohl über den Materialismus als auch über den Idealismus „erhaben“ sei. Im Hinblick auf dieses Wesensmerkmal des Positivismus schrieb Lenin: „… das alles ist jämmerlicher Brei, die schmähliche Partei der Mitte in der Philosophie, die in jeder einzelnen Frage die materialistische und idealistische Richtung durcheinanderwirft.“ Weite Verbreitung fand der Positivismus in England, wo seine prominentesten Vertreter John Stuart Mill und Herbert Spencer waren. In den Arbeiten Mills trat deutlich der Empirismus der positivistischen Philosophie zutage, sein Verzicht auf eine philosophische Interpretation der Wirklichkeit. Spencer zog zur Begründung des Positivismus umfangreiches naturwissenschaftliches Material heran; unter dem Einfluss des Darwinismus hielt er für das oberste Gesetz alles Seienden die Evolution, fasste sie jedoch metaphysisch auf, leugnete die Möglichkeit qualitativer Sprünge in Natur und Gesellschaft und betrachtete als universelles Ziel der Evolution die Herstellung eines allgemeinen „Gleichgewichts der Kräfte“. In der Soziologie vertrat Spencer eine reaktionäre, die soziale Ungleichheit rechtfertigende „organische Theorie der Gesellschaft“, nach der jede soziale Gruppe analog den Organen des lebenden Körpers eine genau bestimmte Funktion zu erfüllen hat. Die soziologischen Anschauungen Spencers, die sich auf abstrakte Formeln vom „Progress“, von der „Gesellschaft überhaupt“ u. ä. gründen, stehen der wissenschaftlichen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung feindlich gegenüber.

Anfangs war der Positivismus die Ideologie der liberalen Bourgeoisie und trug dazu bei, die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis ihren Klasseninteressen anzupassen; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand er eine ziemlich weite Verbreitung in Europa und Amerika und wurde zu einer Form des ideologischen Kampfes der Bourgeoisie gegen das Proletariat und seine Philosophie.

Die weitere Entwicklung des Positivismus ist mit dem Aufkommen des Empiriokritizismus von Mach und Avenarius verbunden. Verglichen mit den ersten Positivisten waren die Machisten offenere subjektive Idealisten berkeleyanischer Färbung; beiden gemeinsam war die Feindschaft gegenüber dem Materialismus, das Bestreben, ihm eine Philosophie der „reinen Erfahrung“, „frei von Metaphysik“ (lies: vom Materialismus), entgegenzustellen. Lenin zeigte, wie nahe der Positivismus der Theologie steht und dass das „Wesen der Sache in der prinzipiellen Differenz zwischen dem Materialismus und der ganzen breiten Strömung des Positivismus besteht, innerhalb deren sich sowohl Aug. Comte und H. Spencer als auch Michailowski und eine Reihe Neukantianer, als auch Mach und Avenarius befinden“.

Eine neue Etappe in der Entwicklung des Positivismus stellte der Neopositivismus dar, der in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufkam. Die Neopositivisten erklären die Grundfrage der Philosophie zu einer „Pseudofrage“ und reduzieren die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft auf die logische Analyse der Sprache. Gegenwärtig ist der Neopositivismus eine der verbreitetsten Richtungen in der Philosophie der imperialistischen Bourgeoisie. [Lenin Werke, Band 14]

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