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Karl Kautsky 19051220 Die Agrarfrage in Russland

Karl Kautsky: Die Agrarfrage in Russland*

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band (1905-1906), Heft 13 (20. Dezember 1905), S. 412-423]

Es ist das Programm der deutschen Sozialdemokratie, das in dem vorliegenden Buche dargestellt und erläutert wird. Aber dieses Programm hat nicht einen spezifisch deutschen Charakter. Es ist aufgebaut auf den Gedankengängen des „Kommunistischen Manifestes" und des „Kapital" und stellt daher die Tendenzen dar, welche die kapitalistische Produktionsweise in der ganzen Welt kennzeichnen. Wie das „Kommunistische Manifest" und das „Kapital" haben also auch das Programm der deutschen Sozialdemokratie und dessen Erläuterungen einen internationalen Charakter; entwickeln sie Grundsätze, die bei allen Nationen in gleicher Weise von der Sozialdemokratie anerkannt sind.

Aber gerade wegen ihrer internationalen Bedeutung können diese theoretischen Grundsätze dem praktischen Politiker einer bestimmten Nation für sich allein nicht genügen. Sind auch die allgemeinen Tendenzen der herrschenden Produktionsweise im Grunde überall gleich, so werden sie doch in jeder Lokalität bis zu einem gewissen Grade abgeändert durch die geographische und geschichtliche Eigenart dieser Lokalität, die der praktische Politiker ebenso gut kennen und in Rechnung ziehen muss, wie die allgemeinen Tendenzen, die ihn die ökonomische Theorie lehrt.

Für keine Art der Politik gilt das aber mehr als für die Agrarpolitik. Denn die eigentliche Landwirtschaft ist jenes Gebiet, das von allen großen Produktionszweigen am letzten von der modernen Produktionsweise ergriffen wird, wo heute noch, wenigstens bei bäuerlicher Wirtschaft, die Produktion für den Selbstgebrauch eine große Rolle spielt. Sie ist auch jener Produktionszweig, der aus naheliegenden Gründen am abhängigsten von der Bodengestaltung und anderen natürlichen Einflüssen ist. Weniger als irgend ein anderer der großen Produktionszweige ist also die Landwirtschaft von den nivellierenden Tendenzen des modernen Kapitalismus berührt, mehr als irgend ein anderer hat sie noch zahlreiche lokale Eigentümlichkeiten bewahrt, die sehr oft die allgemeinen Tendenzen der Entwicklung abändern oder verschleiern, zeitweise sogar anscheinend in ihr Gegenteil verkehren, fast immer in ihrem Tempo hemmen.

Niemand, der in der landwirtschaftlichen Bevölkerung als praktischer Politiker wirken will, darf diese besonderen Eigentümlichkeiten übersehen. Aber er wird vollständig seinen Weg verlieren und in rettungsloser Konfusion umherirren, wenn er sich durch diese Eigentümlichkeiten zu dem Glauben verleiten lässt, es gäbe keine allgemeinen Entwicklungsgesetze in der Landwirtschaft, oder sie seien das Gegenteil der Entwicklungsgesetze der Industrie. In Wahrheit sind beide voneinander nicht zu trennen, und die der Industrie sind heute diejenigen, die den allgemeinen gesellschaftlichen Prozess, also auch die Landwirtschaft, beherrschen. Die letztere wird in der ökonomischen Entwicklung, wenigstens unter der herrschenden Produktionsweise, nie der Industrie vorangehen, sondern ihr stets nur folgen, und ihre gesellschaftlichen Formen werden unter diesen Bedingungen auch stets von den gesellschaftlichen Formen abhängig sein, die die Industrie erzeugt.

Sich über alles das klar zu werden, ist eine unerlässliche Vorbedingung jeder fruchtbringenden Beschäftigung mit der Agrarfrage.

Für die Sozialisten keines Landes aber ist die Agrarfrage so wichtig wie für die Russlands mit seinen hundert Millionen Bauern; und sie war dort niemals so wichtig als jetzt, wo es vornehmlich von diesen Bauern abhängt, welchen Gang die Revolution nehmen wird.

Drei Wege liegen vor den Bauern: Sie können sich mit der Konterrevolution gegen die Liberalen und die Sozialisten verbünden. Oder mit den Liberalen gegen deren Feinde von rechts und links. Oder mit den Sozialisten gegen die Konterrevolution und die Liberalen, die dann reaktionär werden, um sich unter den Schutz einer starken Regierung zu flüchten.

Die größte Wahrscheinlichkeit spricht für den dritten Weg, denn die Konterrevolution und die Liberalen müssen sich gerade in jenem Punkte finden, in dem sie in den schroffsten Gegensatz zur Bauernschaft geraten, in dem Schutze des Großgrundbesitzes. Sind doch die Führer der Konterrevolution ebenso wie die liberalen Semstwoleute vorwiegend selbst Großgrundbesitzer. Was der Bauer aber vor allem fordert, ist Land, und das kann er nur erlangen auf Kosten des großen Grundbesitzes.

Das städtische Proletariat hat aber gar kein Interesse daran, der Bauernschaft dabei entgegenzutreten. Im Gegenteil, es hat alle Ursache, ihr dabei zu helfen. Die Allianz der beiden letzteren Klassen ist also eine naheliegende. Sie folgt von selbst aus der Natur der Dinge und sie gibt uns die sicherste Gewähr, dass die Revolution nicht scheitern wird.

Aber man muss sich dabei hüten, von den Bauern mehr zu erwarten, als sie leisten können, und zu glauben, sie seien imstande, in der Landwirtschaft den Sozialismus zu verwirklichen, für den in der Großindustrie die Stunde noch nicht gekommen ist. Alle derartige Erwartungen können nur Enttäuschungen und sogar Gefahren für die Revolution nach sich ziehen.

Woraus soll denn dieser bäuerliche russische Sozialismus erstehen? Aus dem Dorfkommunismus? Aber selbst vor einem Menschenalter, als dieser Kommunismus noch in voller Kraft stand, war er als Übergang zu einer sozialistischen Produktionsweise nur denkbar, wenn der Sozialismus vorher in den höher entwickelten Ländern schon gesiegt hatte. Auch Marx nahm in seinem bekannten Ausspruch darüber nicht an, dass vom russischen Dorfkommunismus der erste Schritt zur Durchführung des modernen Sozialismus ausgehen werde.

Engels verlachte schon 1874 jene russischen Sozialisten, die da vermeinten, wegen seines Dorfkommunismus stehe der russische Bauer dem Sozialismus näher als das Proletariat der Großindustrie. Er wendete sich gegen die Ansicht. die nächste, damals erwartete, russische Revolution „werde eine sozialistische sein, sie werde die vom westeuropäischen Sozialismus erstrebte Gesellschaftsform in Russland einführen, noch ehe wir im Westen dazu gelangen – und das bei Gesellschaftszuständen, wo Proletariat wie Bourgeoisie (1874!) nur erst sporadisch und auf niederer Entwicklungsstufe vorkommen. Und dies soll möglich sein, weil die Russen sozusagen das auserwählte Volk des Sozialismus sind und die Artel und das Gemeindeeigentum an Grund und Boden besitzen". (Soziales aus Russland, Leipzig 1875, S. 9.)

Seitdem hat dieses Gemeindeeigentum eine solche rasche Auflösung erlitten, dass von ihm als einer ernsthaften Basis zur Neuorganisation der russischen Landwirtschaft, soweit meine Kenntnisse reichen, nicht mehr die Rede ist. Die Bauern sprechen auf ihren Kongressen nur noch von der Fortführung ihrer Privatwirtschaften.

Aber freilich, und darin soll ihr Sozialismus liegen, sie fordern das Gemeineigentum an Grund und Boden, und zwar nicht auf der Grundlage der Dorfgemeinde – sie ist vielmehr in dieser Beziehung aufgegeben –, sondern auf der des Volkes. Nicht die Dorfgemeinde, sondern das ganze Volk soll hinfort Besitzer des gesamten Grund und Bodens sein. Das ist ein bemerkenswerter und höchst erfreulicher Gedanke über den beschränkten Dorfkommunismus hinaus, ein entschieden revolutionärer, aber nicht notwendigerweise ein sozialistischer Gedanke.

Wer ihn für einen solchen ausgibt, den verweisen wir unter anderem darauf, was Marx über Henry George an unseren Freund Sorge 1881 schrieb:

Der Mann ist theoretisch total rückständig. … Sein Grunddogma ist, dass alles in Ordnung wäre, würde die Grundrente an den Staat bezahlt. (Du findest solche Zahlung auch unter den im „Kommunistischen Manifest" enthaltenen Übergangsmaßregeln. Diese Ansicht ist ursprünglich den Bourgeoisökonomen angehörig, sie wurde zunächst geltend gemacht (abgesehen von ähnlicher Forderung Ende des achtzehnten Jahrhunderts) von den ersten radikalen Anhängern Ricardos, gleich nach dessen Tod. Ich sagte darüber 1847 in meiner Schrift gegen Proudhon: Wir begreifen, dass Ökonomen wie Mill (der ältere, nicht sein Sohn John Stuart, der dies auch etwas modifiziert wiederholt), Cherbuliez, Hilditch und andere die Forderung gestellt haben, dass die Rente dem Staate überwiesen werde zur Aufhebung der Steuern. Es ist dies der unverhüllte Ausdruck des Hasses, den der industrielle Kapitalist gegen den Grundbesitzer hegt, der ihm ein nutzloses, überflüssiges Ding in dem Getriebe der bürgerlichen Produktion ist.

Wir selbst, wie bereits erwähnt, nehmen diese Aneignung der Grundrente durch den Staat unter zahlreiche andere Übergangsmaßregeln auf, die, wie ebenfalls im Manifest bemerkt, in sich selbst widerspruchsvoll sind und sein müssen.

Aus diesem Desideratum der radikalen englischen Bourgeoisökonomen die sozialistische Panacea machen, diese Prozedur für Lösung der in der heutigen Produktionsweise eingeschlossenen Antagonismen erklären …… das geschah erst von Colins, einem in Belgien geborenen ehemaligen alten napoleonischen Husarenoffizier. …

Alle diese ,Sozialisten', mit Colins, haben das gemein, dass sie die Lohnarbeit, also auch die kapitalistische Produktion bestehen lassen, indem sie sich oder der Welt vorgaukeln wollen, dass durch Verwandlung der Grundrente in Steuer an den Staat alle Missstände der kapitalistischen Produktion von selbst verschwinden müssen. Es ist das Ganze also nur ein sozialistisch verbrämter Versuch, die Klassenherrschaft zu retten und in der Tat auf noch weiterer Basis als der jetzigen neu zu begründen.

Dieser Pferdefuß, der zugleich ein Eselsfußtritt ist, guckt auch unverkennbar aus den Deklamationen von Henry George hervor. Bei ihm um so unbegreiflicher, als er sich umgekehrt die Frage hätte stellen müssen: Wie ging's zu, dass in den Vereinigten Staaten, wo relativ, das heißt verglichen mit dem zivilisierten Europa, der Boden der großen Volksmasse zugänglich war und bis zu einem gewissen Grade (wieder relativ) noch ist, die Kapitalwirtschaft und die entsprechende Knechtung der Arbeiterklasse sich rascher und schamloser entwickelten als in irgend einem anderen Lande?" („Neue Zeit", X, 2. S 201, 202)

Auch sonst hat Marx öfter den hier entwickelten Gedanken ausgesprochen, dass die Verstaatlichung des Grund und Bodens noch keine sozialistische Maßregel zu sein brauche, dass sie mit der kapitalistischen Wirtschaft sehr wohl vereinbar sei.

Nun werden die russischen Bauern, wenn sie die Nationalisierung des Bodens verlangen, sicher von ganz anderen Motiven geleitet als die westeuropäischen und amerikanischen Bodenreformer. Es gilt ihnen nicht, die kapitalistische Produktionsweise zu retten oder fester auf einer neuen Basis zu begründen, sondern es gilt ihnen, sich des Bodens der privaten großen Grundbesitzer sowie der zarischen Familie und der Klöster zu bemächtigen, den Großgrundbesitz zu expropriieren. Es handelt sich ihnen aber auf keinen Fall darum, auch ihren eigenen Besitz in Staatseigentum zu verwandeln, sondern vielmehr darum, diesen zu vergrößern und zu befestigen. Das ist ihr „Endziel", und das, was sie als Nationalisierung des Bodens ausgeben, nur ein Mittel dazu.

Es ist schwer für einen Außenstehenden, zu sagen, wie sich die Bauern das Nationaleigentum am Boden vorstellen, aber wenn man die Berichte ihrer Kongresse liest, die ins Ausland gedrungen sind, dann sieht man, dass sie verlangen, jedem arbeitsfähigen und arbeitswilligen Individuum solle aus dem nationalen Bodeneigentum so viel Boden abgegeben werden, als es mit seiner Familie selbst zu bearbeiten vermöge. Das, was sie anstreben und mit dem Namen des Gemeineigentums am Boden belegen, ist also im Grunde nichts anderes als jener Zustand, wie er bis vor kurzem in den Vereinigten Staaten bestand: das vollste, uneingeschränkte Privateigentum jedes Bauern an seinem Boden, neben diesem Privateigentum aber eine große Reserve freien, unbesetzten Bodens, aus der jedem sich Meldenden ein seiner Arbeitskraft entsprechendes. Bodenstück, eine „Heimstätte", wie es die Amerikaner nennen, etwa gegen eine nominelle Bezahlung zugeteilt wird. Dieser Reserveboden wurde in den Vereinigten Staaten durch Expropriierung der Indianer gewonnen, er soll jetzt in Russland durch Expropriierung der großen Grundherren geschaffen werden.

Diese Art der Expropriierung ist sicher viel radikaler und anscheinend auch kapitalfeindlicher als jene, welche die große französische Revolution an den Adels- und Kirchengütern vollzog. Denn die französische Bourgeoisrevolution konfiszierte diese Güter nicht, um sie zu verteilen, sondern um sie zu verkaufen. Sie bereicherte dadurch nicht die Bauern, sondern große Spekulanten, die genug bares Geld besaßen, die Güter zu kaufen, mit denen sie dann Bodenwucher trieben. Diese Konfiskation wurde so eine der Grundlagen des kapitalistischen Reichtums, den die Revolution schuf.

Dagegen würde die von den russischen Bauern jetzt angestrebte Art des „Gemeineigentums" an Boden, das heißt die Verteilung der Güter der Großgrundbesitzer an Bauern ohne oder mit ungenügendem Grundbesitz, allem Bodenwucher für einige Zeit hinaus ein Ende machen, also diese Quelle kapitalistischer Bereicherung solange verstopfen.

Andererseits hat die Verteilung der Reserve freien Bodens an sich meldende Bauern in Amerika bewirkt, dass der Abfluss der Landbevölkerung in die Industrie gehemmt und damit ein lohndrückendes Element von dieser zeitweise ferngehalten wurde. Daraus hauptsächlich erklärt sich die relative Höhe der Löhne in den Vereinigten Staaten.

Auch in dieser Beziehung könnte die Verteilung der Bodenreserve in Russland antikapitalistisch wirken. Aber man darf sich davon keine übertriebenen Vorstellungen machen. Einmal wird die Bodenreserve bald ein Ende nehmen, ist sie doch bei weitem nicht so groß wie die nordamerikanische. Und ein erheblicher Teil des großen Grundbesitzes wird heute schon im Kleinbetrieb von Pächtern bewirtschaftet. Hier würde die Expropriierung der Grundherrn nicht der Bauernschaft neuen Boden eröffnen, sondern nur die Pächter in Besitzer verwandeln.

Dann aber geht die Landwirtschaft heute noch unter Bedingungen vor sich, die den bäuerlichen Landwirt unter das allgemeine Kulturniveau herabdrücken und ihn, wenn auch nicht physisch, so doch geistig verkümmern lassen, zum Barbaren inmitten der Zivilisation degradieren. Das empfindet namentlich die jüngere Generation der Landbevölkerung so sehr, dass ihre intelligenteren und energischeren Mitglieder in die Stadt zur industriellen Lohnarbeit selbst dann flüchten, wenn sie auf dem Lande ausreichende Beschäftigung und eine auskömmliche Existenz finden. Die Verteilung der Bodenreserve wird in Russland ebenso wenig dauernd den Zustrom von Arbeitskräften in die Städte hemmen, wie sie es in Amerika tat; wohl aber kann sie ihm, solange diese Reserve noch vorhält, einen anderen Charakter geben. Die der Stadt zuziehenden Landleute werden nicht mehr durch den Zwang der bittersten Not, sondern nur noch durch ihr höheres Kulturbedürfnis dahin getrieben. Sie kommen nicht als Streikbrecher oder als Bettler, sondern als kampflustige Lohnarbeiter, die eine bessere Existenz heischen, kürzere Arbeitszeit, höhere Löhne,. als das selbständige Bauerngut ihnen gewähren kann.

Die Verteilung der Bodenreserve braucht also dem Kapital nicht seine Lohnarbeiter zu nehmen, muss nicht die kapitalistische Großindustrie unmöglich machen … sie kann aber das Kapital zwingen, dem Proletariat bedeutende Konzessionen zu gewähren. Das ist eine Tendenz, die zunächst antikapitalistische Formen annimmt. aber schließlich nur eine höhere Form des Kapitalismus herbeiführt, denn bekanntlich ist dieser dort am leistungsfähigsten, wo er mit hoher Lebenshaltung der Bevölkerung und kurzer Arbeitszeit Hand in Hand geht; denn nur unter diesen Bedingungen kann die menschliche Arbeitskraft dauernd ihre höchste Produktivkraft entfalten. Bisher konnte die russische Industrie sich nur kümmerlich unter dem Schutze hoher Zölle behaupten. Die Revolution wird ihr die Bedingungen schaffen, die sie aus dem Weltmarkt konkurrenzfähig machen und ihren inneren Markt vergrößern, wenn sie der bäuerlichen Bevölkerung eine mehr auskömmliche Existenz verschafft, dadurch die Landflucht einschränkt und es auch dem städtischen Proletariat erleichtert, höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit zu erringen.

Die Verteilung der Bodenreserve, das heißt des großen Grundeigentums, wie sie heute die russische Bauernschaft fordert und auch schon anfängt, praktisch durchzuführen – ob im Namen des Gemeineigentums an Boden oder unter einem anderen Titel – ist also nicht bloß unvermeidlich und notwendig, sondern auch höchst nützlich, und die Sozialdemokratie hat alle Ursache, diesen Prozess zu unterstützen. Man könnte vielleicht fürchten, er werde reaktionär insofern wirken, als er den Großbetrieb in der Landwirtschaft aufhebe. Aber der ist in Russland – von Polen und den baltischen Provinzen sehe ich hier ab – noch sehr wenig ein kapitalistischer mit Lohnarbeitern rationell bewirtschafteter Betrieb. Die revolutionäre Rolle des Großbetriebs besteht aber darin, dass er einmal eine höhere Produktivität der Arbeit und damit die materielle Vorbedingung ihrer Emanzipation schafft, auf der anderen Seite aber ein Proletariat erzeugt, das für das Privateigentum an den Produktionsmitteln kein Interesse mehr empfindet. Der russische landwirtschaftliche Großbetrieb hat bisher weder das eine noch das andere in merklichem Maße geleistet, die eventuellen Nachteile seiner Beseitigung fallen daher nicht ins Gewicht gegenüber den revolutionären Vorteilen, die daraus erwachsen. Wird aber das volle Privateigentum der Bauern an ihren Gütern hergestellt, dann dürfte sich auch bald wieder ein neuer landwirtschaftlicher Großbetrieb auf rationeller kapitalistischer Basis erheben.

Ist also die Expropriation des Großgrundbesitzes heute nicht bloß unvermeidlich, sondern auch nützlich, so darf man sich dabei nicht der Illusion hingeben, dass er in irgend einer Weise sozialistisch sei, solange daneben der Kapitalismus in der Industrie bestehen bleibt, oder dass er den Sozialismus in der Landwirtschaft anbahne. Was er anbahnt, ist vielmehr das volle Privateigentum am Boden, wie es in Amerika schon besteht, und die Aufhebung des letzten Restes bäuerlicher Untertänigkeit, wie sie in verschiedenen Formen, so als Schuldsklaverei oder Halbpacht gegenüber den Großgrundbesitzern und den wucherischen Großbauern, den Kulaki, bisher fortbestand.

Die Illusion, dass hinter der Forderung des Gemeineigentums am Boden, wie sie von manchen Bauern erhoben wird, die Forderung einer wirklichen Verstaatlichung des gesamten Bodens stecke, könnte nicht bloß zu sehr schmerzlichen Enttäuschungen führen, sie könnte direkte Gegensätze zwischen Bauernschaft und Sozialdemokratie erzeugen und dadurch für den Fortgang der Revolution verhängnisvoll werden, wenn die Sozialdemokratie es sich einfallen ließe, das Gemeineigentum am Boden ernst zu nehmen und den Bauern nicht als Besitzer, sondern bloß als Pächter seines Bodens zu betrachten, für den er dem Staat die Grundrente zu entrichten hätte und den er verlassen müsste, wenn er zur Zahlung dieser Rente unfähig wäre. Nur in dieser Form hat das Gemeineigentum am Boden in der kapitalistischen Gesellschaft einen Sinn, wir dürfen aber überzeugt sein, dass die Bauern nicht revoltieren, um ihrem Besitz diese Form zu geben, sondern bloß, um ihren Besitz um den der großen Grundbesitzer zu vergrößern.

Diesen Vorgang besorgen die Bauern ausreichend selbst, und das industrielle Proletariat braucht sich in ihn nicht anders einzumengen, als dass es durch seine Erhebung mithilft, die staatlichen Hindernisse der Bodenverteilung zu lähmen oder zu beseitigen.

Vermöchte aber die Illusion, als bedeute die neue Bodenverteilung einen agrarischen Sozialismus, die Revolution dann zu gefährden, wenn sie die Sozialisten triebe, die Phrase vom Gemeineigentum am Boden ernst zu nehmen, durch welche die Bodenverteilung gedeckt wird, so könnte diese Illusion der Revolution noch mehr dann verderblich werden. wenn sie dahin führte, dass die Arbeiter der Städte auf das Land zurückströmten, um ihrerseits ebenfalls des Segens dieses Sozialismus teilhaftig zu werden. Dieses Zurückströmen könnte allerdings nicht lange dauern, denn die Arbeiter müssten balde inne werden, wie windig es mit dem neuen agrarischen Sozialismus bestellt ist, dass er ihnen nichts bieten kann, als eine bäuerliche Existenz, die den Verzicht aus alle städtischen Kulturmittel in sich schließt, und dass er ihnen wahrscheinlich nicht einmal diese Existenz zu sichern vermöchte. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die vorhandene Bodenreserve im europäischen Russland keine allzu große ist. Sie würde gewiss nicht ausreichen, neben den zahlreichen Bauern mit ungenügendem Land auch noch mehrere Millionen städtischer Proletarier mit ausreichendem Grundbesitz zu versorgen, wenigstens nicht bei der heutigen Betriebsweise.

Das Zurückströmen der Industriearbeiter aufs Land, um des neuen Sozialismus teilhaftig zu werden, könnte also nur mit einer großen Enttäuschung enden. Binnen kurzem müsste die Landflucht wieder beginnen. Aber auch ein vorübergehendes Abströmen der Arbeiter aus den Städten aufs Land müsste inmitten der Revolution höchst verderblich wirken und diese aufs Empfindlichste schädigen. Vergessen wir nicht, dass die Kerntruppe der Revolution das industrielle städtische Proletariat ist, dass dieses schwächen die Revolution schwächen heißt. Mit den Bauern allein ist noch jede moderne zentralisierte Staatsgewalt fertig geworden, die Bauern sind auch nicht imstande, dauernd eine selbständige staatliche Politik zu treiben, sie müssen sich immer an eine der städtischen Klassen anlehnen und von dieser führen lassen. Raubt man dem städtischen Proletariat die Kraft, in der Revolution voranzugehen, so bricht diese in sich zusammen.

Man begeht also geradezu einen Verrat an der Revolution, wenn man die städtischen Arbeiter durch einen illusionären agrarischen Sozialismus aufs Land lockt, statt ihnen klarzulegen, wie unumgänglich notwendig ihre Kraft in der Stadt ist, wie sie dort viel mehr erringen können, als ihnen die bäuerliche Wirtschaft je zu gewähren vermag, und wie alles, was die Revolution für Bauern und Industriearbeiter je zu leisten imstande ist, nur erobert und verteidigt werden kann in der Stadt.

So nützlich, so notwendig, so unvermeidlich also die neue Landverteilung ist, wir dürfen uns auf keinen Fall hinreißen lassen, hinter ihr mehr zu sehen, als sie bedeuten kann, und müssen alle Illusionen zerstören, die an sie geknüpft werden, als könnte auf dem Lande heute etwas errungen werden, was das städtische Proletariat nicht zu gewinnen vermag.

Das Umgekehrte ist der Fall. Mit der Bodenverteilung hat der Bauer noch sehr wenig gewonnen. Er braucht noch mehr als neuen Boden; dasjenige, was er daneben braucht, findet er aber zum weitaus größten Teil nicht auf dem flachen Lande, sondern in den Städten und in den Industriezentren; vieles davon wird vom industriellen Proletariat produziert und kann nur durch letzteres ihm zugänglich gemacht werden. Ohne diese Produkte der Stadt und der Industrie bleibt er ein armer Schlucker, trotz aller Bodenverteilungen.

Auf welche Weise immer er zu mehr Boden kommen mag, mit diesem allein ist ihm nicht geholfen, wenn er ihn nicht rationell bebauen kann. Und dazu fehlen ihm fast alle Vorbedingungen, sowohl geistige wie technische. Sein Wissen ist ein ungemein geringes, mit der überkommenen Vorväterweisheit kommt man aber unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft nirgends mehr aus, nicht einmal in der bäuerlichen Landwirtschaft. Indes auch die technischen Behelfe des Bauern sind völlig unzureichende, seine Werkzeuge schlecht und veraltet, sein Vieh miserabel. Es fehlt dem Bauern an Geld, anzuschaffen, was er bedarf. Die Warenproduktion, die Produktion für den Verkauf statt für den Selbstgebrauch, entwickelte sich bei ihm infolge der Auflegung von Geldsteuern. Er konnte das Geld, das er für seine Produkte erhielt, nicht ansammeln, um verbesserte Produktionsmittel zu kaufen, er musste es an den Staat abliefern, damit es von dessen Herrn sinnlos vergeudet werde. Meist sollte er mehr Geld an Steuern zahlen, als er einnahm; statt Geld anzusammeln, häufte er bloß Steuerrückstände und Schulden an. Wie hätte er da ausreichende Werkzeuge oder gar Maschinen anschaffen können!

Aber die Geldsteuern schädigten ihn noch in anderer Weise. Bei dem exzessiven trockenen Klima Russlands kommen regenarme Sommer und in deren Gefolge Missernten nicht selten vor. Vor deren Folgen schützten sich die Bauern ehedem dadurch, dass sie in fruchtbaren Jahren die Überschüsse in Gemeindespeichern ansammelten, um eine Reserve für Notjahre zu haben. Diese Reserven haben unter der Warenproduktion völlig aufgehört. Alles, was der Bauer nicht bis zur nächsten Ernte selbst verbraucht, wird verkauft, muss verkauft werden, um die dringenden Geldbedürfnisse zu befriedigen. Tritt dann im folgenden Jahre Missernte ein, so ist deren notwendige Folge die Hungersnot. Aber nicht nur diese. Der Bauer hat dann kein Futter für sein Vieh, muss dieses verkaufen oder verkommen lassen und besitzt nun infolge der Missernte keine tierischen Kräfte mehr, die seinen Pflug führen, seine Wagen ziehen könnten. Er kann nicht tiefer pflügen, er verliert mit dem Vieh den Stallmist – für künstliche Dünger fehlt ihm vollends das Geld. Zu den Missernten infolge des kontinentalen Klimas gesellen sich auf diese Weise wachsende Missernten infolge ungenügender Bodenbestellung und zunehmender Erschöpfung des Bodens.

Dabei aber wird das Klima immer schlechter, das heißt exzessiver und trockener, infolge der zunehmenden Entwaldung, der Raubwirtschaft, die am Walde betrieben wird. Gerade für ein Land mit derartigem Klima ist der Wald als Erhalter der Feuchtigkeit besonders notwendig. Die Raubwirtschaft an den Waldungen selbst ist wieder zum Teil eine Folge des allgemeinen Bankrotts der Besitzer des Waldes – Staat, Großgrundbesitzer, Bauerngemeinden –, die sich durch den Verkauf von Holz zu retten suchen, ohne Rücksicht darauf, welche Folgen die Waldverwüstung nach sich ziehen muss. Zum Teil aber ist diese auch eine Folge des primitiven Wohnungsbaus, der den Bedingungen einer dünnen Bevölkerung angepasst ist, mit denen einer dichteren aber unvereinbar wird. Das bäuerliche Haus wird immer noch von Holz gebaut, ist ein Blockhaus, dessen Materialien sich der Bauer im nächsten Walde holt. Das bedeutet bei einer dichteren Bevölkerung einen kolossalen Holzverbrauch im Lande. Und Russland ist heute nicht mehr so dünn bevölkert. wie man sich es gewöhnlich vorstellt. Freilich die ungeheuren, unfruchtbaren Gebiete des Nordens sind noch völlig einsam; im Gouvernement Archangelsk kommen durchschnittlich auf 5 Quadratkilometer zwei Menschen. Aber in den eigentlichen Getreidegegenden sieden wir 40, ja bis 70 (Podolien 72, Gouvernement Moskau 72) Einwohner auf den Quadratkilometer, eine Volksdichtigkeit, die doppelt so groß wird wie die durchschnittliche Mecklenburgs (Mecklenburg-Strelitz 35). Mit solcher Volksdichte ist die primitive Verwendung des Holzes unvereinbar. Sie führt überall zur Entwaldung und, bei kontinentalem Klima, zur Verödung des Bodens, zum Versiegen der Quellen, ja zu schließlicher Wüstenbildung.

Alle diese Missstände müssen beseitigt werden, soll die bäuerliche Landwirtschaft Russlands aus ihrer gegenwärtigen Verkommenheit befreit werden. Die Verteilung des Bodens der Großgrundbesitzer unter die Bauern bedeutet für sich allein sehr wenig, sie könnte sogar eine Ursache völligen Verfalls der russischen Landwirtschaft werden, wenn die anderen eben genannten Faktoren nicht aufhörten, denn diese Verteilung führte dann nur zum Aufhören jener landwirtschaftlichen Betriebe, die bisher am ehesten noch mit vollkommenen Werkzeugen und Maschinen rationell betrieben wurden. Die ganze Landwirtschaft Russlands würde dann auf das Niveau einer verelendeten Bauernwirtschaft herabgedrückt.

Wie aber diese Missstände beseitigen? Es gilt, Volksschulen zu bauen und Lehrer anzustellen, sowie die Dorfgemeinden mit guten landwirtschaftlichen Werkzeugen und Maschinen und ausreichendem Vieh zu versehen, sei es, damit sie selbst damit wirtschaften; sei es, damit sie diese Produktionsmittel den einzelnen Bauernwirtschaften zugänglich machen. Es gilt, auch eine rationelle Waldwirtschaft einzuführen. Es gilt endlich, den Bauern in den waldarmen Gegenden die Mittel zu geben, damit sie bei Neubauten von Häusern an Stelle von Bauholz Eisen und Steine oder Ziegel anwenden.

Aber alles das erfordert Geld, Geld, immer wieder Geld, solange die kapitalistische Wirtschaft weiter geht. Und woher dieses Geld nehmen?

Scheut man vor energischen Angriffen auf das Kapital zurück, dann gibt es nur einen Weg, Russland zu Geld zu verhelfen, eine neue Riesenanleihe. Aber dieser Weg bedeutet nur eine neue Belastung des steuerzahlenden Volkes, und dessen Steuerzahlungen sind ja gerade die Wurzel des Übels.

Überdies aber, selbst wenn man wollte, wird man diesen Weg nicht einschlagen können, da er zum Mindesten voraussetzt, dass alle Steuern regelmäßig und pünktlich eingehen, dass das Land sich „beruhigt", das heißt willenlos wieder der Diktatur der Regierung unterwirft, die meinetwegen sich eine liberale nennen mag. Nur unter dieser Bedingung ist eine neue Anleihe zu erwarten, deren Resultat eine vermehrte Belastung des russischen Volkes zugunsten des ausländischen Kapitals wäre.

Aber Proletarier und Bauern haben zu sehr ihre Kraft kennen gelernt, um freiwillig wieder unter das alte Joch zu kriechen. Und im Moment ist keine Gewalt da, die sie darunter zwingen könnte. Solange das der Fall, bleibt es ausgeschlossen, dass Russland bei dem internationalen Geldkapital wieder Kredit erhält. Eine neue große russische Anleihe ist in absehbarer Zeit nicht mehr zu erwarten – und es ist ein Glück für das russische Volk, wenn sie unmöglich bleibt.

Viel eher als eine neue Anleihe ist das Gegenteil davon zu erwarten – die Einstellung der Zinszahlungen für die bisherigen Anleihen, also der Staatsbankrott.

Das bedeutete sofort eine ungeheure Erleichterung für das russische Volk. Rund 600 Millionen Mark im Jahre würde es dadurch ersparen.

Ungefähr ebenso viel könnte es sparen, wenn es sein stehendes Heer auflöste und durch ein Milizsystem ersetzte. Heer und Marine kosten heute den russischen Staat rund eine Milliarde Mark im Jahre. Der Verzicht auf die Stellung einer maritimen Großmacht und auf eine Armee, die ebenso gegen den inneren Feind wie zu einem Eroberungskrieg verwendbar ist, würde sicher das Budget des Kriegswesens auf die Hälfte reduzieren. Eine völlige Abrüstung wäre für Russland heute nicht ratsam. So wahnwitzig auch der Versuch einer äußeren Intervention zur Niederschlagung. der revolutionären russischen Bevölkerung wäre, völlig ausgeschlossen ist sie nicht. Entwaffnen darf sich das Volk Russlands nicht. Aber zu seiner Sicherung genügt vollständig eine organisierte, im Waffengebrauch gehörig geübte Miliz, geführt von einem wissenschaftlich gebildeten Generalstab.

Erspart so Russland eine Milliarde Mark unproduktiver Ausgaben im Jahre, so ist damit der Weg zu seiner finanziellen Gesundung eröffnet. Wenn von dieser Milliarde die Hälfte auf Steuernachlässe verwendet wird, bleiben immer noch einige hundert Millionen Mark im Jahr zu Kulturzwecken übrig.

Aber die Anforderungen in dieser Richtung werden so gewaltige sein, es gilt so vieles Versäumte nachzuholen, dass die Notwendigkeit eintreten wird, noch andere Einnahmequellen zu eröffnen.

Die Bauern sprechen davon, den Klöstern ihr Grundeigentum wegzunehmen. Aber die Revolution, von der Not gedrängt, wird dabei nicht stehen bleiben.

Die Klöster sind reich an Gold und Silber und Edelsteinen, die nutzlos in ihren Schatzkammern lagern. Die Revolution wird sich dieser Schätze bemächtigen, die edlen Steine verkaufen, das edle Metall ummünzen und anwenden zum Wohle des Volkes!

Die Bauern sprechen auch von der Verstaatlichung der Güter des Zaren und seiner Verwandten. Aber diese Herrschaften besitzen nicht bloß Grundeigentum, sondern auch ungeheuren Reichtum anderer Art. Väterchen wird es sicher selbstverständlich finden, dass dieses Vermögen zum Besten seiner hungernden Landeskinder in Anspruch genommen wird.

Endlich gibt es in Russland eine Reihe kapitalistischer Betriebe, die tatsächlich bereits zu Monopolen geworden sind. Ist der Staat demokratisch reorganisiert, dann besteht kein politisches Bedenken dagegen, diese privaten Monopole heute schon, bei fortbestehender kapitalistischer Wirtschaft, in staatliche Monopole umzuwandeln. So die privaten Eisenbahnen, Bergwerke, namentlich Kohlengruben und Petroleumquellen.

Freilich, würde man sie in der Weise verstaatlichen, wie es bisher schon bei manchen Eisenbahnen geschah, so würden die Kapitalisten dabei ein Bombengeschäft machen und der Staat seine Lasten noch vergrößert sehen. Aber man könnte sie in einer Weise expropriieren, die es ermöglicht, dass sie den Arbeitern bessere Bezahlung, den Konsumenten billigere Preise bieten und doch dem Staate zu einer Quelle der Bereicherung werden, die wieder zu technischer und intellektueller Hebung der Volksmasse dienen könnte.

Durch derartige gewaltsame Eingriffe in das ökonomische Leben wäre es möglich, die Mittel zu gewinnen, um die bäuerliche Landwirtschaft Russlands auf eine höhere Basis zu stellen, was für das Gedeihen, ja für den Fortbestand Russlands unerlässlich ist. Nicht, um sie auf eine sozialistische Basis zu stellen, dazu fehlen ihr noch die wichtigsten Voraussetzungen. Auch nicht, um den russischen Bauer in ein Paradies zu versetzen. Binnen kurzem dürfte er es ebenso wie etwa bald nach der Revolution von 1789 seine französischen Genossen merken, dass unter der kapitalistischen Produktionsweise eine den modernen Kulturbedürfnissen entsprechende Existenz auf der Grundlage der bäuerlichen Landwirtschaft nicht erreichbar ist.

Aber alle die hier erläuterten Maßnahmen sind unerlässlich, den russischen Bauern auf eine etwas höhere Stufe zu heben und seine Landwirtschaft vor völligem Ruin zu retten. Sie sind aber auch unerlässlich für Russland selbst, dessen zahlreichste Bevölkerungsklasse die Bauernschaft ist, von deren Existenzbedingungen der Charakter des ganzen Staates um so mehr abhängt, je demokratischer er gestaltet wird. Sie sind auch unerlässlich für die Hebung des industriellen Proletariats, dessen Lebenshaltung, dessen Löhne und Arbeitszeiten stets in einer gewissen Abhängigkeit zu der Lebenshaltung und den Arbeitsbedingungen der landwirtschaftlichen Bevölkerung stehen, und zwar um so mehr, je größer der Prozentsatz der letzterem je mehr das industrielle Proletariat sich aus dieser rekrutiert. Die hier entwickelten Maßregeln sind endlich auch unerlässlich im Interesse der Großindustrie selbst, also, solange diese kapitalistisch betrieben wird, im Interesse des Kapitals, so sehr sie auch zunächst kapitalistische Interessen verletzen. Denn nur diese Hebung der Bauernschaft vermag der russischen Industrie den inneren Markt zu geben, dessen sie bedarf, nur sie vermag der Großindustrie jenen Zuzug kraftvoller, intelligenter Arbeitskräfte zu liefern, ohne welche keine Industrie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wird.

Aber so wenig diese Maßregeln sozialistisch sind, so sehr sie zunächst nichts anderes herbeiführen können, als die Erhebung der bäuerlichen Landwirtschaft und der kapitalistischen Industrie Russlands auf eine höhere Stufe – allerdings auf die Vorstufe zum Sozialismus – so kann doch nur die Sozialdemokratie, die Klassenorganisation des bewussten industriellen Proletariats, diese Maßregeln zur Durchführung bringen, denn sie sind revolutionäre Maßregeln und Maßregeln, die einen weiteren Horizont voraussehen als den bäuerlichen. Sie werden vom Interesse der Bauern ebenso geboten wie vom Gesamtinteresse Russlands. Aber sie können weder von den Bauern und schon gar nicht von einer der anderen, besitzenden Klassen ausgehen, sondern nur vom industriellen Proletariat.

Soweit die agrarischen Fragen bloße Bodenfragen sind, kann und muss man die Bauern sich selbst überlassen, da werden sie sich von den städtischen Elementen nichts dreinreden lassen, und jedes Dazwischentreten könnte hier bloß schaden. Aber was die Bauern nicht ohne weiteres sehen können, was auch so viele Theoretiker der Agrarfrage nicht sehen, das sind deren Zusammenhänge mit dem gesamten Produktionsprozess, deren Beziehungen zur Industrie und zum industriellen Proletariat und die Konsequenzen und Forderungen, die daraus erwachsen. Es gilt also, die Bauern darüber aufzuklären, ihnen zu zeigen, wie wenig ihnen mit einer bloßen Landverteilung geholfen ist, wie sie viel mehr verlangen müssen, wie sie das aber nur erlangen können durch das industrielle Proletariat, das allein den besitzenden Klassen gegenüber die nötige Rücksichtslosigkeit besitzt; wie nicht das Zurückströmen der industriellen Proletarier aufs Land, sondern ihre Kräftigung und ihr energischstes Wirken in den Städten und Industriezentren allein imstande ist, mit dem Fortgang der Revolution auch für die Bauernschaft zu erringen, was für sie errungen werden kann.

Nur keine Illusionen darüber, dass die russischen Bauern jetzt im Begriffe seien, eine Art von agrarischem Sozialismus einzurichten, ehe noch die Zeit für den Sozialismus der ganzen Nation gekommen!

* Der vorliegende Artikel bildet das Vorwort zur neuesten Ausgabe der russischen Übersetzung meines Buches „Das Erfurter Programm" (nicht meiner mit Schoenlank zusammen verfassten Broschüre darüder), das in diesem Jahre seit dem Ausbruch der Revolution in 200.000 Exemplaren in Russland verbreitet wurde.

K. Kautsky

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