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Karl Kautsky 19060214 Der amerikanische Arbeiter

Karl Kautsky: Der amerikanische Arbeiter

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band (1905-1906), Heft 21 (14. Februar 1906), S. 676-683, Heft 22 (21. Februar 1906), S. 717-727, Heft 23 (28. Februar 1906), S. 749-752, Heft 24 (7. März 1906), S. 773-787]

1. Zwei Vorbilder deutscher Entwicklung

In seinen „Studien zur Entwicklungsgeschichte des nordamerikanischen Proletariats", die Sombart in einigen Heften des „Archivs für Sozialwissenschaft“ veröffentlichte (Band XXI, Heft 1-3) bemerkt er:

Die Vereinigten Staaten sind das Land höchster kapitalistischer Entwicklung, ihre wirtschaftliche Organisation stellt also unsere Zukunft dar. Was 1867 Marx mit Recht von England aussagte, dürfen wir jetzt auf Amerika anwenden: de tu fabula narratur, Europa, wenn wir über amerikanische Zustände berichten. Wenigstens was die kapitalistische Entwicklung betrifft."

Mit letzterer Einschränkung stimmt das. Ein Land, das, wie England bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, den anderen Ländern in jeder Beziehung als klassisches Vorbild der kapitalistischen Gesellschaft und aller ihrer Tendenzen dienen könnte – ein solches Land gibt es heute nicht mehr. Als Marx England studierte, da enthielt dieses nicht bloß die entwickeltste Kapitalistenklasse, sondern auch das höchst stehende Proletariat; da zeigte es auf das Vollkommenste nicht bloß die Tendenzen der kapitalistischen Ausbeutung und Organisation, sondern auch die Gegentendenzen der proletarischen Empörung und Organisation. Da war England der Staat, der zuerst und am entschiedensten eine sozialistische Parteibewegung, die des Chartismus, eine Gewerkschaftsbewegung, eine proletarische Genossenschaftsbewegung, eine Arbeiterschutzgesetzgebung entwickelt hatte.

Heute gibt es eine ganze Reihe von Ländern, in denen das Kapital das ganze ökonomische Leben beherrscht; aber keines hat alle Seiten der kapitalistischen Produktionsweise in gleichem Maße entwickelt. Namentlich sind es zwei Staaten, die als Extreme einander gegenüberstehen, von denen jeder ein anderes der beiden Elemente dieser Produktionsweise verhältnismäßig stark, das heißt mehr, als der Höhe seiner Entwicklung entspricht, zur Geltung kommen sieht: Amerika die Klasse der Kapitalisten, Russland die der Proletarier.

In Amerika kann man mehr als anderswo von der Diktatur des Kapitals reden. Dagegen hat das kämpfende Proletariat nirgends eine solche Bedeutung erlangt wie in Russland, und diese Bedeutung wird und muss sich noch steigern, denn dieses Land hat eben erst begonnen, in die modernen Klassenkämpfe einzutreten und ihnen einigermaßen Spielraum zu gewähren.

Deutschlands Ökonomie steht am nächsten der amerikanischen, Deutschlands Politik am nächsten der russischen. So zeigen uns auch beide Länder unsere Zukunft; sie wird halb amerikanischen, halb russischen Charakters sein. Je mehr wir Russland und Amerika studieren, je besser wir beide begreifen, desto klarer werden wir auch unsere eigene Zukunft verstehen. Das amerikanische Beispiel allein wäre ebenso irreführend wie das russische.

Es ist allerdings eine eigentümliche Erscheinung, dass gerade das Proletariat Russlands uns unsere Zukunft zeigen sollte, soweit sie nicht in der Organisation des Kapitals, sondern in der Empörung der Arbeiterklasse ihren Ausdruck findet; ist doch Russland unter allen großen Staaten der kapitalistischen Welt der rückständigste. Es scheint das in Widerspruch zu der materialistischen Geschichtsauffassung zu stehen, wonach die ökonomische Entwicklung die Grundlage der politischen bildet. Aber es steht bloß im Widerspruch zu jener Art materialistischer Geschichtsauffassung, die unsere Gegner und Kritiker vorführen, die unter ihr eine fertige Schablone verstehen, nicht eine Methode der Forschung. Sie lehnen die materialistische Geschichtsauffassung ab weil sie unfähig sind, sie zu begreifen und fruchtbringend zu handhaben.

2. Der russische Kapitalismus

Zwei Umstände sind [es], denen vor allem die außerordentliche Kraft des russischen Proletariats zuzuschreiben sein dürfte: dem Mangel an einer starken inländischen Kapitalistenklasse und der Notwendigkeit einer politischen Revolution in Russland.

Der Kapitalismus ist im russischen Reiche auf einer anderen Grundlage erwachsen als in Westeuropa. Dort entwickelte sich ein starkes städtisches Bürgertum schon vor dem fürstlichen Absolutismus; dieser war in seinen Anfängen auf die Hilfe jenes angewiesen gegenüber dem selbständigen Grundadel und Klerus. Beide erstarkten miteinander. Den Überschuss der Arbeit der produktiven Klassen, der unter der Warenproduktion immer mehr die Form von Mehrwert annahm, konnten Monarchen, Aristokraten und Pfaffen nicht allein einstecken, sie mussten einen Teil davon auch der städtischen Bourgeoisie überlassen. Was die Monarchen und Aristokraten schluckten, wurde vergeudet in Kriegführung und Prunk. Was die Kirche annektierte, wurde, soweit es nicht in Wohlleben aufging, als Schatz aufgespeichert. Die Bourgeoisie aber verwandelte den ihr zufallenden Anteil an der Plünderung der arbeitenden Klassen des In- und Auslandes in Kapital, das sie immer mehr anhäufte. Je geringer die Macht der Monarchen, Aristokraten und Pfaffen, je größer die der Bourgeoisie im Lande, desto rascher ging unter sonst gleichen Umständen die Akkumulation, die Aufhäufung von Kapital vor sich. Andererseits, je rascher diese Akkumulation vor sich ging, desto größer – bis zu einem gewissen Punkte – die Zahl und unter allen Umständen die Macht der Kapitalisten nicht bloß den besitzlosen, beherrschten, sondern auch den nichtkapitalistischen, besitzenden, herrschenden Klassen gegenüber; desto größer ihre Macht im Staate.

Anders war die Entwicklung in Russland. Die Macht des Zarismus kam nicht gleichzeitig mit dem Erstarken einer Bourgeoisie oder gar infolge davon auf. Der russische Staat geriet noch als reiner Agrarstaat, als ein geradezu orientalischer Despotismus in engere Verbindung mit Westeuropa, gerade zu jener Zeit, als der Absolutismus dort gesiegt, Kirche und Adel sich unterworfen, eigene Organe der Alleinherrschaft im stehenden Heere und der Bürokratie geschaffen und Misstrauen, ja Feindseligkeit der aufstrebenden Bourgeoisie gegenüber entwickelt hatte. Der russische Despotismus erkannte sofort, wie wertvoll ihm die Machtmittel des westeuropäischen Absolutismus, stehendes Heer und Bürokratie, werden könnten, und er führte sie schnellstens bei sich ein. Das war vor allem die vielgerühmte zivilisatorische Tat Peters des Großen. Franzosen, namentlich aber Deutsche wurden die ersten und besten Werkzeuge, den orientalischen Despotismus der Zaren durch die Machtmittel der kapitalistischen Zivilisation zu kräftigen und dem westeuropäischen Absolutismus ebenbürtig zu machen. Das heißt aber für die innere Politik nichts anderes, als dass die Macht der Zaren stieg, den produktiven Klassen ihre Überschüsse abzunehmen, und dass die Menge der unproduktiven Aufwendungen stieg, die aus diesen Überschüssen, namentlich für Soldaten und Bürokraten, zu bestreiten waren. Peters I. Werk war die Vermehrung der Steuern um das Fünffache. Die Zivilisierung Russlands bedeutete nur eine Verstärkung der Mittel zu seiner Ausplünderung, nicht eine Vermehrung seines Kapitalreichtums, wie in Westeuropa. Eine Kapitalistenklasse von Bedeutung, wie dort, wurde unter diesen Umständen nicht geschaffen.

Die ökonomische Entwicklung des Landes wurde dadurch ungemein verlangsamt, während in dem Maße, in dem seine „Zivilisierung" fortschritt und seine Verbindung mit Westeuropa enger wurde, die Teilnahme der Zaren an der Politik der europäischen Großstaaten wuchs. Das Reich sollte an Machtmitteln immer mehr gleichen Schritt mit den an Reichtum rasch zunehmenden kapitalistischen Großstaaten halten, indes sein ökonomischer Abstand von ihnen sich eher immer mehr vergrößerte. Die Folge war schon im achtzehnten Jahrhundert eine unglaubliche finanzielle Misswirtschaft. In reichlichstem Maße wurden die beiden Mittel der Regierungen kapitalistischer Länder angewandt, um sich Geld zu verschaffen: Anleihe und Geldfälschung – die Fabrikation ungedeckten Papiergeldes ist auch nichts anderes. War der Kredit gering, pumpte niemand, dann wurde die Notenpresse in Anwendung gebracht. Fand man Geldgeber, dann mochte die Fabrikation falschen Geldes eine Zeitlang ruhen. Wusste man sich gar nicht mehr zu helfen, dann versuchte man einen kleinen Staatsbankrott, wie 1843, wo man das alte Papiergeld außer Kurs setzte und gegen neues eintauschte, wobei man aber für 3½ Rubelnoten bloß eine neue Rubelnote gab.

Die Verschuldung des Staates stieg dabei ununterbrochen. Nun ist freilich das Wachsen der Staatsschulden keine russische Eigentümlichkeit, und es gibt sogar bürgerliche Ökonomen, die meinen, eine große Staatsschuld bilde die Grundlage des Gedeihens für einen Staat. Unter Umständen enthält das ein Körnchen Wahrheit. Die Verzinsung der Staatsschuld bedeutet eine Tributzahlung des Staates an das Kapital. Sie bedeutet, dass die Staatsgewalt die produktiven Klassen ausbeutet, um mit dem Ergebnis das Kapital zu vermehren. Vergrößerung des Proletariats auf der einen, des Kapitals auf der anderen Seite – das bedeutet das Anwachsen der Staatsschulden. Befinden sich nun die Kapitalisten in dem Staate selbst, der ihnen verschuldet ist, dann kann die Staatsschuld zu einer Förderung kapitalistischer Produktion werden, deren Elemente – Proletarier und Kapital – durch ihre Verzinsung geliefert werden. Das arbeitende Volk verarmt dabei, aber die Kapitalistenklasse wird reich und die kapitalistische Produktion entwickelt sich.

Ganz anders wirkt jedoch die Staatsschuld, wenn die geldgebenden Kapitalisten außerhalb des Landes leben. Die Verzinsung der Staatsschuld wird nun zu einem beständigen Abfließen von Geld ins Ausland; soweit die Zinsen zu Kapital werden, bereichern sie das Ausland; das verschuldete Land dagegen verarmt. Hier produziert die Staatsschuld im Lande wohl Proletarier, aber Kapitalisten produziert sie nicht dort, sondern im Ausland. So ergeht es der Türkei und nicht minder dem russischen Reiche.

Aber zwischen den beiden ist doch ein Unterschied. Die Türkei ist bereits so hilflos geworden, dass sie sich den Diktaten des Auslandes willenlos unterwerfen muss. Sie existiert als selbständiger Staat nur noch dank der Eifersucht der verschiedenen Mächte, die keinem die Beute gönnen. Darin sind sie aber alle einig, das unglückliche Land zu plündern und ihm ihre Produkte aufzuzwingen, also das Aufkommen jeglicher Industrie in seinen Grenzen zu verhindern. So führt die türkische Wirtschaft wohl, ebenso wie die russische, zu fortschreitendem Verkommen der Landwirtschaft und Zunahme des Proletariats, aber dieses findet in der Türkei keine kapitalistische Industrie, in der es sich betätigen könnte. Soweit es indolent, bettelt es, soweit es energisch, liefert es Banditen und Aufständische – die sterben in der Türkei nicht aus, so viele man ihrer auch erschießen mag.

So hilflos war bisher Russland nicht. Sobald die russische Regierung erkannte, welch ein Machtmittel eine kapitalistische Industrie ist, versuchte sie auch, das Aufkommen einer solchen zu fördern. An Proletariern mangelt es ja nicht. Millionen von Bettlern und Arbeit suchenden Bauern durchzogen Russland. Woher aber das nötige Kapital nehmen? In Russland war nur wenig davon zu finden. Wieder musste das ausländische Kapital angelockt werden, damit es Eisenbahnen baue, Bergwerke eröffne, Hochöfen, Spinnereien, Webereien, Zuckerfabriken errichte. Und der Überfluss Westeuropas an Kapital, an Mehrwert, den es aus den Arbeitern des eigenen Landes und des Auslandes herausgeschunden, ist seit den achtziger Jahren so gewachsen, dass es in der Heimat längst nicht mehr genügende Anlagemöglichkeiten findet und auf das schlimmste Risiko hin ins Ausland fließt, nach Portugal, Griechenland, der Türkei, Venezuela, warum nicht nach Russland? So wurde vorwiegend mit auswärtigem Kapital eine russische Großindustrie geschaffen, die namentlich in den letzten zwei Jahrzehnten rapid in die Höhe schoss. Damit verwandelte sich auch ein großer Teil des russischen Proletariats aus Lumpenproletariern oder dürftigen Zwergbauern in Lohnarbeiter, aus furchtsamen und demütigen Bettlern und Knechten in entschlossene revolutionäre Kämpfer. Aber diesem Aufkommen eines starken kämpfenden Proletariats entsprach nicht das Aufkommen einer entsprechenden russischen Kapitalistenklasse. Und das gibt dem Klassenkampf des Proletariats im Zarenreich einen ganz eigentümlichen Charakter.

Wenn das Proletariat Russlands das Kapital bekämpft, kämpft es zum großen Teil gegen das Ausland, gegen die Ausbeuter, die ganz Russland aussaugen und entkräften, die allen Mehrwert, den das Land produziert, aus ihm ziehen. Das Proletariat wird so zum Vorkämpfer des Gesamtinteresses der russischen Gesellschaft.

Andererseits erscheint jetzt der Zar mit seinem ganzen Herrschaftsorganismus an Soldaten, Kosaken und Tschinowniks als der Vertreter der Interessen des Auslands, das ganz Russland ausbeutet. Überall sind die modernen Regierungen die bloßen Kommis des Kapitals, aber der russische Absolutismus ist der Kommis des ausländischen Kapitals. Er ist der Vertreter der Interessen der europäischen Finanz gegenüber dem russischen Volk, das er plündert, um ihr den Löwenanteil der Beute gehorsam auszufolgen. Darin beruht in einer Beziehung die Stärke der jetzigen russischen Regierung. Weil die internationale Wucherbande weiß, welch diensteifrige Vertretung ihrer Interessen sie im Absolutismus hat, stützt sie ihn mit aller Macht, trotzdem sie von der Schwindelhaftigkeit seiner Hochstaplerexistenz vollständig unterrichtet ist. Aber eben deshalb weiß die politisch denkende Bevölkerung Russlands sehr wohl, dass das Reich der Verarmung und Verelendung nicht entgehen kann ohne den Sturz des Absolutismus, und eben deshalb, da es eine starke kapitalistische Bourgeoisie im Lande selbst nicht gibt, die der ruinierenden Politik der Regierung entgegenwirken könnte, fällt der Vorkampf für die Interessen ganz Russlands der einzigen starken modernen Klasse zu, die es besitzt, dem industriellen Proletariat. So übt dieses dort einen gewaltigen politischen Einfluss aus; so wird in Russland der Kampf um die Erlösung des Reiches von dem es erwürgenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der industriellen Arbeiterklasse; zu einem Zweikampf, in den die Bauernschaft in hohem Grade helfend, in keiner Weise aber führend eingreifen kann.

3. Ausländisches und inländisches Kapital

Die Unterscheidung der gesellschaftlichen und politischen Wirkungen des Kapitals, das aus dem Ausland stammt, von denen des Kapitals, das im Lande selbst akkumuliert wurde und dort den Mehrwert an sich zieht – das ist eine Frage, die für die klassische Ökonomie und auch für Marx selbst noch nicht hervortrat. Ricardo wies noch darauf hin, wie schwer die Hindernisse der Auswanderung von Kapitalien zu überwinden seien (im 7. Kapitel seiner „Grundsätze"). Diese Hindernisse sind erst in neuerer Zeit fast völlig geschwunden.

Andererseits aber musste die Theorie das Problem der Wirkungen des Kapitals in seiner einfachsten Form untersuchen, also unter völligem Absehen vom Ausland, unter der Voraussetzung, dass es nur ein einziges kapitalistisches Gemeinwesen gebe, wie sie ja auch nur Kapitalisten und Lohnarbeiter unterscheidet und von allen anderen Klassen absieht, die für die gesellschaftliche und politische Praxis doch von großer Bedeutung sind. Erst wenn man die kapitalistischen Zusammenhänge in diesen einfachsten Formen begriffen hat, kann man auch ihre komplizierteren untersuchen und verstehen.

Die Macht des Kapitals gegenüber der Lohnarbeiterschaft liegt klar zutage. Je mehr Kapital aufgehäuft wird, je mehr der Großbetrieb sich entwickelt, desto mehr werden die Produktionsmittel das Monopol der Kapitalistenklasse, desto größer wird die Masse der Besitzlosen und desto unmöglicher wird es für diese, auf andere Weise ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, als durch Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Alleinbesitzer der Produktionsmittel. Das ist bekannt.

Aber je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt und die Masse des Kapitals wächst, desto abhängiger vom Kapital werden auch die nichtkapitalistischen besitzenden und herrschenden Klassen, die Mehrwert, oft sogar Teile des Wertes der Arbeitskraft, dank ihren Machtpositionen an sich ziehen; so die Grundbesitzer die Grundrente, die Landesfürsten die Steuern. Ihre feudalen Traditionen wie ihre gesellschaftlichen und politischen Funktionen in der heutigen Gesellschaft veranlassen diese Klassen dazu, möglichst viel Geld auszugeben – man denke zum Beispiel nur an das Wettrüsten der Staaten. Daher sind sie in steter Geldnot und müssen immer wieder Geld von jener Klasse pumpen, die Kapital akkumuliert, und unter deren Botmäßigkeit sie dadurch geraten, so viel Hass und Verachtung sie auch für ihre Geldgeber empfinden mögen.

Endlich aber beruht die Macht des Kapitals in der Gesellschaft auch auf der Abhängigkeit, in die es jene unproduktiven Klassen versetzt, die nicht, wie zum Beispiel der Grundbesitz, stets ein nutzloses Schmarotzerdasein führen, sondern die sehr tätig in der Gesellschaft sind und von denen manche ungemein nützlich, ja unentbehrlich für die Gesellschaft werden können.

Was die Mitglieder einer herrschenden und ausbeutenden Klasse persönlich verzehren, ist in der Regel unbedeutend und wird verhältnismäßig um so geringer, je größer das Maß der Ausbeutung. Einen großen Teil des Überschusses, den die produktiven Klassen erzeugen und die ausbeutenden ihnen abnehmen, haben diese stets dazu verwendet, eine Schicht unproduktiver, aber für die Ausbeuter tätiger Klassen zu erhalten. Aus dieser Schicht beruhte stets zum großen Teil die gesellschaftliche und politische Macht der Ausbeuter. Das was zum Beispiel die Grundherren des Mittelalters aus den Bauern herausquetschten, das verzehrten sie nicht allein, daraus besoldeten sie Dienstmannen und Gefolgsleute, Possenreißer und Dirnen, Minnesänger und Astrologen, Burgkapläne und Stallknechte usw. Alle diese lebten von dem Ertrag der Ausbeutung des produktiven Volkes, standen diesem als Teilhaber an der Ausbeutung, als Verfechter der Ausbeutung gegenüber.

Je mehr nun die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt und je mehr das Kapital als Ausbeutungsmittel in den Vordergrund tritt. desto größer wird auch die Menge der unproduktiven Arbeiter, die es beschäftigt. Die Akkumulation ist freilich die Hauptaufgabe des Kapitalisten, der er alle anderen unterordnet. Solange die Kapitalien noch gering, ihre Erträge klein sind, knausert der Kapitalist an seinem persönlichen Konsum, ist er puritanisch und voll Verachtung nicht bloß für sinnlosen Luxus und Prunk, sondern selbst für ernste Künste und Wissenschaften. Aber je mehr das Kapital und der Grad der Ausbeutung wächst, die es übt, desto leichter fällt es den Kapitalisten, nicht nur die Akkumulation aufs Rascheste vorangehen zu lassen, sondern auch ihrem persönlichen Konsum eine größere Ausdehnung zu geben und daneben noch ein Heer von unproduktiven Arbeitern zu füttern, Lakaien aller Art, gelehrte und ungelehrte, ästhetische und unästhetische, ethische und zynische.

Diese unproduktiven Arbeiter sind aber ein starker Schutzwall der Ausbeutung, an der sie indirekten Anteil haben. Sie vermindern nicht bloß durch ihre Zahl die der produktiven, direkt ausgebeuteten Arbeiter, der Kämpfer gegen die Ausbeutung. Zu ihnen gehört auch ein großer Teil der Intelligenz, die das Denken und Empfinden des Volkes durch ihre Predigten, Schriften, Kunstleistungen beeinflusst. Endlich aber bilden diese Schichten die den Ausgebeuteten am ehesten zugänglichen Stufen, um aus dem Bereich der Ausbeutung emporzusteigen zu einer der herrschenden Klasse näher liegenden Position. Je stärker diese Schichten, desto größer die Aussicht, von unten aus in sie einzutreten, desto zahlreicher jene Elemente unter den Ausgebeuteten, die dadurch, anstatt durch einen energischen Klassenkampf, ihre Lage zu verbessern gedenken, desto stärker der Einfluss, den die unproduktiven Arbeiter auch in dieser Weise auf die Gesinnung der produktiven üben.

Wie gestalten sich nun diese Verhältnisse dort, wo das Kapital nicht aus dem Lande selbst stammt, sondern von außen geliefert wird, so dass der Mehrwert, den es ergattert, auch dahin abfließt?

Der Gegensatz zwischen dem Unternehmer und dem Lohnarbeiter, ebenso wie der zwischen dem Wucherer und Schuldner tritt schärfer zutage, wird leichter erkannt und schwerer empfunden, wenn beide Teile verschiedenen Nationen angehören, denen jede kulturelle Gemeinsamkeit fehlt. Das macht sich jedoch nur dort geltend, wo beide Teile in persönliche Beziehungen zueinander treten, also in der Regel dort, wo beide Teile im gleichen Lande wohnen. In Russland also etwa, wenn der Fabrikant oder Fabrikdirektor oder Geldgeber ein Jude gegenüber Nichtjuden oder ein Deutscher gegenüber Slawen ist. Bei unpersönlichem Kapital – Staatsanleihen und Aktiengesellschaften – fällt dieser persönliche Gegensatz von vornherein weg.

Andererseits führt, wie schon bemerkt, das Abfließen des Mehrwertes ins Ausland zu einem Verarmen des ganzen Landes, aller Klassen, nicht bloß der produktiv tätigen. Aber zunächst braucht das nicht bemerkt zu werden. Die erste Wirkung des Kapitals, das vom Ausland kommt, ist ja die, die Kapitalmenge im Inland auszudehnen, die Nachfrage nach Produktionsmitteln zu vermehren, die Zahl der Arbeiter zu vergrößern, die bei deren Produktion beschäftigt sind, und so auch ihren Konsum an Gegenständen des persönlichen Konsums zu erweitern. Erst allmählich treten dann die Wirkungen des zunehmenden Abflusses von Mehrwert ins Ausland ein. der schließlich eine solche Ausdehnung annimmt, dass ihn weitere Kapitaleinwanderungen höchstens vorübergehend verdecken können.

Von vornherein verarmend für das Land wirken natürlich solche Anleihen beim Ausland, die gar kein Kapital in den Staat hineinbringen, deren Ertrag zum Beispiel nur dazu bestimmt ist, fällige Schuldenzinsen an ausländische Gläubiger oder unproduktive Ankäufe von Produkten auswärtiger Industrien, etwa Kanonen oder Kriegsschiffe, zu bezahlen.

Zunächst schien auch für Russland die steigende Verschuldung an das Ausland seit den achtziger Jahren eine Ära wirtschaftlichen Aufschwunges hervorzurufen. Und es gibt jetzt noch hoffnungsvolle Toren genug, die da meinen, wenn erst wieder Ruhe und Ordnung in Russland hergestellt sei, dann werde dort auch allgemeiner Wohlstand eintreten – ohne dass das bestehende Regime der Bürokratie und des Militarismus und die auf ihm hervorgehende Notwendigkeit steigender Verschuldung an das Ausland irgendwelche Veränderung zu erleiden brauche.

Was aber von vornherein dort zutage treten muss, wo einem Lande mit kapitalistischer Industrie das Kapital in überwiegendem Maße vom Ausland geliefert wird, das ist das Fehlen einer erheblichen Schicht unproduktiver Arbeiter – Bediente und Intellektuelle –, die vom Kapital abhängig wäre. Die Zahl unproduktiver Arbeiter mag da absolut sehr stark sein, aber das Kapital wird geringen Einfluss aus sie haben. Soweit sie persönliche Dienste leisten, werden sie vorwiegend von anderen Klassen abhängig sein – etwa vom Grundbesitz. Soweit sie Intellektuelle sind, wird ihre Existenz eine dürftigere, aber von kapitalistischem Fühlen und Denken weniger abhängige sein.

Das Kapital wirkt auf diese Schichten nur dort, wo es seinen Mehrwert verzehrt, nicht dort, wo es ihn bezieht. Ein französischer Finanzmann, der kühn genug war, seine Gelder in russischen Staatspapieren und Eisenbahn- oder Industrieaktien anzulegen, mietet nicht russische Bediente, sondern französische, amüsiert sich mit französischen Schauspielerinnen, nicht russischen, wird der Maecenas französischer Musiker, Maler, Dichter, bewirtet neben diesen in seinen Salons französische, nicht russische Politiker und Gelehrte, und unterstützt, wenn er fromm ist oder dem Volke die Religion erhalten will, französische, nicht russische Klöster; er besticht französische, nicht russische Journalisten. Der in Russland erzeugte Mehrwert dient hier dazu, seinen Einfluss in Frankreich, nicht in Russland zu steigern.

Das ist wohl ein wichtiger Grund dafür, warum die Intelligenz in ihrer Masse nirgends eine dürftigere Lebenshaltung hat, warum wir aber auch in ihr nirgends größere Unabhängigkeit vom Kapital, einen schärferen Gegensatz gegen dieses, ein größeres Verständnis für das Proletariat, eine glühendere Hingebung an dieses finden als in Russland.

Jene Schicht, die in Westeuropa berufsmäßig damit beschäftigt ist, das Klassenbewusstsein des Proletariats einzuschläfern und irrezuführen, arbeitet in Russland in ihrer Mehrheit unermüdlich daran, das Proletariat über seine Klassenlage aufzuklären. Nirgends ist die Zahl der theoretisch gebildeten sozialistischen Agitatoren größer als im Lande der Analphabeten.

Wenn das russische Proletariat in seinem Kampfe gegen das Kapital und dessen Exekutor, den Absolutismus, mehr als das Proletariat jedes anderen Landes das dringende Lebensinteresse der gesamten russischen Gesellschaft vertritt, so wird es dabei mehr als das eines anderen Landes von einer großen Schar Vertreter des modernen wissenschaftlichen Denkens und Forschens und des modernen künstlerischen Empfindens geschult und begeistert.

4. Der englische Kapitalismus

Ganz anders als in Russland sind die Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung in einem Lande wie England, wo sich in den letzten Jahren einerseits der Markt für die Industrie und damit diese selbst nur langsam erweitert, indes andererseits die Masse des Mehrwertes, die der Kapitalistenklasse zufließt, und daher auch die Akkumulation neuen Kapitals eine kolossale ist, wo also jahraus jahrein eine stets wachsende Masse Kapital, statt zu industriellem Kapital im Inland zu werden, als Geldkapital ins Ausland fließt, um dort entweder die Form unproduktiver Staatsanleihen oder von industriellem oder Handelskapital anzunehmen.

Die Zahl der Kapitalbesitzer im Lande wird da eine weit größere, als der Ausdehnung seiner Industrie entspricht. Unter Umständen kann ihre Zahl sehr wohl rascher wachsen als die der Proletarier, nur muss man sich davor hüten, diesen Fall für den Normalfall der kapitalistischen Gesellschaft zu halten. Jenes Extrem ist in den einen Ländern ja nur so lange möglich, als in anderen Ländern das entgegengesetzte Extrem besteht.

Der übergroßen Menge von Kapitalisten entspricht auch eine übergroße Menge von Bediensteten sowie von Mitgliedern sogenannter freier Berufe. Nach den letzten Zählungen zählte das Deutsche Reich bei einer Gesamtbevölkerung von 57,8 Millionen und 22,1 Millionen Erwerbstätigen (1895) 1.340.000 häusliche Dienstboten (6,1 Prozent der Erwerbstätigen) und 795.000 in öffentlichem Dienste und freien Berufen Beschäftigte (3,6 Prozent). Dagegen finden wir in England (ohne Schottland und Irland) bei einer Volkszahl von 32,5 Millionen und 14,3 Millionen Erwerbstätigen (1901) unter der Rubrik häusliche Dienste 1.995.000 (13,9 Prozent) der Erwerbstätigen und unter der der freien Berufe 804.000 (5,6 Prozent) verzeichnet. Beide Kategorien zusammen umfassten also in Deutschland 9,7 Prozent, in England 19,5 Prozent der Erwerbstätigen, dort also gerade doppelt so viel wie hier. Bemerkenswert ist, dass die Landwirtschaft in England nur 8 Prozent der Erwerbstätigen stellt, viel weniger als Bediente und Dienstboten!

Auch in den Niederlanden, wo das im Ausland angelegte Geldkapital ebenfalls eine große Rolle spielt, finden wir 10,3 Prozent der Erwerbstätigen als Dienstboten und 5,4 Prozent in den freien Berufen und öffentlichen Diensten beschäftigt. England und Holland weisen prozentuell die höchste Zahl von Intellektuellen auf.

Sind aber der Zahl nach diese beiden Bevölkerungsklassen in England besonders stark, so sind sie dort auch in höchstem Grade vom Kapital abhängig. Ganz abgesehen von den Dienstboten, sind auch die Künstler, Gelehrten und Schriftsteller in England mehr als anderswo im Bannkreis des Kapitalismus; einmal dadurch, dass dieser sie dort mehr als in anderen Ländern als Kunde oder Unternehmer von sich abhängig macht; dann aber auch dadurch, dass ein ungemein großer Teil der Mitglieder freier Berufe an der kapitalistischen Ausbeutung selbst interessiert ist.

Im Unterschied zum industriellen und kommerziellen Unternehmer ist der bloße Geldkapitalist, zum Beispiel der Besitzer von Staatspapieren oder Aktien, in der angenehmen Lage, der Verwaltung seines Besitzes gar keine Zeit widmen zu müssen. Eine Bank nimmt ihm das bisschen Verwaltungsarbeit gern ab. Neben dem bloßen Grundbesitzer ist der bloße Geldkapitalist die müßigste und überflüssigste Person in der kapitalistischen Gesellschaft. Das gibt ihm Gelegenheit, in der dümmsten Weise die Zeit totzuschlagen, und er macht in der Regel reichlichen Gebrauch davon. Mit Geist und Anmut zu genießen, wie manche grundbesitzende Aristokratie in Ländern alter Kultur – Athen, Frankreich –, ist dem modernen Kapitalisten nicht beschieden, wie namentlich die amerikanischen Finanzmagnaten in der schreiendsten Weise dokumentieren. Aber dort, wo die Zahl der Geldkapitalisten sehr groß, finden sich immerhin einige, die ihre Muße dazu verwenden, künstlerische oder wissenschaftliche Arbeiten zu vollführen oder doch durch ihre Teilnahme zu fördern.

Andererseits aber führt die Entwicklung des unpersönlichen Geldkapitals, der Bank-, Eisenbahn- und Industrieaktien und der Schuldverschreibungen von Staaten, Provinzen, Gemeinden dazu, dass auch die kleinsten Geldbeträge nun zu Geldkapital werden können. Das macht auf den Lohnarbeiter, der daran teil hat, geringen Eindruck. Seine Gegensätze zum Kapital, das ihn ausbeutet, sind zu groß, als dass sie durch die Verzinsung seiner dürftigen Ersparnisse überbrückt werden könnten. Dagegen beeinflusst das schon die Mitglieder der Intelligenz, die oft größere Geldüberschüsse erzielen und die der Kapitalistenklasse durch Lebenshaltung und gesellschaftliche Beziehungen weit näher stehen und sich meist nicht von ihr ausgebeutet fühlen.

Alles das bewirkt, dass kapitalistisches Denken und Fühlen in der Intelligenz Englands hoch entwickelt ist. Während die russische Intelligenz noch ein starkes kommunistisches Empfinden bewahrt hat, dort das Teilen eventueller Überschüsse mit den Kameraden als etwas Selbstverständliches erscheint, wiegt in der englischen Intelligenz gerade so wie in der Kapitalistenklasse das Streben vor, jeden Überschuss zu akkumulieren, in Kapital zu verwandeln. Kein Wunder, dass die Zahl der Mitglieder der englischen Intelligenz sehr gering ist, von denen das Proletariat eine tiefere Einsicht über seine Klassenlage und seine Klasseninteressen und Ausgaben gewinnen könnte, als es selbst aus seiner alltäglichen Erfahrung schöpft.

Aber nicht nur, dass Bediententum und die Berufe der Intelligenz in England zahlreicher und mehr vom Kapital abhängig sind als anderswo, das starke Abströmen von Kapitalien ins Ausland, dem ein starkes Zuströmen von Mehrwert ins Land entspricht, bewirkt auch, dass der Gegensatz des Proletariats gegen das kapitalistische System ein schwächerer ist, als der Höhe der industriellen Entwicklung Englands entspräche. Während in einem Lande wie Russland oder Indien die kapitalistische Ausbeutung stetige Verarmung des Landes bedeutet, ist sie in England ein Mittel, das Land immer mehr und mehr zu bereichern, in ihm immer größere Beute aufzuhäufen, die durch Plünderung der ganzen Welt gewonnen wurde. Davon profitieren aber in mancher Beziehung auch die besitzlosen Klassen. Je größer der Mehrwert, der vom Ausland kommt, desto größer die Summen, die davon in Form von Steuern dem Staate und den Gemeinden zufließen, was entweder erlaubt, die ärmeren Klassen mehr zu schonen oder die Leistungen des Gemeinwesens zu vergrößern. Wenn England noch immer das Land des Freihandels ist, so dankt es dies zum Teil der wachsenden Ausbeutung des Auslandes – ebenso wie Holland. Die Schutzzölle sind auch Finanzzölle, Abgaben auf den Konsum der großen Masse der Bevölkerung. In England ist die Masse des der Kapitalistenklasse jährlich von außen zufließenden Mehrwertes so enorm, dass sie auf dieses Mittel, die Bevölkerung zu schröpfen, verzichten kann. Für das Geldkapital wie das Handelskapital ist aber der Schutzzoll auch nicht ein Mittel, den Profit zu erhöhen, wie für das industrielle Kapital. Dank dem Überwiegen der ersteren Arten von Kapital bleibt England freihändlerisch, hält es sich fern von den Mitteln der modernen Schutzzöllnerei, die den Klassengegensatz zwischen Proletariat und Kapital erheblich verschärfen, da sie jenes zugunsten dieses schwer belasten.

Die Masse des Mehrwertes, die nach England strömt, erleichtert aber auch dem englischen Kapital die Übung der Wohltätigkeit, die wohl nirgends in so hohem Umfang entwickelt ist wie in England. Freilich fällt der Löwenanteil an ihr Sprösslingen der besitzenden Klassen und Mitgliedern der Intelligenz zu; die Verwaltungskosten der wohltätigen Stiftungen in England sind enorme. Was für die wirklich Bedürftigen übrig bleibt, ist relativ wenig und lange nicht ausreichend, das furchtbare Elend auch nur einigermaßen einzudämmen, wie eben jetzt wieder die Arbeitslosigkeit deutlich zeigt; aber es genügt, in vielen Arbeitern den Gegensatz zum kapitalistischen System abzustumpfen.

Wohl ist der Gegensatz des Proletariats gegen das industrielle Kapital in England seit den achtziger Jahren wieder im Wachsen, seitdem die britische Industrie ihre Vorherrschaft auf dem Weltmarkt verloren hat und sie der erbitterten Konkurrenz stets gefährlicher anwachsender Industriestaaten ausgesetzt ist. Aber die englischen Arbeiter können sich nur schwer entschließen, den Kampf gegen die industriellen Unternehmer zu erweitern zu einem Kampfe gegen das ganze kapitalistische Ausbeutungssystem. Sie wenden sich nur gegen Einzelerscheinungen, wie das Schwitzsystem oder die Arbeitslosigkeit, ohne sich zu fragen, wie weit diese mit der Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft zusammenhängen, und ohne dieser Gesellschaft in allen ihren Äußerungen entgegenzutreten, ohne alle ihre Machtpositionen anzugreifen. Während des Burenkriegs fand der Chauvinismus keinen energischen Widerstand in ihren Reihen. Selbst manche Sozialisten zollten damals dem Imperialismus ihren Tribut. Indiens Klagen finden bei ihnen taube Ohren. Die neue Arbeiterpartei will wohl unabhängig bleiben von Liberalen und Konservativen, aber sie lehnte es bisher ab, ein bestimmtes Programm zu akzeptieren, aus Furcht, es müsste ein sozialistisches sein. Und selbst Keir Hardie fühlte sich noch vor einem Jahre gedrängt, gegen die Idee des Klassenkampfs zu polemisieren.

So ist im Gegensatz zu Russland der Kapitalismus nirgends stärker, findet der sozialistische Gedanke in der Arbeiterschaft selbst nirgends mehr Hindernisse als in jenem Lande, von dessen Erwerbstätigen zwei Drittel der Industrie (samt dem Eisenbahnwesen) angehören.

Aber freilich muss um so furchtbarer der Zusammenbruch des englischen Kapitalismus in dem Zeitpunkt werden, in dem das ihm tributpflichtige Ausland sich empört und den Tribut verweigert. Verliert England Indien, Ägypten, Südafrika, dann bleiben zahlreiche Mehrwerte aus, die es heute bereichern, dann muss es höhere Staats- und Gemeindelasten auf die Arbeiter wälzen, dann gewinnt das industrielle Kapital wieder die entscheidende Stimme, dann spitzt sich sofort auch in England der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit zu seiner größten Schärfe zu. Sollte er nicht früher schon kommen, so wird dann der Sozialismus in England unvermeidlich. Bis dahin aber hat er dort schwerer zu kämpfen als in weit rückständigeren Ländern.

5. Der Kapitalismus in den Vereinigten Staaten

Wieder einen besonderen Typus stellen die Vereinigten Staaten dar. Als kapitalistisches Land sind sie nicht viel älter als Russland. Nach Bryce gab es noch in der Zeit zwischen 1830 und 1840 in Amerika wenige große Vermögen und keine Armut. 1845 zählte man in Philadelphia erst 10 Millionäre (Dollarmillionäre) in New York 1855 nur 28. Es war der Bürgerkrieg im Anfang der sechziger Jahre, der in den Vereinigten Staaten plötzlich das Kapital zur Herrschaft brachte. Seitdem hat es sich mit rasender Schnelligkeit entwickelt. Die Akkumulation und Konzentration von Kapital machte rapide Fortschritte. 1892 zählte man, wie Cleveland Moffett berichtet („Wilshires Magazine“) in Philadelphia 200 Millionäre, und in New York soll es ihrer 1000 geben.

An Kapitalkraft, an Höhe der Kapitalakkumulation", sagt Sombart in dem schon eingangs erwähnten Artikel, „stehen die Vereinigten Staaten heute schon – trotz ihrer ,Jugend' – allen übrigen Ländern weit voran. … Die gesamte Kapitalkraft (,the banking power') der Vereinigten Staaten (also Kapital, ,Surplus Profits', Depositen und Umlauf) berechnet ein Berichterstatter auf 13.826 Millionen Dollar, während die entsprechende Ziffer für alle übrigen Länder der Erde zusammen nur 19.781Millionen Dollar betragen soll. Da dürfen uns die Kapitalmengen nicht in Erstaunen setzen, die allein in den Schoß der Industrie während der letzten 20 Jahre geflossen sind. Nach dem Zensus betrug das in ,Manufactures' investierte Kapital:

1880

2.790.272.600 Dollar

1890

6.525.050.759 „

1900

9.831.486.500 „ (S. 213)

Die Konzentration des Kapitals aber tritt deutlich zutage in dem Umfang, den die amerikanischen Trusts erlangt haben. Sombart gibt eine Übersicht über diese nach dem Werke Moodys über die Trusts vom Jahre 1904 und resümiert deren Resultate in den Worten:

Zählt man alle diese Riesenkombinationen zusammen, in denen heute der bei weitem größte Teil des amerikanischen Wirtschaftslebens gebunden ist. so kommt man zu der enormen Ziffer von 8664 ,kontrollierten' Anlagen und 20879 Millionen Dollar nominellen Kapitals. Man denke: 85 Milliarden Mark in den Händen weniger Unternehmer vereinigt!" (S. 214.)

In einem eben erschienenen trefflichen Schriftchen, das einen kurzen Abriss der ökonomisch-politischen Entwicklung der Vereinigten Stauten von ihrem Anbeginn an gibt, schätzt Genosse Simons das heutige Vermögen der Trusts sogar auf 30 Milliarden Dollars, 120 Milliarden Mark (A. M. Simons, „Class strugges in America“, 2. Aufl., 62 S. Chicago, Ch. H. Kerr).

Das Vermögen des reichsten unter den Finanzmagnaten, John D. Rockefeller, allein wird auf 1 Milliarde Dollar geschätzt, also so viel wie die Kriegsentschädigung, die 1871 Frankreich an Deutschland zu zahlen hatte, eine Summe, die damals eine unerhörte war und von der mancher zweifelte, ob das reiche Frankreich sie werde aufbringen können.

Allerdings überragt John Rockefellers Besitz weit den seiner Mitmagnaten. Die neun reichsten unter ihnen besitzen erst ungefähr so viel wie er allein,

Andrew Carnegie, Marshall Field, W. K. Vanderbilt, J. J. Astor, J. P. Morgan, Russell Sage, J. J. Hill, William A. Clarke und William Rockefeller. Das Kapital, das sie beherrschen oder „kontrollieren", ist aber weit größer als das, welches sie besitzen.

Woher dieses fabelhafte Wachstum des Kapitals?

Sicher rührt es in erster Linie davon her, dass es in Amerika keine bedeutende Macht gibt, mit der das Kapital seinen Mehrwert zu teilen hätte und die ihren Anteil unproduktiv verpulverte. Dank den ungeheuren Strecken herrenlosen Landes gab es bis vor kurzem keine landwirtschaftliche Grundrente von Belang in den Vereinigten Staaten, keine Klasse von Grundbesitzern, die einen Teil des Mehrwertes an sich zog, um ihn zu vergeuden, wie es der feudale Grundbesitz Europas tut. Ich sehe hier ab von Plantagenbesitzern des Südens, deren Regime zu Ende ging, als das der Kapitalisten begann. Dann aber waren die Vereinigten Staaten in der angenehmen Lage, so fern von allen europäischen Händeln und so sicher vor jeder Invasion zu sein, dass sie für den Militarismus nicht viel zu opfern brauchten. Ihre Flotte wie auch ihr Landheer waren gering. Die amerikanische Armee zählte 1870 nur 35.000 Mann, 1903 60.000. Diese Armee, aus Angeworbenen bestehend, kostet allerdings relativ viel, aber dem Lande bleibt der Aderlass erspart, den in Europa die unproduktive Beschäftigung so vieler Millionen der besten Arbeitskräfte verursacht. Im Deutschen Reiche allein sind es jetzt über 600.000 Männer, die auf diese Weise der Produktion entzogen werden. Nehmen wir an, dass jeder einen Wert von 1000 Mark im Jahre produzieren könnte – Arbeitslohn und Mehrwert in den verschiedenen Formen –, so verliert durch den Militarismus das deutsche Volk jahraus jahrein neben der Milliarde, die das Heer kostet, noch über eine zweite Milliarde, die es produzieren könnte.

Rechnet man dazu die statistisch kaum festzustellenden Summen, die als Grundrente vom feudalen Grundbesitz jährlich unproduktiv verschwendet werden (die dem Grundbesitz in England jährlich zufließende Grundrente wird auf 300 Millionen Pfund Sterling, 6000 Millionen Mark, geschätzt), so erhält man für Deutschland allein – ebenso steht es aber mit den anderen Staaten Europas – eine Riesensumme, die der Volkswirtschaft durch das Bestehen von Grundbesitz und Militär jährlich entzogen wird und die entweder zur Hebung des persönlichen Konsums der arbeitenden Klassen oder zur Akkumulation von neuem Kapital verwandt werden könnte.

Kein Wunder, dass in den Vereinigten Staaten, die keine derartige Last zu tragen haben, das Kapital weit rascher anwächst als in Europa, und dass dieses von Amerika immer mehr überflügelt wird.

Aber im Gegensatz zu England bleibt dieses Kapital im Lande und dient hauptsächlich der Entfaltung der Industrie. Denn während sich die Ausdehnung des Marktes für die englische Industrie immer mehr verlangsamt, hat sich der für die amerikanische rasch ausgedehnt Auch hierbei war entscheidend die Menge freien, noch von keinem Privaten besessenen Landes, sowie die Geringfügigkeit der Lasten, die aus dem amerikanischen Bauern ruhen. Man brauchte nur dies Land der Bebauung zugänglich zu machen, um, dank der großen natürlichen Bevölkerungszunahme sowie der Einwanderung, die Menge der Bauernstellen rasch zu vermehren und damit den inneren Markt entsprechend zu erweitern.

Das Mittel dazu war der Bau von Eisenbahnen in menschenleeren Einöden, die für die Ausdehnung der Industrie und ihres Absatzmarktes in Amerika eine ganz andere Bedeutung gewonnen haben als in Europa.

Ganz Europa zählte 1902 296.000 Kilometer Eisenbahnen, Deutschland 53,700, die Vereinigten Staaten allein dagegen 326.000.

Es wuchs aber die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten in folgender Weise:

1870

5.948.561

1880

7.713.875

1890

8.565.926

1900

10.381.765

Zunahme 1870 bis 1900

4.433.204

Dagegen finden wir in England für diese Bevölkerungsschicht folgende Zahlen:

1871

1.657.138

1881

1.383.184

1891

1.336.945

1901

1.152.495

Abnahme 1871 bis 1901

504.643

Aus Deutschland haben wir keine Zahlen für einen so langen Zeitraum. Die uns zur Verfügung stehenden bekunden einen Stillstand der Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, eine Abnahme der Gesamtbevölkerung dieses Berufs.

Man zählte in der Landwirtschaft des Deutschen Reiches:


Erwerbstätige

Berufsbevölkerung

1882

8.236.496

19.225.455

1895

8.292.692

18.301.307

Zu- (+) oder Abnahme (-)

+56.196

-724.158

Die landwirtschaftliche Bevölkerung Amerikas nahm also in ganz anderer Weise zu wie die Europas. Aber nicht bloß darin unterscheidet sich die erstere von der letzteren, sondern auch in ihrer Konsumfähigkeit. Der amerikanische Farmer ist ganz anderer Natur als der englische Landarbeiter oder der russische und selbst der deutsche Kleinbauer. Ihm stand wenigstens bisher so viel Land zu Gebote, als er bebauen konnte, und von dem Werte, den er produzierte, hatte er, fast allgemein noch vor zwei Jahrzehnten und in hohem Grade bis jetzt, keine Grundrente zu bezahlen, weder in der Form von Pachtzins, noch in der von Hypothekenzinsen; er hatte auch dem Staate davon weniger an Geld abzugeben, als in Europa, und war frei von dem Tribut von Arbeitskraft, den die militärische Dienstpflicht bildet. Der größte Teil des Wertes, den er produzierte, verblieb also ihm, diente ihm entweder zu seinem persönlichen Konsum oder zur Erneuerung und Verbesserung seines technischen Apparates; in der einen wie in der anderen Form wurde dadurch ein Markt für die Industrie geschaffen. Daneben bildeten aber auch die Eisenbahnen mit ihrem gewaltigen Bedarf eine stets wachsende Kundschaft für die Industrie. Die Eisenbahnen hängen aber ebenfalls mit der Landwirtschaft zusammen: von dem Ertrag der letzteren, den sie zu verfrachten hatten, hing zum großen Teile ihre Rentabilität ab.

Wenn die Eigenart der amerikanischen Verhältnisse die Akkumulation des Kapitals besonders begünstigte, so wirkte sie auch dahin, dass die ganze ungeheure Masse des akkumulierten Kapitals im Lande Verwendung fand, und zwar vornehmlich in der Industrie – das Eisenbahnwesen inbegriffen.

Die gesamte Kapitalistenklasse des Landes hat daher direkt oder indirekt das höchste Interesse an der größten Ausbeutung der Arbeiterklasse, denn davon hängt die Höhe ihres Profits ab. Sie steht dieser also geschlossener und feindlicher gegenüber als die Englands, wo Geldkapital und Handelskapital vielfach andere Interessen haben als das industrielle Kapital, und wo sie ihre Profite zum Teil aus anderen Quellen ziehen, als aus der Ausbeutung der Arbeiter des eigenen Landes.

6. Die nationale Zersplitterung der amerikanischen Arbeiter

Bilden also die Kapitalisten Amerikas eine weit einheitlichere Klasse als die Englands, so ist dagegen nirgends die Arbeiterklasse so wenig einheitlich wie in den Vereinigten Staaten.

Auch dies ist eine Folge des Überflusses von Land, der bis vor kurzem in der Union herrschte. Ohne große Kosten konnte jeder gesunde Amerikaner, der sich einigermaßen auf den Landbau verstand, ein selbständiger Landwirt werden und sich der Ausbeutung durch das Kapital als Lohnarbeiter entziehen. Die im Lande geborenen Amerikaner lieferten daher nur wenige Lohnarbeiter; und da das Kapital und der Markt für die Industrie gleichzeitig rasch anwuchsen, war die Nachfrage nach Lohnarbeitern groß, indes ihr Angebot aus den Reihen der Landeskinder ein Geringes blieb.

Von vornherein musste der Lohn der amerikanischen Arbeiter ein hoher sein wegen der eben berührten Verhältnisse, die die Masse des Produktes, die der Bauer erzeugte und behielt, zu einer ansehnlichen Höhe ansteigen ließen. Im „Kapital" bemerkt Marx bei der Untersuchung des Wertes der Arbeitskraft, „im Gegensatz zu anderen Waren enthält die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element". Aber dieses Element hat eine natürliche Basis, und das ist der im Lande durchschnittliche Ertrag des kleinen bäuerlichen Gutes. Die Kleinbauernschaft ist die große Lieferantin an zuschüssigen Arbeitskräften für das Kapital; sie erzeugt in den meisten Staaten eine zahlreiche Nachkommenschaft. die sie nicht zu ernähren vermag und der Industrie zuschiebt, so dass in dieser die Lebenshaltung der zuströmenden Söhne der kleinen Bauern und der Knechte der größeren Bauern den Lohn der einfachen, unqualifizierten Arbeit bestimmt. Die Arbeit des Bauern und Bauernknechtes selbst ist keineswegs eine einfache, vielmehr eine sehr komplizierte, die eine längere Lehrzeit erfordert. Aber für die Industrie gilt diese Lehrzeit gleich Null, in der Industrie ist der vom Lande kommende Lohnarbeiter in der Regel zunächst nur als unqualifizierter Arbeiter zu gebrauchen.

Die Lebenshaltung des Bauern hängt aber ab von dem Ausmaß und der Güte des Bodens, der ihm zur Verfügung steht, der Wirksamkeit seiner Werkzeuge und Arbeitsmethoden, sowie endlich von dem Anteil, den er von seinem Produkt an Grundherrn, Gläubiger und Staat abzugeben hat.

Durch diese Verhältnisse wird in letzter Linie die Grundlage des Arbeitslohnes in einem Lande bestimmt. Dass sie nirgends günstiger lagen als in Amerika, bedarf nach dem Gesagten keiner weiteren Ausführung. Der Bauer hatte dort genügend Land zur Verfügung, fruchtbares Land, mit geringen Geldleistungen und ohne Abgaben an Arbeitskraft, wie sie der Kriegsdienst darstellt.

Es lieferte genügenden Überschuss zur Anschaffung wirksamer Werkzeuge, die wiederum die Erträge erhöhten, und die Volksbildung war genügend allgemein und gut, um eine intelligente Wirtschaft zu ermöglichen. Da musste die Lebenshaltung des kleinen Bauern, die grundlegend wird für die der ganzen Arbeiterklasse, eine sehr hohe sein.

Aber selbst wenn das Kapital seinen Arbeitern die dem entsprechenden Löhne zahlen wollte, hatte es in Amerika keine Aussicht. von der Bauernschaft genügende Arbeitskräfte geliefert zu erhalten. Da so viel Boden frei war, zog es ihr Nachwuchs vor, neue Bauernstellen zu gründen, statt sich in die Stadt in Abhängigkeit zu begeben. Die natürliche Vermehrung des städtischen Proletariats ist aber eine sehr geringe, sie schlägt oft in eine Abnahme um, trotz seiner Fruchtbarkeit; denn auch seine Sterblichkeit ist eine große. Und bei den hohen Löhnen war es nicht schwer, so viel zu ersparen, als zur Begründung einer neuen Bauernstelle notwendig war, deren Boden ja so gut wie nichts kostete. Da mussten sich auch vom städtischen Proletariat immer wieder zahlreiche Elemente loslösen, um sich zur Landwirtschaft zu wenden.

Ein Massenproletariat, ohne welches das industrielle Kapital nicht gedeihen kann, hätte sich unter diesen Umständen gar nicht entwickeln können, und das Kapital hätte nur die Form von Handels- und Geldkapital annehmen können, wäre ihm nicht ein mächtiger Faktor zu Hilfe gekommen: die massenhafte Einwanderung fremder Arbeitskräfte. Einerseits wurden für die Plantagen des Südens zahlreiche Arbeiter aus Afrika zwangsweise importiert; freie Arbeiter kamen aber scharenweise freiwillig aus Europa, anfangs namentlich aus England, Irland und Deutschland, später auch aus Italien, Österreich, Russland, angelockt durch die Leichtigkeit, eine behäbige Bauernwirtschaft zu gründen oder hohen Lohn in den Städten zu erwerben. Die einen vermehrten die Zahl der Bauern und damit den Markt für die Industrie, die Kundschaft für die Eisenbahnen; die anderen, denen dazu entweder die Mittel oder die landwirtschaftlichen Kenntnisse fehlten, führten dem industriellen Kapital die nötigen Arbeitskräfte zu.

So spielen die eingewanderten Fremden seit jeher in der amerikanischen Volkswirtschaft eine große Rolle, und namentlich unter der Lohnarbeiterschaft bilden sie einen starken Prozentsatz.

Das bezeugen deutlich folgende Tabellen, die wir dem Zensus von 1900 entnehmen (Occupations of the twelfth Census, Washington 1904).

Man zählte Erwerbstätige:

Berufe

1880

1890

1900

Im Inland geboren

Im Ausland geboren

Im Inland geboren

Im Ausland geboren

Im Inland geboren

Im Ausland geboren

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

6.886.417

580.026

1.430.351

2.474.849

2.575.809

827.458

73.176

441.152

943.944

1.208.917

8.008.329

829.956

2.601.906

2.820.962

3.920.255

1.140.119

115.368

724.316

1.899.850

1.858.213

9.289.044

1.113.403

3.884.497

4.081.220

4.903.670

1.092.721

145.135

932.467

1.499.437

2.181.639

Zusammen

13.897.452

8.494.647

18.080.308

5.237.866

23.221.843

5.851.399


Prozent der Erwerbstätigen jeden Jahres und Berufs

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

89,3

87,9

76,4

72,4

68,1

10,7

12,1

23,6

27,6

31,9

87,5

87,8

78,2

66,8

67,3

12,5

12,2

21,8

33,2

32,7

89,5

88,5

80,4

73,1

69,2

10,5

11,5

19,6

26,9

30,8

Zusammen

79,9

20,1

77,5

22,5

79,9

20,1

Von 119 Millionen Erwerbsfähigen waren 1900 fast 6 Millionen, ein Fünftel, im Ausland geboren. Am geringsten war ihre Zahl prozentuell im Ackerbau, 10,5 Prozent, am größten in der Industrie – fast 31 Prozent. Und von 1880 bis 1890 war die Zahl der Ausländer unter den Erwerbstätigen prozentuell im Zunehmen, von 1890 bis 1900 nahm sie relativ etwas ab, so dass sie den Stand von 1890 wieder erreichte.

Aber in diesen Zahlen tritt der geringe Anteil, den die Angloamerikaner am industriellen Proletariat der Vereinigten Staaten haben, noch nicht genügend zutage, denn die Neger und die im Lande geborenen Kinder von im Ausland geborenen Eltern werden hier nicht besonders aufgeführt. Tut man das, was uns leider nur für 1900 möglich ist, da frühere Ziffern in dem Zensusbericht nicht mitgeteilt werden, so finden wir:

Berufe

Eingebo­rene Weiße von eingebo­renen Eltern

Eingebo­rene Weiße von auslän­dischen Eltern

Auslän­dische Weiße

Neger

Indianer

Chinesen und Japaner

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

6.004.089

806.288

2.400.018

1.841.853

2.828.329

1.100.608

259.434

1.225.351

913.654

1.801.886

1.074.211

47.219

208.989

1.317.859

275.116

2.143.154

47.219

408.989

1.317.859

275.116

42.460

946

1.532

11.965

6.031

17.298

755

15.923

59,928

10.992

Zusammen

13.875.329

5.300.818

5,736.818

3.992.337

62,934

104.891


Prozentanteil der einzelnen Abstimmungskategorien innerhalb jedes Berufs

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

57,8

64,1

50,4

33,0

39,8

10,6

20,6

25,7

16,4

25,4

10,4

11,4

19,2

25,7

30,6

20,6

3,7

4,4

23,6

3,9

0,4

0,1

-A

0,2

0,1

0,2

0,1

0,3

1,1

0,2

Zusammen

47,7

18,3

19,7

13,7

0,2

0,4

Also die Erwerbstätigen, die von weißen im Lande geborenen Eltern abstammen, die wir der Kürze wegen hier Angloamerikaner nennen wollen, bilden nicht einmal die Hälfte der Erwerbstätigen, unter den häusliche und persönliche Dienste Verrichtenden nur ein Drittel, in der Industrie nur zwei Fünftel der Erwerbstätigen. Unter den Berufen, in denen die Schicht der Angloamerikaner besonders stark vertreten ist, sind zu nennen, wenn wir nur die männlichen Erwerbstätigen in Betracht ziehen, die der selbständigen Bauern, der Farmer, unter denen sie 63,2 Prozent bilden, dann Advokaten (75,6 Prozent), Ärzte (74,1 Prozent) Lehrer (71,5 Prozent), Bankiers (64,9 Prozent) Handlungsreisende (64,4 Prozent) Journalisten (67,4 Prozent), Ingenieure (66,4 Prozent) In der Industrie sind sie am stärksten vertreten unter den Zimmerleuten und Bautischlern (carpenters and joiners) (54,9 Prozent).

Dagegen sind die im Ausland geborenen Weißen – ungerechnet die im Lande geborenen Kinder von ausländischen Weißen – in der Industrie besonders stark vertreten unter den Bäckern, unter denen sie 56,4 Prozent bilden, die Angloamerikaner (im obigen Sinne) nur 20,4 Prozent. Ferner unter den Färbern (53,0 Prozent, die Angloamerikaner bloß 20,6 Prozent), den Möbeltischlern (cabinetmakers) (56,5 Prozent gegen 24,9 Prozent), Hutmachern (50,4 Prozent gegen 26,4 Prozent,), sowie Bergleuten (43,7 Prozent gegen 32,3 Prozent) und endlich besonders Brauer (71,9 Prozent gegen 6,4 Prozent) und Schneider (75,8 Prozent gegen bloß 8,7 Prozent Angloamerikaner).

Die Neger überwiegen in der groben Frauenarbeit. Sie liefern 76,8 Prozent aller weiblichen Landarbeiter (509.687), sowie 65,1 Prozent der Wäscherinnen (218.227) endlich 26,9 Prozent der Dienstmädchen (345.373).

Man sieht, unter den industriellen Proletariern sind die eingesessenen weißen Amerikaner nur schwach vertreten, in vielen und wichtigen Industriezweigen bilden sie nur ein Viertel, ja bloß ein Fünftel, bei zweien nicht einmal ein Zehntel der Erwerbstätigen.

Besonders gering ist die Zahl der Angloamerikaner in New York. Von 1102.471 männlichen Erwerbstätigen sind dort nur 195.205 Weiße, die von eingeborenen Eltern stammen; unter 419.594 Industriearbeitern nur 52.827, unter 56.095 Schneidern nur 580. Dafür gilt aber auch New York drüben nur als eine Vorstadt von Europa.

Die Arbeiter innerhalb der einzelnen hier aufgezählten Gruppen bilden aber auch nichts weniger als eine einheitliche Masse. Namentlich die Eingewanderten stellen eine höchst bunte Musterkarte dar. Die stärkste Gruppe unter ihnen bilden die Deutschem die 29,5 Prozent der Eingewanderten ausmachen, dann die Irländer (21,7 Prozent) und die Engländer (9,3 Prozent).

Auf die verschiedenen Berufe verteilen sich wieder die Eingewanderten jeden Landes in sehr verschiedener Weise. Die einen bevorzugen den Ackerbau. Ihm wenden sich von den männlichen Eingewanderten 35,4 Prozent der Tschechen zu, 39,6 Prozent der Schweizer, 44,4 Prozent der Dänen, 54,6 Prozent der Norweger. Dagegen der Industrie 40,0 Prozent der Engländer, 41,2 Prozent der Schotten. 44,5 Prozent der Polen, 45,8 Prozent der Russen (wohl vornehmlich Juden), 49,4 Prozent der französischen Kanadier, 52,4 Prozent der Österreicher, was immer der Zensus darunter verstehen mag, der die Böhmen besonders aufführt; endlich 59,7 Prozent Ungarn – wohl meist Bergleute. Den Handel begünstigen am meisten die Russen, die ihm 30,6 Prozent ihrer Zahl zuführen, die persönlichen Dienste die Italiener (41,2 Prozent). Die Deutschen verteilen sich ziemlich gleichmäßig über Landwirtschaft und Industrie, Landwirtschaft 28,3, Industrie 34,7 Prozent.

Schon der österreichischen Sozialdemokratie erwachsen vielfache Schwierigkeiten durch die Mannigfaltigkeit der Nationen, aus denen sich die Proletarier des Landes rekrutieren. Aber diese sind doch wenigstens keine Fremden, sie sind alle unter der gleichen Regierung, den gleichen Gesetzen, vielfach den gleichen Kulturverhältnissen aufgewachsen; so unterscheidet den Deutschböhmen vom Tschechen nicht viel mehr als die Sprache. Dagegen in Amerika sind die Eingewanderten an Rasse, Religion, kultureller Eigenart voneinander wie von den eingesessenen Amerikanern meist so verschieden, dass sie einander kaum verstehen, selbst wenn sie gelernt haben, die gleiche Sprache zu sprechen. Nirgends ist es schwerer als dort, diese Masse zu einer einheitlichen Bewegung zusammenzufassen.

Stammt in Russland ein sehr großer Teil des Kapitals aus dem Ausland, wodurch es in der Bevölkerung schwächer, das Proletariat stärker wird, als der industriellen Höhe des Landes entspricht, so stammt in Amerika ein sehr erheblicher Teil des industriellen Proletariats aus dem Ausland, und zwar aus allen Weltteilen, indes sein Kapital ganz inländisch und fast ganz auf den Interessenkreis des industriellen Kapitals beschränkt ist. Hier ist das Kapital stärker, das Proletariat schwächer, als die industrielle Höhe des Landes bedingt.

7. Der Mangel an Revolutionsromantik in Amerika

Der verschiedene Grad, in dem Kapital und Proletariat aus dem Ausland stammen, ist einer der wichtigsten Gründe, die es bewirken, warum das amerikanische Proletariat relativ schwach und das russische relativ stark ist, aber er ist nicht der einzige. Ein anderer liegt darin, dass ein großer Teil der russischen Arbeiter erfüllt ist von dem, was es einzelnen unserer Freunde jetzt beliebt, wegwerfend als Revolutionsromantik zu bezeichnen, indes die Masse der amerikanischen Arbeiter sich noch leiten lässt von jenem Geiste gesunder Realpolitik, die sich mir mit dem Nächstliegenden und Greifbaren beschäftigt, was dieselben eben erwähnten Freunde mit hoher Bewunderung erfüllt.

Diese Verschiedenheit der Auffassung in Russland und Amerika entspringt nicht einem verschiedenen Rassencharakter, sondern der Verschiedenartigkeit der geschichtlichen Entwicklung hier und dort.

Der russische Arbeiter wächst auf in einem Staate, der die Barbarei des orientalischen Despotismus vereinigt mit den Machtmitteln, die der moderne Absolutismus im achtzehnten Jahrhundert ausgebildet hat: in diesem Rahmen wurde eine kapitalistische Produktionsweise entwickelt. Sobald das Proletariat hier anfing, sich zu bewegen, stieß es sofort bei jedem Schritt und Tritt auf fast unüberwindliche Hindernisse, empfand es in schmerzhaftester Weise den Wahnsinn dieses staatlichen Zustandes, lernte es ihn hassen, fühlte es sich gezwungen, ihn zu bekämpfen. Diesen Zustand zu reformieren, war ganz unmöglich, hier half nur der völlige Umsturz der gegebenen Ordnung. So wächst der russische Arbeiter als instinktiver Revolutionär auf, der das bewusste revolutionäre Denken mit Begeisterung aufnimmt, da es nur klarer und präziser ausspricht, was er schon dunkel gefühlt und geahnt. Und er findet eine starke Schicht von Intelligenten, die gleich ihm unter dem bestehenden Zustand leiden, gleich ihm in ihrer Mehrheit zu einem jammervollen Dasein verurteilt sind, gleich ihm nur existieren können in stetem Kampfe dagegen, gleich ihm eine Erlösung nur erwarten können von völligem Umsturz des Bestehenden. Sie bringen dem Arbeiter die theoretische Klärung und Festigung seines revolutionären Dranges. Nichts ist aber geeigneter, den Menschen geistig wachsen zu lassen, als revolutionäres Denken, denn nichts kann ihm höhere Zwecke geben.

Der revolutionäre Denker hat stets die Gesamtheit von Staat und Gesellschaft im Auge; er braucht nicht blind zu werden für die kleinen Einzelheiten des Alltags, aber er geht in ihnen nicht auf, er sieht in ihnen bloß Teile eines großen Ganzen, in dem er ihnen ihren Platz anweist; er untersucht vor allem, wie sie auf dieses einwirken und es auf sie, lernt sie so richtig würdigen und sich von allen Illusionen über ihre Wirkungen fernhalten.

Da seine Ziele gewaltige sind, lernt er aber auch mit historischen Zeiträumen rechnen, in denen allein sie erreicht werden können, lässt er sich durch Teilniederlagen nicht entmutigen, aber auch durch Teilerfolge nicht blenden. Da er jede Einzelerscheinung in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen prüft, lässt er sich nicht durch Rezepte verwirren, die durch Änderung einer einzelnen Erscheinung den ganzen Staat, die ganze Gesellschaft rasch und schmerzlos von allen Schäden befreien wollen. Endlich aber, da er stets die Gesamtheit der Gesellschaft im Auge hat, erkennt er auch leichter die großen Trennungslinien, die die einzelnen Klassen voneinander scheiden, trotz einzelner Berührungspunkte, erfasst er die Bedeutung und die Ausgaben des Klassenkampfes seiner Klasse klarer, gelangt diese leichter zu Geschlossenheit und Einheitlichkeit.

So verleiht die revolutionäre Auffassung dem Proletariat größere Kraft und größere Stetigkeit der Entwicklung, wird ihm die revolutionäre „Romantik" von größtem praktischen Nutzen. Ihr vor allem verdanken es die rechtlosen, unorganisierten, ungebildeten russischen Industriearbeiter, wenn sie es vermögen, den Absolutismus in dem großen Bauernland im Schach zu halten, vor dem die ganzen besitzenden Klassen nicht bloß Russlands, sondern Europas im Staube krochen.

Anders stehen die Dinge in Amerika. Ist Russland das unfreieste, so Amerika das freieste Land des kapitalistischen Kulturkreises, freier als England, selbst die Schweiz, in denen beiden eine mittelalterliche Aristokratie starke Wurzeln geschlagen hat und noch im neunzehnten Jahrhundert schwere Kämpfe um die politische Gleichberechtigung und das Koalitionsrecht auszukämpfen waren. Die Nordstaaten der Union, von bäuerlichen und kleinbürgerlichen Flüchtlingen in der Zeit der Religionskämpfe nach der Reformation begründet, schleppten wohl europäische Traditionen noch längere Zeit mit sich, entwickelten aber schließlich ihren ökonomischen Verhältnissen entsprechende Staatsverfassungen mit vollster Freiheit und Gleichheit. Und die sozialen Verhältnisse, vor allem das Vorhandensein einer unerschöpflichen Bodenreserve, die dieses erste und wichtigste Produktionsmittel allen zugänglich machte und lange kein Massenproletariat auskommen ließ, sorgten dafür, dass die Freiheit und Gleichheit nicht auf dem Papier blieb. Der Mangel an Gebildeten zwang schon dazu, Staatsverwaltung, Rechtspflege, Journalistik, alle wichtigeren Gebiete der „Intelligenz" so einzurichten, dass jeder geistig regsame Bürger ohne allzu große Schwierigkeiten sich die zu ihrem Betrieb nötigen Kenntnisse erwerben konnte, was um so leichter ging, als der Volksunterricht allgemein und relativ recht gut war. Also auch eine Aristokratie des Geistes konnte nicht entstehen. Ebenso wenig eine geschlossene Ämteraristokratie, da die Staatsämter von der jeweilig herrschenden Partei vergeben wurden, und diese häufig wechselte. Jeder intelligente Arbeiter, welches immer die Schicht, der er entstammte, durfte erwarten, sich zu einer höheren Stellung emporringen oder mindestens aus den Reihen der Ausgebeuteten emporsteigen zu können.

So fehlte lange Zeit alles, was den ausgebeuteten Klassen die Notwendigkeit einer einschneidenden Änderung der staatlichen Einrichtungen nahelegen konnte; es fehlten sogar die ausgebeuteten Klassen selbst als Massenerscheinung. Und die daraus entspringende Denkart hat sich bis heute erhalten. Wohl ist inzwischen in den Vereinigten Staaten ein starkes Proletariat und die stärkste Kapitalistenklasse der Welt entstanden, aber trotzdem kann man auch heute noch die Volksmasse ihrem Empfinden nach weniger in Kapitalisten und Proletarier teilen, als in solche, die Kapitalisten schon sind, und solche, die es noch werden wollen.

Wohl gibt es natürlich zwischen diesen beiden Klassen auch in Amerika, ja dort erst recht, die schroffsten Interessengegensätze. Aber im ganzen Laufe seiner historischen Entwicklung ist der amerikanische Arbeiter bisher noch gar nie in die Notwendigkeit gekommen, sich der Gesamtheit der bestehenden Ordnung gegenüberzustehen und sie zu untersuchen. Es sind stets nur einzelne Einrichtungen, die ihn ärgern, gegen die er sich wendet. Jedes Nachdenken darüber, woher diese einzelnen Erscheinungen stammen, in welchem Zusammenhang sie mit der Gesamtheit des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus stehen, erscheint ihm als müßiges Spintisieren. An seiner Verachtung jeglicher Theorie könnten unsere Praktiker ihre helle Freude haben.

In dieser Auffassung bestärkt ihn die Denkweise der Intelligenz. Ist die letztere in Russland durch ihre soziale Stellung der notwendige Träger des revolutionären Bewusstseins geworden, das sie dem Proletariat vermittelt, dem sie in vielen Dingen so nahe steht. so bildet sie in Amerika das Verbindungsglied zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse. Politik, Journalismus, Juristerei werden hier so manchem Proletarier zugänglich, sie bilden aber bei den riesenhaften Verhältnissen des Landes gewaltige Bereicherungsquellen. So erscheinen sie als Leitern, auf denen man auf dem Reiche der Besitzlosigkeit in das des Kapitalismus aufsteigt; so ist der Trieb nach Bereicherung der Drang, der sie völlig beherrscht, ist skrupellosester Kapitalismus der Geist, der sie erfüllt.

Von dieser Intelligenz kann das Proletariat keine Aufklärung über die Interessen und die historischen Aufgaben seiner Klasse erhalten. Die amerikanische Intelligenz weiß selbst nichts davon, und wenn sie etwas darüber wüsste, würde sie es auf das Sorgfältigste verschweigen.

So sind die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten für das Aufkommen eines entschiedenen proletarischen Klassenbewusstseins und die Setzung großer, die ganze Gesellschaft umfassender Ziele sehr ungünstig.

Der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird dadurch freilich nicht überbrückt, ja er tritt vielleicht schroffer zutage als in Europa, weil das Kapital, durch keine kleinbürgerlichen und ideologischen Überlieferungen gehindert. seine Interessen viel rücksichtsloser verfolgt, und die Arbeiter, dank den demokratischen Traditionen des Landes, sich ebenfalls viel entschiedener und rücksichtsloser zur Wehr setzen. Aber bei allen ihren zahlreichen Konflikten handelt es sich in der Regel nur um ein Mehr oder Weniger, um Augenblicksforderungen, und soweit diese sich zu etwas weitergehenden Forderungen verdichten, so doch nie zu mehr als zu Einzelforderungen, durch die man sich einzelner Gegner zu erwehren, einzelne Schäden von Staat und Gesellschaft zu überwinden hofft, ohne diese selbst gründlich zu ändern.

Die Hauptsache aber ist dabei, dass auch solche etwas weitergehende Forderungen „praktisch" sein müssen, das heißt, ohne weiteres durchführbar und aller Erwartung nach schon bei den bestehenden Machtverhältnissen erreichbar. Denn der Amerikaner, ob Kapitalist, ob Proletarier, ist Realpolitiker, und zwar im kapitalistischen Sinne. Die Praktiker des Mittelalters glaubten für die Ewigkeit zu arbeiten. Für sie bauten sie ihre Dome und Burgen, schufen sie ihre Gemälde, ja selbst Werkzeuge und Stoffe. So glaubten sie auch, staatliche und städtische Ordnungen für die Ewigkeit zu begründen. Der Kapitalismus, der in beständiger Umwälzung begriffen ist, der, um neuen Mehrwert zu schaffen. ständig alles entwertet, was einen Wert hat, er interessiert sich bloß für den Profit des Augenblicks, denn was sich nicht sofort rentiert, kann im nächsten Jahre schon durch eine neue Erfindung überholt sein. So streben auch seine Realpolitiker stets nur nach Augenblickserfolgen, und das steckt auch die proletarischen Politiker an, wo sie sich nicht vom bürgerlichen Denken frei machen können und nicht revolutionär denken, das heißt nicht auf eine große und weite Zukunft bedacht sind.

Daher beschränken sich auch die amerikanischen Realpolitiker des Proletariats stets auf „praktische" Forderungen. Sie begeistern sich leicht für solche; erreichen diese aber nicht rascheste Erfüllung, dann werden sie ebenso schnell aufgegeben.

Derartige Einzelforderungen finden aber stets auch Unterstützung bei einzelnen bürgerlichen Politikern, denn nicht eine einzelne proletarische Augenblicksforderung, sondern die Gesamtheit des proletarischen Strebens, des Strebens, die Kapitalistenklasse zu expropriieren, ist es, worin der unversöhnliche Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit zutage tritt. Einzelne Augenblicksforderungen des Proletariats, etwa zur Milderung der Arbeitslosigkeit, Einschränkung der Macht der Trusts, Arbeiterschutz und dergleichen, werden immer die Zustimmung mancher bürgerlichen Politiker finden, auch solcher, die dem revolutionären Klassenkampf entschieden feindlich gegenüberstehen würden. Das mag als eine Verstärkung der proletarischen Macht durch bürgerliche Elemente und daher als ein Vorzug der realpolitischen Methode erscheinen, ist es aber keineswegs. Nicht bloß, dass eine solche Einzelforderung selten das ganze Proletariat interessiert, also nicht imstande ist, für sich allein seine ganzen Kräfte zusammenzufassen, verschafft sie auf der anderen Seite den für sie eintretenden bürgerlichen Elementen einen Einfluss auf die Arbeiterschaft, der nichts weniger als günstig ist. Denn diese bürgerlichen Elemente sind entweder Ideologen ohne Kraft und Einfluss, die im Proletariat bloß Illusionen erwecken, sein Klassenbewusstsein trüben, die Kraft seines Kampfes schwächen, ohne ihm irgend einen praktischen Erfolg zu bringen. Oder es sind gar Demagogen, die das Proletariat durch Versprechungen bloß zu gewinnen suchen, um seine Kraft in ihrem eigenen Interesse auszubeuten.

So sehen wir denn auch, dass die populären Reformbewegungen in den Vereinigten Staaten sich nur um Einzelforderungen, oft sehr schwindelhafter Natur, gruppieren, zum Beispiel die Bewegungen, die durch „billiges Geld" (Papiergeld oder Silbergeld) oder durch eine besondere Steuergesetzgebung (single tax nach Henry-Georgeschem Muster) und dergleichen mehr die unteren Klassen zu erlösen versprechen. Diese Bewegungen schwellen zeitweise rapid am um ebenso rapid zusammenzubrechen, und haben praktisch keine andere Wirkung als die, einigen Schwindlern und Quacksalbern als Sprungbrett zu dienen.

Gerade weil ihr alle „Revolutionsromantik" fehlt, weil sie ganz in nüchterner Realpolitik aufgeht, ist die bisherige Politik der arbeitenden Massen in den Vereinigten Staaten nach dem Grade ihrer Stärke wie nach ihrer Richtung so unstet gewesen, hat sie sich mehr als die irgend eines anderen Landes von Demagogen und Narren nasführen lassen.

8. Sombart über die amerikanischen Arbeiter

a) Der Alkoholkonsum des deutschen und des amerikanischen Arbeiters.

Wir sind ausgegangen von einem Satze aus den Sombartschen Studien über das amerikanische Proletariat, in denen der Breslauer Professor untersucht, warum in Amerika der Sozialismus bisher so schwer Wurzel fasste. Es ist eine Reihe sehr bemerkenswerter Tatsachen, die wir in diesen Studien verzeichnet finden. Wohl bieten die Gedankengänge Sombarts kaum etwas Neues, keinen Gesichtspunkt von Belang, der nicht schon in der sozialistischen Presse vorher entwickelt worden wäre; aber sie enthalten eine Reihe von Geständnissen, die festgehalten zu werden verdienen, wenn sie von einem wohlbestallten Professor kommen.

Allerdings darf man seine Ausführungen und auch seine Zahlen nicht ganz kritiklos hinnehmen. So unterschätzt er meines Erachtens die Ausdehnung der Ausgaben, die der Alkoholgenuss den amerikanischen Arbeitern im Verhältnis zu den deutschen verursacht.

Er berechnet (S. 593), dass dem Amerikaner nach Deckung seines Wohnungs-, Nahrungs- und Kleidungsbedarfes ein Teil seines Einkommens übrig bleibt, der einem Fünftel näher ist als einem Viertel, indes dem deutschen Arbeiter „eher mehr als weniger denn ein Viertel, nahe an drei Zehntel, für Diverses verbleibt".

Was fängt der deutsche Arbeiter mit dem (verhältnismäßig) so viel größeren Überschuss über die notwendigen Ausgaben an? Gibt er mehr aus für Bildungszwecke? für Vergnügungen? für Vereine? für Steuern? für den Arzt? Nichts von alledem. Was er an den Ausgaben für Wohnung, Kleidung, Nahrung erspart, das vertrinkt er. Die ganze Differenz zwischen dem freien Einkommen des amerikanischen und deutschen Arbeiters – und mehr als sie … wird von den Ausgaben für alkoholische Getränke absorbiert.

Es ist in letzter Zeit öfters darauf hingewiesen worden, dass der amerikanische Arbeiter allem Anschein nach weniger dem Alkohol ergeben sei als sein deutscher Kollege. Ich bin in der Lage, diese Beobachtung in ihrer Richtigkeit ziffernmäßig zu bestätigen.

Von den speziell untersuchten 2567 amerikanischen Arbeiterfamilien war genau die Hälfte abstinent: nur bei 50,72 Prozent fanden sich überhaupt Ausgaben für alkoholische Getränke. Und auch bei denen, die dem Alkoholgenuss frönten, bewegten sich die Ausgaben für die ,berauschende Flüssigkeit' (intoxicating liquors ist der technische Ausdruck der Statistik für ,alkoholische Getränke') in mäßigen Grenzen. Diese Familien verausgabten im Jahresdurchschnitt 24,85 Dollar (103 Mark). (Die drüben Geborenen weisen einen Durchschnitt von 22,28 Dollar aus, die Fremdgeborenen von 27,39 Dollar, das Maximum erreichten die Schotten mit 33,63 Dollar und – die Deutschen mit 33,50 Dollar.) Das sind 3,19 Prozent der Gesamtausgabe. Berechnet man aber die Ausgabe für alkoholische Getränke, wie sie die Trinkerfamilien machen, auf die Gesamtausgabe aller Familien, so ergibt sich eine durchschnittliche Belastung des Budgets durch diesen Posten mit 12,44 Dollar (52 Mark) oder 1,62 Pfennig" (S. 593-595).

Dagegen geben die Berliner Arbeiterfamilien 111 Mark im Jahre für Bier aus, die Karlsruher 219 Mark für Alkoholika, die Nürnberger 143 Mark.

Soweit die Sombartsche Beweisführung. Sehr schlüssig ist sie gerade nicht. Nicht etwa, dass ich behaupten möchte, die Deutschen – und zwar die aller Klassen, Professoren und Kommerzienräte und Reserveoffiziere ebenso wie Proletarier – seien Feinde eines guten Tropfens. Allem Anschein nach leisten sie darin im Allgemeinen mehr als die Amerikaner. Die Sombartschen Zahlen bringen jedoch keineswegs die „ziffernmäßige Bestätigung" für diese Annahme. Wohl aber findet man sie in einer Publikation des englischen Handelsministeriums, aus der das „Reichs-Arbeitsblatt" vom Januar 1906 einen Auszug bringt. Danach betrug die durchschnittliche Menge des Verbrauchs pro Kopf:


Deutschland

Vereinigte Staaten


Wein

Liter

Bier

Liter

Brannt­wein

Liter

Alkohol überhauptB

Liter

Wein

Liter

Bier

Liter

Brannt­wein

Liter

Alkohol überhauptB

Liter

1885

1890

1895

1900

1901

1902

8,8

7,1

4,8

6,7

5,2

5,2

88,0

105,9

115,8

125,1

124,1

116,0

?

9,4

8,6

8,8

8,6

8,4

?

9,6

9,0

10,1

9,8

9,3

1,5

1,7

1,0

1,4

2,4

1,8

39,9

51,8

58,2

61,3

66,3

68,2

4,8

5,4

3,8

5,0

5,1

5,5

4,6

5,5

4,9

5,8

6,2

6,4

Zu- oder Abnahme

1885 bis 1902

-3,6

+28,0

-1,4C

-0,3C

+0,3

+28,3

+0,7

+1,8

In den Vereinigten Staaten ist nach dieser Statistik der Alkoholkonsum geringer als in Deutschland, aber er ist in raschem Wachstum begriffen, während er sich bei uns nicht erheblich verändert. Und die amerikanischen Ziffern sind in Wirklichkeit wahrscheinlich viel höher, wie schon Bär in seiner Schrift über die Trunksucht bemerkte, „bei der kolossalen Ausdehnung von Schmuggel, heimlicher Fabrikation und Defraudation".

Damit ist aber noch nicht die von Sombart aufgeworfene Frage erledigt, ob der deutsche oder der amerikanische Arbeiter mehr Geld für Alkohol verausgabt, denn der Alkohol hat hier und dort nicht den gleichen Preis, in Amerika ist der Alkohol vielmehr erheblich teurer.

Haushaltungsbudgets von Arbeitern sind in der Regel keine sehr sichere Quelle, denn die Arbeiterfrau verfügt nicht über Zeit und Ruhe zu einer regelmäßigen Buchführung. Welche ziffernmäßige Beweiskraft kann aber nun gar einer Vergleichung von Zahlen zugemessen werden, von denen die einen drei einzelne Städte umfassen. die anderen ein Gebiet, so groß und mannigfaltig wie Europa!

Wie verschieden gestalten sich die Ziffern der fraglichen Haushaltungsbudgets, wenn wir statt das gesamte Reich einzelne Staaten der Union in Betracht ziehen! Im Durchschnitt kam auf jede der von der amerikanischen Enquete untersuchten 2567 Familien eine Ausgabe von 24,53 Dollar für alkoholische Getränke, aber in Nordkarolina nur 2,56 Dollar, im Distrikt Kolumbia 131,17 Dollar (!). Es dürfte Sombart schwer fallen, in Deutschland eine Stadt zu finden, die sich mit diesem famosen Distrikt an Bier- und Schnapsseligkeit messen könnte. Über 500 Mark pro Arbeiterfamilie für Alkoholika!

Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Ausgaben für den Alkohol im Süden der Vereinigten Staaten weit geringer sind als im Norden. In den südlichen Zentralstaaten kommen nach der in Rede stehenden Enquete auf die Arbeiterfamilie 14,09 Dollar, in den nördlichen 30,38 Dollar. Die nördlichen sind aber jene, die den deutschen Verhältnissen am nächsten kommen.

Dann aber muss man gerade diesen Posten in den amerikanischen Haushaltungsbudgets mit besonderem Misstrauen beobachten. Seit Jahrzehnten wird in Amerika ein erbitterter Kampf gegen den Alkoholismus geführt, nicht aber in der einzigen Weise, in der er Erfolg verspricht, durch wissenschaftliche Aufklärung einerseits, die am besten der Arzt zu geben hat, durch Erfüllung des Proletariers mit einem höheren Lebensinhalt andererseits, wie ihn der Sozialismus bietet, sondern durch pfäffische Salbaderei und polizeilichen Zwang durch Behörden und Unternehmer.

In einer ganzen Reihe von Staaten sind die strengsten Polizeigesetze zur Einschränkung des Alkoholgenusses erlassen, andererseits wird er von den Unternehmern vielfach verboten. Das Washingtoner Arbeitsamt unternahm 1897 eine Enquete über die Alkoholfrage und befragte unter anderem eine Reihe von Unternehmern, ob sie ihren Arbeitern Vorschriften über den Alkoholgenuss machten. Von den einlaufenden Antworten bejahte mehr als die Hälfte die Frage (3527 gegen 3265). Und von jenen 3527 war es wieder mehr als die Hälfte, 1980, die nicht bloß während der Arbeit, sondern auch außer ihr dem Arbeiter jeden Tropfen Alkohol streng verboten. Bei der Aufnahme schon werden Erkundigungen darüber eingezogen, ob der Mann Abstinent ist oder nicht („The economic aspects of the liquor problem“. Washington 1898, S. 72).

Der Alkoholgenuss wird dadurch nicht verringert. Er betrug nach dem eben erwähnten Buche in Gallonen:


Branntwein

Wein

Bier

1840

2,52

0,29

1,36

1850

2,23

0,27

1,58

1860

2,86

0,35

3,22

1870

2,07

0,32

5,31

1880

1,27

0,56

8,26

1890

1,40

0,46

13,67

1896

1,00

0,26

15,16

Die oben angeführten Zahlen zeigen, dass die hier ausgesprochene Tendenz bis in die jüngste Zeit fortdauert.

Der Branntweingenuss hat eine Zeitlang abgenommen – bis 1895, von da an steigt er wieder –, der Biergenuss aber ist stetig und kolossal gewachsen.

Der polizeiliche Zwang erreicht nichts, als dass Schmuggel und Defraudationen und Heuchelei wachsen. Dadurch wird aber nicht bloß die Statistik des Alkoholgenusses in den Vereinigten Staaten verfälscht, es muss erst recht die Angaben über Haushaltungsbudgets, die keiner Kontrolle unterliegen, zu völlig irreführenden machen, soweit sie den Alkoholgenuss betreffen. Selbst wenn wir annehmen wollen, die 50 Prozent der 2567 Familien, die sich als „Trinker" bekannten, hätten die Höhe ihres Alkoholgenusses richtig angegeben, so ist es noch sehr zweifelhaft, ob die anderen 50 Prozent, die jeden Alkoholgenuss leugneten, dies auch alle der Wahrheit gemäß getan, oder ob nicht viele von ihnen nur geheuchelt hatten, wie sie vor ihren Unternehmern und den Polizisten Abstinenz heucheln, um keine Schädigungen zu erleiden.

Niemand hat bisher behauptet, dass die deutschen Arbeiter in Amerika weniger trinken als in der Heimat. Nach der famosen Statistik der 2567 Familien aber haben 32 Prozent der 220 aus Deutschland stammenden Arbeiterfamilien, die befragt wurden, erklärt, dass sie keinen Cent für Alkohol ausgeben. Ein Drittel der deutschen Arbeiter in Amerika Abstinente! Wer glaubt wohl, dass wir irgendwo so weit wären!

Noch eine Ziffer, um die Zuverlässigkeit der „zahlenmäßigen Bestätigung" Sombarts zu beleuchten! Er weist darauf hin, dass durchschnittlich das Budget jeder der untersuchten 2567 Familien nur 12,44 Dollar für Alkoholika enthalte. Dagegen berechnet die schon zitierte Schrift „The economic aspects of the liquor problem“ die Einnahmen der Vereinigten Staaten (Reich, Staaten, Grafschaften und Gemeinden, aus der Besteuerung des Importes, der Produktion und des Verkaufs von Alkohol aus mehr als 183 Millionen Dollar im Jahre 1896 – auf über 700 Millionen Mark. Das machte bei einer Bevölkerung von 70 Millionen 2,6 Dollar pro Kopf, also pro Familie von fünf Köpfen 13 Dollar Abgaben, die sie im Durchschnitt für den Alkohol zu bezahlen hatte. Sombart berechnet dagegen aus den in Rede stehenden Haushaltungsbudgets eine durchschnittliche Ausgabe von weniger als 12½ Dollar pro Familie für „berauschende Getränke". Also weniger an Ausgaben, als nach den Ziffern der Steuererträge, die auf keinen Fall zu viel angeben, bloß an Abgaben dafür auf die Familie entfielen.

b) Proletarischer Ministerialismus.

Besser als über die Abstinenz der amerikanischen Arbeiter unterrichtet uns Sombart über manche anderen ihrer Eigentümlichkeiten, und er fällt oft sehr treffende Urteile über sie.

Da haben wir zum Beispiel die Frage, welchen Vorteil das Proletariat davon hat, wenn seine Kämpfe und seine wachsende Macht den Erfolg haben, dass die herrschenden Parteien sich veranlasst sehen, einzelnen seiner Vorkämpfer Ämter zu verleihen. Als Millerand in das bürgerliche Ministerium Waldeck-Rousseau kam, da gerieten bekanntlich unsere Revisionisten vor Entzücken außer sich darüber und erklärten, dies sei der einzige Weg, auf dem das Proletariat zur Macht gelangen könne. Das Streben nach Eroberung der gesamten politischen Macht sei unfruchtbare und törichte Revolutionsromantik. Die Erfahrungen mit dem Millerandschen Experiment haben unsere revisionistischen Staatsmänner etwas zur Zurückhaltung gezwungen, und als jüngst wieder John Burns einen Ministerposten erhielt, wurde das mit verlegenem Schweigen aufgenommen, bis das enfant terrible des deutschen Revisionismus sich für diesen Erfolg des britischen Proletariats begeisterte. Besser als der Reichstagsabgeordnete der deutschen Sozialdemokratie weiß der preußische Professor den Wert dieser Methode, die politische Macht stückweise zu erobern, zu bemessen – wenigstens für Amerika. Sombart sagt von den „Arbeiterführern, den leitenden Gewerkschaftsleuten":

Diesen winkt ein reicherer Lohn, Wenn sie der herrschenden Partei Treue schwören: ein gut besoldetes Amt vom Fabrikinspektor hinauf bis zum Staatssekretär, je nach der Bedeutung, die man dem zu Versorgenden beimisst. Es ist ein durchaus bewährtes Verfahren, das die herrschenden Parteien seit Jahren mit bestem Erfolg zur Anwendung bringen: die einflussreichen Arbeiterführer durch Verleihung eines einträglichen Amtes unschädlich zu machen. Wir können diesen Entmannungsprozess bei einer ganzen Reihe der namhaftesten Führer verfolgen. Im Augenblick soll der Präsident der American Federation of Labor – in Deutschland Legien – zum Nachfolger Caroll Wrights, also zum Direktor des arbeitsstatistischen Amtes ausersehen sein, während John Mitchell, der siegreiche Bergarbeiterführer, also etwa Sachse in Deutschland, einen Unterstaatssekretärposten in Washington erhalten soll.

Man hat festgestellt, dass in solcher Weise in Massachusetts während weniger Jahre 13, in Chicago 30 Arbeiterführer in Beamtenstellungen gelangt sind. …

Wenn aber solcherweise die einflussreichen Führer, jedes Mal wenn sie zu Macht und Ansehen unter ihren Genossen gelangt sind, für eine oppositionelle Arbeiterbewegung verloren gehen, so bedeutet das nicht nur einen direkten Gewinn für die großen Parteien, soweit die Person des Führers und auch die Kreise der Arbeiterschaft selbst in Frage kommt, die jenem Führer ihr Vertrauen schenkten, sondern in viel weiterem Umfang eine indirekte Stärkung, weil mit dem durch den Köder des Amtes eingefangenen Führer eine mögliche selbständige Arbeiterpartei einen schmerzlichen Verlust erfährt. Mit anderen Worten: die großen Parteien kapern jedes Mal die Offiziere der etwa in Bildung begriffenen sozialistischen Parteiorganisation vor der Nase weg."

Man sollte annehmen, dass das jeder einsieht, der einmal begriffen hat, dass es zwischen der Sozialdemokratie und den „großen", das heißt in Amerika den bürgerlichen Parteien, einen wesentlichen Unterschied gibt. Wer es freilich verlernt hat, zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie einen wesentlichen Unterschied zu merken, der kann wohl der Meinung sein, dass ein Gewerkschaftsbeamter oder sonstiger Vorkämpfer des Proletariats diesem auch in einem Amte nützen kann, das er den Liberalen verdankt.

c) Die Demokratisierung des Kapitals

Eine zweite Illusion des sozialistischen Revisionismus ist die, dass die Arbeiter durch den Erwerb von Aktien Teilhaber am Kapital werden und dieses derartig eine Demokratisierung erfährt. Sombart weiß sehr wohl, was davon zu halten ist.

Das Kapital sucht den Arbeiter dadurch zu ködern, dass es ihm Anteil an seinen Erträgnissen gewährt. Das Mittel hierzu ist das vorteilhafte Angebot von Aktien. Die Kapitalisten schlagen damit unter Umständen zwei Fliegen mit einer Klappe: erstens ziehen sie den Arbeiter in den Strom des Geschäftsgetriebes, wecken in ihm die niederen Instinkte des Gewinnstrebens, des Spekulationsfiebers und attachieren ihn dadurch an das von ihnen vertretene Produktionssystem; zweitens aber bringen sie ihre faulen Aktien unter, verhüten einen drohenden Kurssturz oder beeinflussen damit vielleicht den Aktienmarkt momentan in einer Weise, der ihnen einen Extrareibach verschafft."

Wir wünschten, jeder Sozialdemokrat durchschaute den plumpen Schwindel der „Demokratisierung des Kapitals" ebenso deutlich, wie es hier der liberale Professor tut.

Bezeichnend ist das Beispiel, mit dem er diese „Demokratisierung" illustriert:

Dieses System ist im großen Stil von dem Stahltrust zur Anwendung gebracht worden. Die Gesellschaft verwandte zuerst im Jahre 1900 2 Millionen Dollar des Gewinnüberschusses aus dem Vorjahre, um 25.000 Vorzugsaktien (shares of the preferred stock) aufzukaufen. Diese bot sie den 168.000 Angestellten zum Kurse von 82,50 an, zahlbar binnen drei Jahren. Damit die Arbeiter veranlasst wurden, die Aktien zu behalten, wurde eine Extradividende von 5 Dollar pro Aktie und Jahr versprochen für den Fall, dass die Aktien länger als fünf Jahre im Besitz des ersten Erwerbers blieben. Das Angebot fand allgemeinen Anklang: 48.983 Aktien wurden von Angestellten der Gesellschaft erworben. Bald darauf erfolgte der Kurssturz, den man mit jener Wohlfahrtsaktion wohl aufzuhalten oder zu vermeiden versucht hatte. Die preferred shares der U.S. Steel Corporation fielen auf 50. Neuer Trick: um die Arbeiter zu beruhigen, gleichzeitig aber eine weitere Senkung des Kurses zu verhindern, die entstanden wäre, wenn die Arbeiter ihren Aktienbesitz abgestoßen hätten, verpflichtete sich die Gesellschaft, die in den Händen der Arbeiter befindlichen Aktien zum Kurse von 82,50 zurückzukaufen, falls die Arbeiter die Aktien bis – 1908 behielten! Schon im Dezember desselben Jahres (1903) machte die Korporation den Arbeitern ein neues Angebot unter ähnlichen Bedingungen wie das erste, nur dass der Kurs der preferred shares auf 55 festgesetzt wurde. Wieder gingen 10.248 Angestellte darauf ein, die zusammen 32.519 Aktien erwarben. Da inzwischen die Aktien wieder auf 82 stiegen, so hatten diesmal die Arbeiter einen Vorteil von ihrem Ankauf" (S. 603, 604).

Als wenigstens vorübergehendes Resultat einer derartigen Politik bezeichnet Sombart die „kapitalistische Durchseuchung des Arbeiters".

d) Kapitalistische Gewerkschaftspolitik.

Eine dritte Illusion des Revisionismus ist die über die Wirksamkeit der Trade AIliances. Vereinigungen von Arbeiterorganisationen mit Unternehmerorganisationen zur gemeinsamen Hochhaltung der Preise und gegenseitigen Stützung der Organisation. Ebenso wie im Aktienbesitz der Arbeiter und der Besetzung von Staatsämtern durch Arbeiterführer sahen manche unserer Revisionisten auch in den Trade AIliances Formen der allmählichen „Aushöhlung" des Kapitalismus, seiner unmerklichen – allerdings sehr unmerklichen – Umwandlung in den Sozialismus, ohne jede der so verpönten Katastrophen. Sombart schätzt sie weit richtiger ein. Er sagt:

Den reinsten Ausdruck findet diese Geschäftspolitik (der zünftlerisch gesinnten Gewerkschaften) in dem Zusammenschluss der monopolistischen Gewerkschaft mit einem monopolistischen Unternehmertum in den sogenannten AIliances, das sind Organisationen zur gemeinsamen Ausbeutung des Publikums durch die vereinigten Unternehmer und Arbeiter eines Gewerbezweiges. Man kann diese Art Gewerkschaften, weil sie doch von demselben Holze wie der Kapitalismus selbst geschnitzt und und sowohl in ihren Tendenzen wie in ihren Wirkungen auf Erhaltung und Festigung, nicht auf Überwindung des kapitalisieren Wirtschaftssystems gerichtet sich als kapitalistische bezeichnen und ihnen die sozialistischen Gewerkschaften gegenüberstellen, die ihre Politik zwar auch auf den Gegenwartserfolg zuschneiden, dabei aber die gegen den Kapitalismus gerichtete Klassenbewegung des Proletariats nicht auf dem Auge verlieren" (S. 233, 234).

Auch sonst äußert Sombart manches vernünftige Wort über die Gewerkschaftsbewegung. Mancher Gewerkschafter scheint zu glauben, als sei das Ziel der Arbeiterbewegung nicht die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. sondern die „konstitutionelle Fabrik". Viele halten diese für ein Übergangsstadium zum Sozialismus, glauben, es sei schon viel erreicht, wenn die Unternehmer den absoluten Herrenstandpunkt aufgeben und mit den Arbeitern als Gleichberechtigten verkehren und verhandeln, sie nicht als Knechte, sondern als Warenverkäufer ansehen, wie sie selbst sind, Verkäufer der Ware Arbeitskraft.

Dass die Arbeiter danach streben müssen, von den Kapitalisten nicht als willenlose Sklaven, sondern als Gleichberechtigte behandelt zu werden, ist selbstverständlich. Aber sie dürfen sich nicht darüber täuschen, dass die höhere, zivilisiertere Form des Verkehrs mit ihnen am Inhalt ihrer Ausbeutung sehr wenig oder gar nichts ändert.

Das wird von Sombart sehr gut erkannt:

Der Ton der Gleichberechtigung., auf den das gesellschaftliche und öffentliche Leben in den Vereinigten Staaten abgestimmt ist, herrscht nun aber auch innerhalb der kapitalistischen Unternehmung. Auch hier tritt – wie es im alten Europa mit seinen feudalen Traditionen der Regel nach der Fall war und ist – der Unternehmer dem Arbeiter nicht als der ,Herr' entgegen, der Gehorsam heischt. Der rein geschäftliche Standpunkt bei der Behandlung des Lohnvertrags wurde von vornherein der herrschende. Die formelle ,Gleichstellung' von Unternehmer und Arbeiter brauchte nicht erst in langem Kampfe ertrotzt zu werden. Wie die amerikanische Frau, weil sie selten war, auf Händen getragen wurde, so befleißigte sich auch der Unternehmer dem Arbeiter gegenüber, der ihm ursprünglich nicht in beliebiger Menge zur Verfügung stand, eines höflichen, zuvorkommenden Benehmens, das in der demokratischen Atmosphäre des Landes naturgemäß eine starke Stütze fand. Noch heute sind selbst englische Arbeiter erstaunt über den respektvollen Ton, den Unternehmer und Werkmeister in den Vereinigten Staaten dem Arbeiter gegenüber anschlagen, sind sie erstaunt über die Ungebundenheit des amerikanischen Arbeiters selbst in seiner Arbeitsstätte, der Freihaltung von allem, was man lästige Überwachung nennen könnte; sie wundern sich, dass er einen, zwei Tage auf Urlaub gehen kann, dass er austreten darf, um eine Zigarre zu rauchen, ja dass er während der Arbeit raucht und sogar einen Zigarrenautomaten in der Fabrik zu seiner Verfügung hat. Es ist auch eine Eigenart der amerikanischen Fabrikanten, dass sie in ihren Betrieben zwar die einfachsten Schutzvorkehrungen anzubringen unterlassen, dass sie sich nicht im Geringsten um die objektiv gute Einrichtung der Werkstätten kümmern, die vielmehr oft überfüllt sind und dergleichen, dass sie dagegen bereitwilligst alles tun, was vom Arbeiter subjektiv als Annehmlichkeit empfunden werden könnte, das heißt dass sie für ,Komfort' sorgen: Badewannen, Duschen, verschließbare Schränke, Temperierung der Arbeitsräume, die im Sommer durch Ventilatoren gekühlt, im Winter angewärmt werden. …

Das sind gewiss alles Kleinigkeiten, aber ,kleine Geschenke erhalten die Freundschaft', gilt auch hier. Ich werde später zu zeigen versuchen dass in keinem Lande der Welt – objektiv betrachtet – der Arbeiter vorn Kapitalismus so ausgebeutet wird, wie in den Vereinigten Staaten, dass der Arbeiter in keinem Lande der Welt sich in den Sielen des Kapitalismus so blutig reibt, sich so rasch zu Tode rackert, wie dort: aber darauf kommt es nicht an, wenn es gilt, den Gefühlsinhalt des Proletariats zu erklären. Denn für dessen Gestaltung wird nur von Bedeutung, was vom einzelnen als Lust oder Unlust empfunden, als Wert oder Unwert geschätzt wird. Und es ist eines der glänzendsten diplomatischen Kunststücke, dass der amerikanische Unternehmer, ebenso wie der Geschäftspolitiker in seiner Weise, den Arbeiter trotz aller tatsächlichen Ausbeutung bei guter Stimmung zu erhalten verstanden hat, also dass dieser gar nicht zum Bewusstsein seiner wirklichen Lage gekommen ist" (S. 600, 601).

Nun könnte mancher mir einwenden wollen, wenn die Gleichberechtigung und die politische Freiheit den amerikanischen Arbeiter so in seinem Klassenbewusstsein und seinem Klassenkampf beeinträchtigen, indes das Fehlen dieser Bedingungen dem proletarischen Klassenkampf in Europa, namentlich Osteuropa, erhöhte Wucht gibt – sei es da nicht ein Unding, nach Gleichberechtigung und politischer Freiheit zu verlangen oder gar ihretwegen so hohe Opfer zu bringen? Mitnichten. Ohne Gleichberechtigung und politische Freiheit kann das Proletariat seine volle Kraft nicht entfalten, es bedarf ihrer, wie es der Luft und des Lichtes bedarf, sie gehören zu seinen Lebenselementen. Aber sie wirken anders dort, wo sie das Proletariat bei seinem Aufkommen schon als selbstverständliche Einrichtungen vorfindet, um die es sich nicht zu kümmern braucht, wie dort, wo sie sich das Proletariat selbst erkämpfen muss. Ebenso wie das Ringen nach Wahrheit etwas weit Höheres ist, als der mühelose Besitz der Wahrheit, die andere vorher aufgedeckt, so erhebt auch der Kampf um die Freiheit weit mehr als der kampflose Besitz einer Freiheit, die andere vorher errungen.

Nicht zum wenigsten dank diesem von ihren Vätern ererbten Besitz waren bisher die amerikanischen Arbeiter als Klasse schwächer wie die europäischen, aber nur deshalb, weil jeder einzelne als Staatsbürger stärker war. Und nicht nur die politische Freiheit besaßen sie, nicht nur gesellschaftliche Gleichberechtigung; nein, auch das wichtigste Produktionsmittel, der Grund und Boden, war noch nicht Monopol einer Klasse geworden, stand ihnen allen zu Gebote. warum also Sozialisten werden, warum für eine ferne sozialistische Zukunft kämpfen, wenn ein sehr erheblicher Teil dessen, wofür der Sozialismus eintritt, in Amerika schon verwirklicht ist oder vielmehr bis vor kurzem noch verwirklicht war?

Alle die Ursachen, die bisher verhinderten, dass der amerikanische Arbeiter sich seines Klassengegensatzes gegen das Kapital und seiner Klassensolidarität in gleichem Maße bewusst wurde wie der europäische – sie alle sind nämlich im Rückgang begriffen.

So schließt denn auch Sombart seine „Studien zur Entwicklungsgeschichte des nordamerikanischen Proletariats" mit dem Versprechen, er werde in einem Buche nachweisen,

dass alle Momente, die bis heute die Entwicklung des Sozialismus in den Vereinigten Staaten aufgehalten haben, im Begriff sind, zu verschwinden oder in ihr Gegenteil verkehrt zu werden, und dass infolgedessen der Sozialismus in der Union im nächsten Menschenalter aller Voraussicht nach zu vollster Blüte gelangen wird."

Ich weiß nicht, ob das besagen soll, dass unser für das heutige Deutschland liberaler Professor die Absicht hat, sich für Amerika und für das nächste Menschenalter zum Sozialismus zu bekennen, und ob er andererseits die revisionistischen Illusionen, deren Nichtigkeit er für Amerika so gut erkennt, nun auch für Deutschland ablehnen wird. Jedenfalls darf man diesem Buche erwartungsvoll entgegensehen. Aber wir brauchen nicht darauf zu warten, um zu erkennen, dass die Vorbedingungen des Sozialismus sich in Amerika rapid entwickeln und ihm dort wohl noch vor dem nächsten Menschenalter, vielleicht schon binnen wenigen Jahren zur Blüte verhelfen.

Der letzte Zensus hat darüber einige Ziffern veröffentlicht, die wir in einem nächsten Artikel noch betrachten wollen.

9. Die Verelendung des amerikanischen Arbeiters

a) Der Rückgang der kapitallosen Landwirtschaft.

Als der Revisionismus auszog, die Marxsche Theorie entweder zu widerlegen oder „fortzuentwickeln", das heißt, ihr das Rückgrat zu brechen, um sie schmiegsamer zu machen, da waren es die Forderung der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Theorie der steten Verschärfung der Klassengegensätze, die seinen besonderen Zorn erregten. Um sie zu widerlegen, gab er ihnen eine absurde Form, destillierte er aus der Forderung der Eroberung der politischen Macht ein „Spekulieren" auf „Katastrophen", das seinerseits wieder in einer besonderen Katastrophentheorie begründet sein sollte, und aus der Theorie der notwendigen Verschärfung der Klassengegensätze wurde eine Theorie der Verelendung der Arbeiter in dem Sinne oder vielmehr Irrsinne, als hätte Marx erwartet, die Kraft der Proletarier zur Umformung des gesellschaftlichen Organismus werde aus ihrer wachsenden Verkommenheit hervorgehen.

Die russische Revolution und die gerade in den letzten Jahren besonders starke Zuspitzung der Klassenkampf in ganz Europa hat inzwischen die Kritik der sogenannten Katastrophentheorie wenn auch nicht ganz zur Ruhe, so doch ganz zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Aber die ökonomische Entwicklung hat auch die Kritik der „Verelendungstheorie", das heißt der Theorie der Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit bereits in hohem Maße ad absurdum geführt.

Neues Material dazu liefern die Verhältnisse in Amerika, wo die Entwicklung im letzten Jahrzehnt besonders rasch vor sich ging, so dass ihre Tendenzen deutlich sichtbar wurden. Sie bezeugen, dass das goldene Zeitalter für den amerikanischen Arbeiter innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht vor ihm, sondern hinter ihm liegt, dass sich seine soziale Lage im Verhältnis zum Kapital – und das ist das Entscheidende – stetig verschlechtere.

Die Grundlage des großen Vorzugs, den der amerikanische vor dem europäischen Arbeiter besaß, war die Tatsache, dass das entscheidende Produktionsmittel, der Grund und Boden, nicht ausschließliches Monopol einer Kaste von Grundbesitzern geworden war, dass der Zugang zu ihm jedem offen stand. Diesen Vorzug verliert aber der amerikanische Arbeiter immer mehr. Genosse Simons hat schon in seinem Artikel über die Vereinigten Staaten in der „Neuen Zeit" (Nr. 19, S. 623) einen bemerkenswerten Hinweis auf die Tatsache gegeben, dass die landwirtschaftliche Bevölkerung im Staate Iowa abnimmt. Dieser Hinweis wird ergänzt durch eine Notiz, die in den letzten Wochen durch die deutsche Presse ging. Sie lautet:

Von der letzten Volkszählung in den Vereinigten Staaten werden einige auffällige Ergebnisse in der Wochenschrift ,Science' mitgeteilt. Als besonders merkwürdig haben sich die Veränderungen der Bevölkerung im Staate Iowa gezeigt. Während man im Allgemeinen annimmt. dass überall in den Vereinigten Staaten eine unaufhaltsame Bevölkerungszunahme stattfindet. hat dieser Staat in den letzten fünf Jahren eine Abnahme von 150.000 Seelen erlitten. … Auch in anderen Teilen der Vereinigten Staaten hat sich die Bevölkerungszunahme zum Mindesten sehr verlangsamt. Im Staate Minnesota war im Jahrzehnt von 1890 bis 1899 die Bevölkerung um mehr als ein Drittel gewachsen, oder um fast 3½ Prozent jährlich, in den letzten fünf Jahren dagegen betrug die Zunahme nur wenig mehr als 2½ Prozent im Jahre. Es wird ganz allgemein gefolgert. dass die ländliche Bevölkerung in den Vereinigten Staaten, sogar in den fruchtbarsten und für den Landbau überhaupt günstigsten Gebieten des Westens, entweder durch Auswanderung nach den Städten oder aus anderen Ursachen wenigstens zu wachsen aufgehört hat. Der Grund wird zunächst in der reißenden Steigerung der Preise für Ackerland gefunden. In Iowa, wo Viehzucht und Meierei die Hauptrolle spielen, ist die Aufrechterhaltung der alten Familiengüter mehr und mehr unmöglich geworden, und die Bewirtschaftung fällt statt dessen den kapitalistischen Farmern zu. Die Landbesitzer alten Stiles müssen dafür nach den Grenzgegenden Kanadas auswandern oder nach dem Südwesten oder Nordwesten, wo das Land noch billiger ist. Der ausgedehnte Staat Kansas hatte nach der letzten Volkszählung etwas mehr als 1½ Millionen Einwohner oder seit 1900 jährlich nur um 8658 Seelen zugenommen. Von den 105 Bezirken des Staates haben nur 58 überhaupt eine Zunahme, die übrigen 47 aber eine Abnahme zu verzeichnen gehabt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bevölkerung dieses Gebiets im Vergleich zu dessen Größe nur gering ist und besondere Anlässe, wie Missernten oder sonstige widrige Ereignisse, nicht stattgefunden haben."

Diese Erscheinung kommt nicht ganz unerwartet. Relativ ist die landwirtschaftliche Bevölkerung der Vereinigten Staaten schon lange im Abnehmen. Trotz des vielen frei verfügbaren Bodens nahm die Zahl der Landwirte nicht so rasch zu, wie die der Mitglieder anderer Berufe. Von 1880 bis 1900 wuchs die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft zwar von 7.713.875 auf 10.381.765, aber sie nahm prozentuell ab, betrug 1880 noch 44,3, 1900 nur noch 35,7 Prozent aller Erwerbstätigen. Nur in den Staaten des äußersten Westens nahm sie schneller zu als die aller Erwerbstätigen – von 22 aus 25 Prozent –, dagegen nahm sie selbst in den Zentralstaaten ab, den Kornkammern des Landes – in den nördlichen Zentralstaaten von 48,6 aus 36,5 Prozent. in den südlichen von 70,2 auf 63,4 Prozent; und erst recht in den nördlichen Oststaaten, wo sie schon 1880 nur 19,8 Prozent betrug, 1900 gar nur noch 12,5 Prozent. Am geringsten ist ihr Prozentsatz in Massachusetts: 1880 9,0, 1900 5,5 Prozent.

Hier ist also die landwirtschaftliche Bevölkerung schon geringer als in England! Das aus einem Gebiet. das größer ist als Württemberg und nicht viel dichter bevölkert!

Aber in den nordatlantischen Staaten ist die Abnahme der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft nicht bloß eine relative, sondern sogar eine absolute. Sie betrug:


1880

1890

1900

Einwohner pro Quadratkilometer

1900

Maine

New Hampshire

Vermont

Massachusetts

Rhode Island

Connecticut

New York

New Jersey

Pennsylvanien

83.194

44.931

55.431

64.988

10.591

44.184

376.931

58.993

303.894

81.193

41.658

53.290

68.790

11.446

44.830

388.951

67.193

337.089

73.791

37.224

48.352

64.669

10.673

43.247

363.619

67.035

381.119

8

17

13

130

132

70

57

93

54

Zusammen

1.043.497

1.094.440

1.039.720

-

Seit 1890 hat also in allen diesen Staaten die landwirtschaftliche Bevölkerung abgenommen. In den drei erstgenannten der Tabelle beginnt die absolute Abnahme schon 1880. Ausgenommen Massachusetts und Rhode Island sind sie alle noch äußerst dünn bevölkert im Vergleich zu Sachsen mit 280 Einwohnern und selbst zu Preußen mit 99 Einwohnern pro Quadratkilometer.

Aber sogar in zweien der eigentlichen Weizenstaaten setzt 1890 schon eine Abnahme ein, in anderen ist die Zunahme minim. Man zählte dort Erwerbstätige in der Landwirtschaft:


1890

1900

Einwohner pro Quadratkilometer

Ohio

Indiana

Nebraska

Kansas

404.365

334.127

173.218

260.194

399.909

332.840

182.338

264.618

39

37

5

7

Nun wird auch vom Staate Iowa, der in diese Gruppe der nördlichen Zentralstaaten gehört, berichtet, dass er seit 1900 eine Abnahme der ländlichen Bevölkerung auszuweisen habe. Bei ihm war die absolute Zunahme von 1890 bis 1900 noch eine ziemlich starke – von 328.386 aus 363.472.

Woher diese eigentümliche Erscheinung bei einer so dünnen Bevölkerung? Ich behalte mir vor, sobald mir weiteres Material vorliegt, diese Frage eingehender zu behandeln. Für heute nur so viel, dass dieser Rückgang auf eine Erschöpfung des Bodens schließen lässt. Nicht, als ob zu wenig Boden mehr in den Vereinigten Staaten vorhanden wäre, aber es ist zu wenig fruchtbarer, unbebauter und günstig gelegener Boden mehr vorhanden, der bei der bisherigen extensiven, oberflächlichen Bearbeitung noch reichliche Erträge liefern könnte. Eine neue, intensivere Art der Bewirtschaftung muss eintreten; diese erfordert aber Geld Kapital, von der sind besitzlose Leute angeschlossen. Der kapitallose Farmer verschuldet, wird bankrott oder muss eine solche Arbeitslast auf sich laden, dass sich mindestens die jüngere, beweglichere Generation ihr entzieht, wo sie kann, und der Industrie oder dem Handel und Verkehr zuwendet. Die Landflucht hat auch in Amerika begonnen. Das beweist nicht den Rückgang seiner Landwirtschaft, wohl aber ihren Übergang zum kapitalistischen Betrieb. Sie wird ein mit Kapital betriebenes, kapitalistisch ausgebeutetes Gewerbe und hört damit auf, das große Sicherheitsventil zu bilden, durch das Unzufriedenheit und Verzweiflung großer Schichten des amerikanischen Proletariats abgeleitet wurden.

Überdies, je mehr dieses ein großstädtisches und großindustrielles wird, desto mehr verliert es die Fähigkeit, Landwirtschaft zu betreiben. Es gab aber 1880 bereits 186, 1900 schon 545 Städte mit mehr als 8000 Einwohnern; 1880 zählten sie 11.318.547 Einwohner (22,6 Prozent der Gesamtbevölkerung), 1900 bereits 24.992.199 (33,1 Prozent). Die Zahl der Städte mit mehr als 40.000 Einwohnern betrug 1880 45, 1900 92.

b) Der Rückgang des Arbeitslohns.

Während das Proletariat immer unfähiger zur Landwirtschaft wird und diese immer mehr in das kapitalistische Stadium eintritt, treten Industrie, Handel und Verkehr immer mehr innerhalb der kapitalistischen Betriebsform in das Stadium des privaten Monopols, des Trusts. Wir haben in einem früheren Artikel dieser Serie schon einige Beispiele davon gegeben, die Tatsachen. sind auch zu bekannt, als dass wir sie hier noch ausführlicher zu beleuchten brauchten. Mit dem Trustsystem bildet sich aber ein kapitalistischer Feudalismus, der einige Familien zu Alleinherrschern im Reiche des Kapitals macht und selbst die kleineren Kapitalisten immer mehr unterdrückt, ein Aufsteigen aus dem Proletariat in die Reihen des Kapitals aber vollends aussichtslos macht.

Gleichzeitig gestaltet sich aber durch diese Entwicklung die Lage des Proletariats selbst zu einer immer drückenderen.

Dies wird deutlich dargetan in einer interessanten Arbeit des Washingtoner Arbeitsamtes, das sicher nicht zu schwarz färbt, in seinem Bulletin vom Juli 1905. Es enthält eingehende Untersuchungen über Arbeitslöhne und Arbeitszeiten in der Industrie von 1890 bis 1904, sowie Nahrungsmittelpreise im Kleinhandel während desselben Zeitraums. Das Ergebnis des 300 Seiten füllenden Materials ist in folgender Tabelle niedergelegt, die eine Reihe von Relativzahlen gibt, wobei als die Grundlage, 100, stets der Durchschnitt der entsprechenden Zahlen von 1890 bis 1899 angenommen ist. Die Zahlen über 100 zeigen also ein Erheben über diesen Durchschnitt, die unter 100 ein Sinken unter ihn an. Die Tabelle zeigt uns folgende Entwicklung:

Jahr

Zahl der Arbeiter

Arbeits­stunden pro Woche

Lohn pro Stunde

Wochen­lohn pro Arbeiter

Preise der Nahrungs­mittel im Klein­handelD

Kaufkraft, nach den Detail­preisen der Nahrungs­mittel bemessen

des Stunden­lohns

des Wochen­lohns

1890

1891

1892

1893

1894

1895

1896

1897

1898

1899

1900

1901

1902

1903

1904

94,8

97,3

99,2

99,4

94,1

96,4

98,6

100,9

106,4

112,1

115,6

119,1

123,6

126,5

125,7

100,7

100,5

100,5

100,3

99,8

100,1

99,8

99,6

99,7

99,2

98,7

98,1

97,3

96,6

95,9

100,3

100,3

100,8

100,9

97,9

98,3

99,7

99,6

100,2

102,0

105,5

108,0

112,2

116,3

117,0

101,0

100,8

101,3

101,2

97,7

98,4

99,5

99,2

99,9

101,2

104,1

105,9

109,2

112,3

112,2

102,4

103,8

101,9

104,4

99,7

97,8

95,5

96,3

98,7

99,5

101,1

105,2

110,9

110,3

111,7

97,9

96,6

98,9

96,6

98,2

100,5

100,4

103,4

101,5

102,5

104,4

102,7

101,2

105,4

104.7

98,6

97,1

99,4

96,9

98,0

100,6

104,2

103,0

101,2

101,7

103,8

100,7

98,5

101,8

100,4

Diese Tabelle zeigt deutlich, wie wenig die Angabe von Geldlöhnen allein für die Lage der Arbeiter besagt. Diese Löhne zeigen scheinbar eine entschiedene Hebung des Proletariats an; der Wochenlohn, der 1896 etwas unter dem zehnjährigen Durchschnitt stand, erhob sich von 1896 bis 1904 um 12 Prozent über ihn, er stieg im Verhältnis von 99,5 zu 112,2. Aber unglückseligerweise wuchsen im gleichen Zeitraum die Nahrungsmittelpreise noch viel mehr, im Verhältnis von 95,5 zu 111,7, um 16 Prozent. Von 1890 bis 1896 war die Kaufkraft des Wochenlohns noch im Steigen, von 98,6 auf 104,2. Von da an sinkt sie stetig auf 100,4, dank den Preiserhöhungen der Trusts. Und im letzten verzeichneten Jahre von 1903 auf 1904, finden wir sogar ein Sinken des wöchentlichen Geldlohns von 112,3 auf 112,2, indes gleichzeitig die Nahrungsmittelpreise steigen im Verhältnis von 110,3 zu 111,7.

Dabei erscheinen in dieser Tabelle die Verhältnisse wohl noch etwas zu günstig. Es sind nur die Preise der Nahrungsmittel berücksichtigt. die Ausgaben dafür machten aber im Durchschnitt nur 42,5 Prozent der Gesamtausgaben der Arbeiterfamilie aus. Die Veränderungen der Preise anderer Erfordernisse, zum Beispiel der Wohnung, wurden nicht untersucht. Diese letzteren Preise steigen, in Europa wenigstens, noch rascher als die der Nahrungsmittel. Sollte es in Amerika anders sein? Wir vermochten darüber leider kein vergleichbares Material zu finden.

Dann aber geben die Zahlen Durchschnittsziffern für alle Berufe. In den einzelnen Berufen gestaltete sich aber der Gang der Löhne sehr verschieden. Neben einigen wenigen begünstigten Arbeiterschichten, die sehr erhebliche Lohnerhöhungen erzielten, stehen viele andere, deren Erhöhung des Geldlohns hinter dem Durchschnitt zurückbleibt. ja einige, die ein Sinken des Geldlohns aufweisen. Es wird bei den detaillierten Nachweisungen darüber nur die Bewegung des Stundenlohns, nicht die des Wochenlohns angegeben. Er bewegte sich im Durchschnitt von 1890 bis 1904 von 100,3 auf 117,0. Vergleichen wir aber damit die Angaben für einzelne Berufe, die wir aus unzähligen, 64 Seiten füllenden aufs Geratewohl herausgreifen, dann finden wir, dass zum Beispiel im Baugewerbe der Stundenlohn bei den Arbeitern an den Eisenkonstruktionen (Structural iron workers) von 93,6 auf 171,4 stieg, dagegen bei den Tagelöhnern bloß von 102,7 auf 114,3. In den Waggonfabriken bei den Möbelschreinern (cabinetmakers) von 107,6 auf 132,3, dagegen bei den Tagelöhnern von 99,7 aus bloß 106,3.

In der Baumwollindustrie nahm die Lohnbewegung bei einigen Berufen unter den männlichen Arbeitern folgende Richtungen an:


Färber

SpinnerE

Weber

1890

1891

1903

1904

106,3

107,2

107,7

104,8

111,6

89,7

185,9

169,7

113,5

103,1

118,3

115,3

Die Löhne der Färber und Weber blieben also ziemlich stabil, die der Spinner bewegten sich in den größten Extremen, zeigten aber schließlich eine starke Aufwärtsbewegung. 1904 gingen sie alle herunter.

Noch ein Beispiel aus der Gasbereitung:


Tagelöhner

RöhrenlegerF

Retortenarbeiter

1890

1891

1903

1904

98,7

98,1

99,1

101,9

102,3

102,4

103,0

101,9

98,2

97,2

100,1

-G

Hier bleiben die Löhne fast beständig auf dem gleichen Niveau, bei den Röhrenlegern stehen sie 1904 niedriger als 1890.

Erinnert man sich nun, dass wegen des starken Preisausschlags der Lebensmittel im Allgemeinen die Kaufkraft der Löhne von 1890 bis 1904 kaum gewachsen und von 1896 an gesunken war, wenn der Geldlohn pro Stunde von 100 auf 117 stieg, dann ist es klar, dass diese Kaufkraft bei der ganzen langen Reihe von Berufen seit 1890 gesunken sein muss, die kein derartiges Steigen des Geldlohns erzielten, und dass namentlich seit 1896 entschiedenes Elend, das heißt erhebliche absolute Verschlechterung der Lebenshaltung dort eintreten musste, wo die Geldlöhne stabil blieben oder gar sanken.

c) Kinder- und Frauenarbeit.

Einen deutlichen Beweis für diese zunehmende Verschlechterung der Lage breiter Schichten der amerikanischen Bevölkerung bietet die Zunahme der Kinder- und Frauenarbeit.

Die Zahl der erwerbstätigen Kinder von 10 bis 15 Jahren wuchs von 1880 bis 1900 von 1.118.356 auf 1.750.178. Sie betrug 1880 16,8, dagegen 1900 bereits 18,2 Prozent aller Kinder des gleichen Alters.

Die Zahlen für 1890 sind hier nicht zu verwenden. 1890 wurden die erwerbstätigen Kinder von 10 bis 14 Jahren gezählt, nicht die von 10 bis 15 Jahren wie 1880. 1900 zählte man beide Kategorien. Da fand man allerdings eine kolossale Zunahme der Zahl der beschäftigten Kinder von 10 bis 14 Jahren im letzten Jahrzehnt. Man zählte ihrer:

1896 603.013 8,6 Prozent

1966 1.197.344 14,8 „

Jetzt suchen die Zensusstatistiker nachzuweisen, dass die Zählung für 1890 falsch sei, dass man damals irrtümlicherweise eine Menge erwerbstätiger Kinder nicht mitgezählt habe. Sollte dies richtig sein. so bewiese das aber bloß, dass das Freudengeschrei ohne jeden Grund war, das unsere bürgerlichen und sonstigen Schönfärber anstimmten, als die Zahlen des Zensus von 1890 bekannt wurden. Damals hegten die Zensusstatistiker nicht die mindesten Bedenken gegen die Aufnahme jenes Jahres, und da sie anzeigte, dass 1890 nur 8,6 Prozent aller Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren erwerbstätig waren, 1880 dagegen 16,8 Prozent aller Kinder von 10 bis 15 Jahren, so schlossen sie daraus frischweg auf eine Verminderung der Kinderarbeit und eine auffallende Milderung der kapitalistischen Ausbeutung. Damit ist es wieder einmal nichts.

Und welche Hölle die Erwerbstätigkeit oft für die unglückseligen Kinder bedeutet, haben unsere Leser aus dem von unserem Freunde Sorge eingeleiteten Artikel über Frauen- und Kinderarbeit in den Vereinigten Staaten („Neue Zeit", XXII,1, S. 716 ff.) ersehen können.

Wie die Kinderarbeit, wächst auch die Frauenarbeit. Nicht infolge des Strebens der Frauen nach Selbständigkeit. In Amerika sind infolge der Einwanderung, die mehr Männer als Frauen brachte, die Frauen immer noch in der Minderzahl. Auf 39 Millionen Männer kamen 1900 37 Millionen Frauen. So wie der Lohnarbeiter erhielt auch die Frau in den Vereinigten Staaten einen Seltenheitswert. der ihr eine höhere Stellung verlieh als in Europa. Und wie man möglichst viel Maschinen anwandte, um Lohnarbeiter entbehrlich zu machen, so suchte man auch den Haushalt so zu gestalten, dass er möglichst wenig Arbeitskraft erforderte. Dadurch wurde vielfach die Frau im Haushalt entlastet. aber dank ihrer privilegierten Stellung und der meist guten Einkommen des Mannes brauchte sie die vermehrte Muße im Hause nicht zu einer Berufsarbeit außerhalb des Hauses zu benutzen. Die amerikanische Frau wurde nicht durch die Selbständigkeit ihres Erwerbs emanzipiert. Nirgends ist die Frau mehr Dame, mehr Luxustier, als in den Vereinigten Staaten.

So berichtet zum Beispiel Sering von den Frauen der amerikanischen Landwirte:

Nach Kleidung und Benehmen stellt die Farmersfrau eine perfect lady vor und unterscheidet sich in keiner Weise von den städtischen Ladies. Die Farmerstöchter erhalten regelmäßig auf Colleges eine höhere Ausbildung als die Söhne, welche früh einem selbständigen Gelderwerb nachgehen. Überaus selten sieht man in Amerika Frauen auf dem Felde arbeiten und kann jedes Mal sicher sein, dass die Frau zur Familie eines eingewanderten Farmers gehört" („Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas", S. 180).

Bei solchen Anschauungen muss der Zwang der Not besonders groß sein, ehe die Frau zur Lohnarbeit greift.

Auch heute ist bei den Frauen der eingeborenen weißen Amerikaner die Lohnarbeit noch weniger verbreitet als bei den aus dem Ausland stammenden Weißen und den Negern. Im Allgemeinen waren 1900 18,8 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung Frauen. Aber dieser Prozentsatz sank bei den von eingeborenen Weißen stammenden Amerikanern auf 13 Prozent, dagegen betrug er bei den Amerikanern, die von ausländischen Weißen abstammten, 21,7 Prozent, bei Einwanderern 19,1 Prozent und bei Farbigen 40 Prozent der Erwerbstätigen dieser Kategorien.

Indes bedeuteten jene 13 Prozent schon eine erhebliche Zunahme der Frauenarbeit eingeborener weißer Amerikanerinnen, denn 1890 machten sie nur erst 11 Prozent unter den Erwerbstätigen ihrer Kategorie aus.

In den letzten Jahrzehnten gestaltete sich das Verhältnis von Frauen- und Männerarbeit folgendermaßen:


Erwerbstätige Männer

Prozent

Erwerbstätige Frauen

Prozent

1880

1890

1900

14.744.942

19.312.651

23.753.836

84,8

82,8

81,7

2.647.157

4.005.532

5.319.397

15,2

17,2

18,3

Die Männerarbeit verliert also zusehends an Terrain.

d) Die Arbeitslosigkeit.

Neben der Entwicklung der Kaufkraft der Löhne und der Frauen- und Kinderarbeit gibt es aber noch einen dritten Maßstab, um die Zu- oder Abnahme des sozialen Elends der Arbeiterschaft zu messen: die Arbeitslosigkeit. Auch darüber finden wir im letzten amerikanischen Zensus bemerkenswerte Daten. Es wurden alle aufgenommen, die im Laufe des Zählungsjahres (1. Juni 1899 bis 31. Mai 1900) einmal arbeitslos gewesen waren. Das Resultat ergab folgendes Bild, dem wir die Zahlen für 1890 beifügen:


1890

Prozent der Erwerbstätigen

1900

Prozent der Erwerbstätigen

Zahl der Erwerbstätigen überhaupt

Zahl der Arbeitslosen überhaupt

Erwerbstätige im Ackerbau

Arbeitslose im Ackerbau

Erwerbstätige in freien Berufen

Arbeitslose in freien Berufen

Erwerbstätige in persönlichen Diensten

Arbeitslose in persönlichen Diensten

Erwerbstätige in Handel und Verkehr

Arbeitslose in Handel und Verkehr

Erwerbstätige in der Industrie

Arbeitslose in der Industrie

23.318.183

3.523.730

9.148.448

1.020.205

944.333

142.574

4.220.812

799.272

3.326.122

262.871

5.678.468

1.298.808

100

15,1

100

11,2

100

15,1

100

18,9

100

7,9

100

22,9

29.073.233

6.468.864

10.381.765

2.144.689

1.258.538

330.566

5.580.657

1.568.121

4.766.964

500.185

7.085.309

1.925.403

100

22,3

100

20,7

100

26,3

100

28,1

100

10,5

100

27,2

Also mehr als ein Fünftel der ganzen erwerbstätigen Bevölkerung – in der Industrie, den freien Berufen und persönlichen Diensten über ein Viertel – war im Jahre 1899 bis 1900 arbeitslos. Und offenbar ist die Arbeitslosigkeit in raschem Zunehmen. Freilich gibt der offizielle Bearbeiter des Zensus an, die Zahlen für 1890 seien nicht brauchbar, sie seien zu gering, da die Zählung eine unvollständige gewesen. Aber es ist doch merkwürdig, dass man ebenso wie bei den Zahlen über die Kinderarbeit erst 1900 zu diesen Bedenken über die Aufnahme von 1890 kommt, die man damals ohne Einwand als richtig angenommen hatte; dass man die Zahlen von 1890 erst beanstandet, nachdem man erschreckt wurde durch die kolossale Zunahme der Arbeitslosigkeit, welche die Ziffern des Zensus von 1900 anzeigen würden, wenn die von 1890 richtig wären.

Aber auf keinen Fall wird behauptet, die von 1900 seien zu hoch. Die Korrektur könnte also nur eines beweisen, dass die Arbeitslosigkeit schon 1890 eine ungemein hohe gewesen sein muss. Es ist jedoch unmöglich anzunehmen, die Zählung von 1890 sei eine so unvollständige gewesen, dass sie sich gleich um 50 Prozent geirrt. Wäre 1890 der Prozentsatz der Arbeitslosen der gleiche gewesen wie 1900, so hätte deren Zahl 5.100.000 betragen müssen, fast 1.700.000 mehr, als tatsächlich gezählt wurden (etwas über 3.500.000). So hoch kann man doch den Fehler nicht ansetzen. Die Arbeitslosigkeit ist also von 1890 bis 1900 auf jeden Fall gestiegen, wenn auch vielleicht nicht ganz in so enormem Maße, wie die Ziffern des Zensus anzeigen.

Und wer garantiert, dass man nicht im Jahre 1910 wieder herausfindet, dass auch 1900 nicht die volle Zahl der Arbeitslosen ermittelt wurde?

Dass aber 1890 die Zählung der Arbeitslosen nicht viel unvollständiger war als 1900, darauf deutet der Umstand hin dass in einer nicht unbedeutenden Anzahl von Industrien der Prozentsatz der Arbeitslosen im Jahre 1890 größer angegeben wurde als 1900.

Männliche Arbeiter

1890

1900

Bergbau

Chemische Werke

Teppichfabriken

Baumwollwaren

Trikotwaren

Wollwaren

Andere Textilarbeiter

47,9

19,5

25,6

13,2

31,5

22,0

20,7

44,3

18,5

25,0

13,1

20,3

19,5

18,7

In manchen Brauchen ist der Prozentsatz der Arbeitslosen fast unverändert geblieben, so bei den Grobschmieden 1890 12,1, 1900 13,7.

Um so größer dann freilich die Zunahme in anderen Industriezweigen. Zum Beispiel:

Männliche Arbeiter

1890

1900

Zimmerleute

Maurer

Maler und Lackierer

Glasarbeiter

Tagelöhner

Landarbeiter

Lehrer

Schuhmacher

Möbelschreiner Buchdrucker

Zinnarbeiter

Hutmacher

Schneider Wäschekonfektion

31,8

42,9

31,1

53,1

33,4

17,2

30,8

25,2

13,8

9,6

14,5

33,1

14,5

18,0

41,4

55,5

42,4

59,9

44,8

36,1

55,0

31,7

20,9

15,0

25,9

41,0

27,0

32,5

Dabei lassen aber diese Zahlen keineswegs, so entsetzlich sie auch sind, die volle Höhe der Arbeitslosigkeit erkennen. Denn der Zensus unterscheidet nur nach Berufen, innerhalb des Berufs aber nicht nach Selbständigen und Lohnarbeitern. Die Prozentzahlen geben nicht an, wie viele der Lohnarbeiter, sondern wie viele der Erwerbstätigen arbeitslos waren. Beim Selbständigen kann man aber von Arbeitslosigkeit nicht reden. Wir kommen denn auch zu weit höheren Prozentzahlen, wenn wir die Zahl der Arbeitslosen mit der der Lohnarbeiter allein vergleichen. Das ist für die Gesamtheit der amerikanischen Arbeiterschaft nicht möglich, wohl aber für 25.440 Familien mit 124.108 Köpfen. deren Verhältnisse das Washingtoner Arbeitsamt 1901 untersuchte (Cost of living. and retail prices of food. 18. Report d. Commissioner of labor. Washington 1904). Es waren ausschließlich Lohnarbeiter aus 33 Staaten. Da fand man, dass in dem einen Jahre von 24.402 Familienhäuptern nicht weniger als 12.154, also fast genau die Hälfte (49,81 Prozent), eine Zeitlang arbeitslos gewesen waren, und zwar jeder im Durchschnitt 9,43 Wochen, also über zwei Monate! Für 1419 (11,7 Prozent der Arbeitslosen) dauerte die Arbeitslosigkeit zwanzig Wochen und darüber, bis zu einem Jahre!

Am schlimmsten wurden von ihr die Ausländer getroffen. Es waren im Laufe des Jahres arbeitslos:

Abstammungsland

Prozent der Familienhäupter

Durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit

Wochen

Vereinigte Staaten

Ausland überhaupt

Irland

Deutschland

Österreich-Ungarn

Italien

Russland

48,09

52,35

51,41

54,50

57,66

65,60

66,90

9,00

10,04

10,87

9,45

9,05

10,71

11,22

Die unglücklichen Russen waren in jeder Beziehung am schlimmsten daran. Zwei Drittel von ihnen wurden im Laufe des Jahres arbeitslos, und davon jeder im Durchschnitt fast drei Monate lang!

Soweit es gestattet ist, aus den Ziffern des Zensus Vergleiche zu ziehen, die wir unten zusammenstellen und deren prozentuelle Zunahme wir berechnen, deuten sie darauf hin, dass sich auch in Bezug aus die Länge der Arbeitslosigkeit seit 1890 die Zustände ebenso verschlechtert haben wie in Bezug auf die Zahl der Arbeitslosen. Von diesen waren arbeitslos:


Männer


1-3 Monate

4-6 Monate

7-12 Monate


1890

1900


1.558.759

2.593.136

Prozent

51,6

49,6


1.179.426

2.069.546

Prozent

39,1

39,6


279.982

546.790

Prozent

9,3

10.3

Zunahme

66 Prozent


76 Prozent


101 Prozent



Frauen

1890

1900

265.106

584.617

51,9

47,1

188.992

485.379

37,0

39,1

56.515

171.496

11.1

13.8

Zunahme

120 Prozent


156 Prozent


203 Prozent


Bei den männlichen wie bei den weiblichen Arbeitslosen nimmt also verhältnismäßig die Zahl der nur durch kurze Zeit Beschäftigungslosen ab und die Zahl der schweren Fälle nicht bloß absolut sondern auch relativ zu. Bei den Männern haben die Fälle der Arbeitslosigkeit von 1 bis 3 Monaten „nur" um 66 Prozent zugenommen – gleichzeitig nahm die Bevölkerung bloß um 21 Prozent zu, die Zahl der Erwerbstätigen um 24 Prozent! Aber die Zahl derjenigen, die 4 bis 6 Monate arbeitslos blieben, wuchs von 1890 bis 1900 um 76 Prozent, und gar die Zahl derjenigen, die über ein halbes Jahr lang keine Arbeit finden, wurde verdoppelt.

Noch stärker wuchs die Arbeitslosigkeit bei den Frauen, um 120 Prozent bei den milderen, um 156 Prozent bei den schwereren Fällen von Arbeitslosigkeit, um sich bei den schwersten zu verdreifachen.

Kein Wunder, dass der amerikanische Zensus von 1900 sich mit dem Hinweis auf die Ungenauigkeit der Ziffern von 1890 begnügt und diese schamhaft verbirgt, statt sie neben die von 1900 zu stellen und es dem Leser zu überlassen, inwieweit er die Bemängelungen der Herren Zensusbeamten beachten will.

Dass die Ziffern unvollständig sind, geben wir gern zu. Aber soweit sie etwas bezeugen, ist es eine Vergrößerung und Verschärfung der Arbeitslosigkeit, und mit voller Sicherheit bezeugen sie eine geradezu unerhörte Ausdehnung derselben im Jahre 1900, einem Jahre der Prosperität in Amerika. Und man braucht sich nur ein wenig in den aus anderen Quellen stammenden Angaben über amerikanische Arbeiterverhältnisse umzusehen, um zu erkennen, dass die eben behandelten Ziffern, wie ungenau sie in einzelnen Details sein mögen, doch im Ganzen und Großen ein sehr richtiges Bild wirklicher Tendenzen geben.

So berichtet zum Beispiel Sombart in seiner schon mehrfach erwähnten Abhandlung über ein Buch (Robert Hunter, Poverty, 1904), das „hineinleuchtet in die Tiefen des amerikanischen Großstadtelends".

Der Verfasser veranschlagt die Zahl der unterhalb der Grenze der Armut lebenden Personen, also diejenigen, die in Nahrung, Kleidung und Wohnung nicht das Nötigste haben, in den Vereinigten Staaten auf insgesamt 16 Millionen in Zeiten durchschnittlicher Prosperität, wovon 4 Millionen öffentliche Arme sind. Im Jahre 1897 empfingen in New York Armenunterstützung über 2 Millionen MenschenH, 14 Prozent der Bevölkerung derselben Stadt leben in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs (1903), 26 Prozent in schlechten Zeiten (1897) im größten Elend, das heißt von ihnen weiß man es, zählt man die verschämten Armen hinzu, meint der Verfasser, so wird die Zahl der in Armut Lebenden in New York und anderen Großstädten selten unter 25 Prozent sinken. In Manhattan, dem Hauptstadtteil New Yorks, wurden 1903, also in einem guten Jahre, 60.463 Familien, das sind 14 Prozent aller Familien, aus ihren Wohnungen exmittiert. Jeder zehnte Tote wird in New York als Stadtarmer auf Potters Field beerdigt" (S. 218, 219).

Diese Ziffern zeigen dieselbe Richtung an, wie die des Zensus der Arbeitslosen.

Nimmt aber die Arbeitslosigkeit zu, so erhalten die oben mitgeteilten Daten, die einen Rückgang in der Kaufkraft der Arbeitslöhne seit 1896 anzeigen, ein noch schlimmeres Gesicht. Denn es handelt sich dort um Wocheneinnahmen des Arbeiters, berechnet nach Stundenlöhnen. Entscheidend für seinen Wohlstand ist aber nicht seine wöchentliche, sondern seine jährliche Einnahme, und die wird offenbar, bei gleichbleibendem Wochenlohn, um so geringer, je größer die Zahl der Wochen im Jahre, die ohne Arbeit, also ohne Verdienst, verbracht werden müssen.

Angesichts aller dieser Zahlen haben wir ein Recht, von einem sehr erheblichen Rückgang im Wohlstand des amerikanischen Arbeiters seit 1896 zu reden. Seine Geldeinnahmen haben abgenommen, indes gleichzeitig die Kaufkraft des Geldes gesunken ist.

10. Der Aufschwung des Kapitals

Der hier beleuchtete Niedergang des amerikanischen Arbeiters vollzog sich in einem Jahrzehnt kolossalsten wirtschaftlichen Aufschwungs, dessen Ende eine geradezu schwindelerregende Prosperitätsepoche bedeutete; in einem Jahrzehnt enormer Erhebung der Kapitalistenklasse und massenhafter Akkumulation von Kapital. In der großen Industrie allein stieg der Wert des angelegten Kapitals in diesem Zeitraum von 6524 Millionen Dollar auf 9857 Millionen, also um 3333 Millionen Dollar, das sind 14 Milliarden Mark!

Und diese Akkumulation wurde nicht etwa durch ängstliche Sparsamkeit und puritanische Einfachheit der Lebensführung erzielt. Hand in Hand mit dem Wachstum des Kapitals geht vielmehr ein geradezu wahnsinniger Drang nach Verschwendung, der alles übertrifft, was die seit Jahrhunderten an Ausbeutung, arbeitsloses Genießen und Verschwenden gewöhnten großen Ausbeuter Europas bisher auf diesem Gebiete geleistet haben. Auch dafür können wir uns auf Sombart berufen:

So viel ist außer Zweifel, dass die absoluten Gegensätze zwischen arm und reich nirgends auf der Erde auch nur annähernd so große sind wie in den Vereinigten Staaten. Vor allem weil die Reichem drüben so sehr viel reicher sind als bei uns. Es gibt sicher in Amerika mehr Leute, die 1000 Millionen Mark besitzen, als in Deutschland solche mit 100 Millionen. Wer je etwa in New Port. dem Bajä New Yorks war, wird den Eindruck erhalten haben, dass drüben die Million eine Massenerscheinung ist. Es gibt wohl keinen zweiten Ort der Welt. wo das fürstliche Palais allergrößten Stils so durchaus den Typus des Wohnhauses bildet wie dort. Und wer einmal durch die Verkaufsmagazine von Tiffany in New York geschlendert ist, der wird immer etwas wie Armeleutegeruch selbst in den glänzendsten Luxusgeschäften der europäischen Großstädte verspüren. Der Tiffanyladen, weil er gleichzeitig in Paris und London Filialen hat (eine Proletenstadt wie Berlin oder Wien kommt natürlich für derartige Geschäfte gar nicht erst in Frage), kann vortrefflich dazu dienen, Vergleiche anzustellen zwischen dem Luxus und also dem Reichtum der obersten 400 in den drei genannten Ländern. Da erzählten mir nun die Direktoren des New Yorker Stammhauses, dass von den Waren, die sie in New York feilbieten, der größte Teil zwar aus Europa stamme, wo er speziell für Tiffany New York angefertigt werde. Es sei aber gänzlich ausgeschlossen, dass ein Geschäft in Europa – auch ihre eigenen Filialen in Paris und London – Waren in solchen Preislagen führe, wie sie in New York verlangt würden. Die teuersten (mein Gewährsmann vergaß, hinzuzufügen: und die scheußlichsten) Stücke seien ausschließlich in New York an die Frau zu bringen" (S. 217, 218).

Also fabelhafte Verschwendung gepaart mit fabelhafter Akkumulation in einem Lande, dessen Bourgeoisie vor wenigen Jahrzehnten erst ökonomisch wie in ihrem Fühlen und Denken das Stadium eines strengen Puritanismus verlassen hatte! Welches Anschwellen der Ausbeutung, der Ausdehnung und dem Grade nach, setzt diese plötzliche Umwandlung voraus!

Auf der einen Seite riesenhaftes Wachstum des Reichtums, auf der anderen ebenso riesenhaftes Wachstum des Elends – wahrhaftig das Eintagsdogma des Revisionismus von der allmählichen Abschwächung der Klassengegensätze wird nirgends glänzender ad absurdum geführt; die Lehre unseres Erfurter Programms, die unsere Revisionisten schon ins alte Eisen werfen wollten, wird nirgends offenkundiger bezeugt, als in der großen Republik jenseits des Weltmeers.

So unbestreitbar und scharf tritt diese Entwicklung aus, dass sie jetzt selbst ein deutscher Professor bezeugen muss, der viel lieber für den Revisionismus Zeugnis ablegte.

Es war ein Gesinnungsgenosse dieses Professors, es war Lujo Brentano, der vor einem Menschenalter, im Jahre 1872 gegen Karl Marx die gröbsten Schmähungen ausstieß, sogar den Vorwurf bewusster Lüge erhob, weil dieser in der Inauguraladresse der „Internationale" folgenden Satz geschrieben hatte:

Geblendet durch den ,Fortschritt der Nation', umgaukelt von den Zahlen der Statistik, ruft der (englische) Schatzkanzler in wilder Verzückung aus: In den Jahren 1842 bis 1852 hat sich das steuerpflichtige Einkommen des Landes um 6 Prozent vermehrt, in den acht Jahren 1853 bis 1861 hat es im Verhältnis zum Einkommen des Jahres 1853 um 20 Prozent zugenommen. Diese Tatsache ist so staunenswert, dass sie beinahe unglaublich ist. … Diese berauschende Vermehrung von Reichtum und Macht', fügt Herr Gladstone hinzu, ,ist ganz und gar auf die besitzenden Klassen beschränkt.'"

Heute finden wir in den Vereinigten Staaten eine noch weit berauschendere Vermehrung von Reichtum und Macht – nach der Zunahme des industriellen Kapitals gemessen eine Vermehrung von mehr als 50 Prozent in einem Jahrzehnt. Aber diese weit berauschendere Vermehrung von heute ist nicht bloß ganz und gar auf die besitzenden Klassen beschränkt, sie geht Hand in Hand mit einer absoluten Verschlechterung der Lage der arbeitenden Klassen; die Fortschritte einzelner ihrer Schichten werden mehr als wett gemacht durch die Rückschritte der großen Masse. Das heißt aber, dass die soziale Lage des Proletariats, sein Anteil am Produkt der nationalen Arbeit in ungeheurem Maße zurückgegangen ist.

11. Gewerkschaft und Sozialismus

Bei alledem sind die Bedingungen, unter denen dem Revisionismus der ökonomische Fortschritt der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise gesichert erscheint, nirgends vollkommener einwickelt wie in den Vereinigten Staaten: völlige Demokratie, höchste Freiheit der Organisation und der Presse, hohe gesellschaftliche Gleichberechtigung. Trotz des Schwindens der Reserve freien Bodens ist sie noch immer nicht völlig erschöpft. Und zu alledem kommt noch eine starke Entwicklung der Gewerkschaften. Wir haben gesehen, dass von 1896 an der Rückgang des Wohlstandes der Arbeiterklasse datiert.

Gerade von diesem Datum an ist eine rasche Zunahme der gewerkschaftlichen Organisationen zu verzeichnen. Die wichtigste unter ihnen, die American Federation of Labor, der die meisten Gewerkschaften angehören, zählte 1896 272.315, 1904 dagegen 1.672.100 Mitglieder. Seitdem ist allerdings die Mitgliederzahl etwas zurückgegangen, 1905 verzeichnete man nur 1.513.200, fast 10 Prozent weniger.

Manche meiner guten Freunde werden nicht verfehlen, diese meine Feststellung dahin zu verdrehen, als meinte ich, die Gewerkschaften seien nutzlos oder hätten gar den Rückgang der Arbeiterlage verschuldet. Davon kann natürlich keine Rede sein. Aber die Entwicklung zeigt, dass eine Kraft aufgetreten sein muss, die imstande war, die Wirkungen der so kraftvoll einsetzenden gewerkschaftlichen Bewegung zu paralysieren. Und man braucht nicht weit zu suchen, um diese Kraft zu finden: Es ist der Trust, dessen Aufsteigen gleichzeitig mit dem eben erwähnten Erstarken der Gewerkschaften beginnt, der aber noch rascher als dieser seine Macht in den Vereinigten Staaten entfaltet. Er ist es, der die Preise aller Produkte direkt oder indirekt in die Höhe treibt, indes er das entsprechende Steigen der Löhne verhindert, diese mitunter sogar absolut herabdrückt.

Die Gewerkschaften verlieren dadurch nicht an Bedeutung, ja an Unentbehrlichkeit für die Arbeiterklasse, aber sie hören auf, Machtmittel zu sein, die für sich allein imstande sind, das Kapital zurückzudrängen, seine Ausbeutung zu verringern, seine Macht auszuhöhlen. Dieser Traum kann nicht mehr länger fortgeträumt werden. Durch die Gewerkschaften allein kommt bei entwickeltem Unternehmerverband die Arbeiterklasse als Ganzes nicht mehr vom Fleck. Freilich, ohne sie käme sie nur zu rasch vom Fleck, nämlich nach rückwärts; sie würde schnell alles verlieren, was sie erobert, und hoffnungsloser, absoluter Verelendung verfallen.

Wenn der Unternehmerverband die Gewerkschaft immer mehr als Mittel versagen lässt, das Kapital zurückzudrängen, so macht er sie um so unentbehrlicher für das Proletariat, soll es nicht vom Kapital völlig erdrückt werden. Ist der vereinzelte Arbeiter dem einzelnen Kapitalisten gegenüber schon im Nachteil, so versinkt er dem Unternehmerverband gegenüber in willenlose Sklaverei, vor der ihn nur die Gewerkschaft bewahren kann.

Aber die Gewerkschaften werden nicht nur immer unentbehrlicher zur Aufrechthaltung der Lage, die der Arbeiter einmal erobert hat, sie dürften auch unter den Verhältnissen Amerikas wichtig werden als Mittel zum Ausbau einer großen Arbeiterpartei mit sozialistischen Zielen.

Dass der amerikanische Proletarier unter den geschilderten Verhältnissen sozialistischem Denken immer mehr zugänglich werden muss, ist klar. Wohl stehen der sozialistischen Propaganda in den Vereinigten Staaten schwere Hindernisse im Wege; auf einige davon haben wir schon hingewiesen, so die große Zahl von Ausländern im amerikanischen Proletariat, die sich nicht bloß untereinander schwer verständigen, sondern auch unter politischen und sozialen Verhältnissen ausgewachsen sind, die von denen ihrer neuen Heimat vollständig abweichen, so dass sie sich nur schwer in die durch die amerikanische Eigenart gebotene Taktik hineinfinden, meist um so schwerer, je mehr sie schon in der Heimat politisch tätig gewesen waren und dort feste Grundsätze der politischen Praxis in sich einwurzeln ließen. Andererseits wirkt der völlige Mangel an „Revolutionsromantik", an theoretischem Sinn, an weiteren Gesichtspunkten im Durchschnittsamerikaner, sehr lähmend aus die sozialistische Propaganda und Aktion und öffnet sozialen Quacksalbern und Schwindlern Tür und Tor.

Aber andererseits geht nirgends die ökonomische Entwicklung so schnell vor sich wie in Amerika, wird die Kapitalistenklasse nirgends durch andere Zwischenschichten und Traditionen aller Art so wenig gehindert, allen ihren Trieben freiesten Lauf zu lassen, verschärfen sich nirgends die Klassengegensätze so rasch wie in Amerika.

Die Auflehnung der Massen gegen die kapitalistische Tyrannei wird nirgends so sehr geradezu erzwungen wie in den Vereinigten Staaten. Mag diese Auflehnung auch zeitweise noch recht sonderbare Formen annehmen, mag sie oft noch Demagogen aller Art in die Höhe bringen, mag auch das Anwachsen der sozialdemokratischen Partei daneben noch zeitweise ein langsames und von Rückschlägen unterbrochenes sein, schließlich müssen die Proletarier wie in Europa, so auch in Amerika zur Einsicht kommen, dass sie nur die Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms, dass sie nur die Expropriation der Expropriateure von ihrem Joche befreien kann, welches immer drückender auf ihnen lastet.

Wer die Tatsachen erwägt, die wir hier vorgeführt, wird wohl mit uns zu dem Schlusse kommen, dass auch in Amerika ein Aufblühen des Sozialismus mit Notwendigkeit zu erwarten ist, und zwar nicht erst nach einem Menschenalter, sondern schon erheblich früher. In Amerika geht alles weit rascher und gewaltsamer vor sich als in Europa. Hat uns Russland früher, als wir erwartet, das erste Beispiel eines Proletariats gezeigt, das in der politischen Revolution eines ganzen Reiches die machtvollste Triebkraft bildet, so wird uns vielleicht Amerika früher noch als Europa das Beispiel eines Proletariats zeigen, das die politischen und ökonomischen Machtmittel der Kapitalistenklasse erobert, um eine sozialistische Gesellschaft zu begründen.

AWeniger als 0,1 Prozent.

B Die Menge des in Wein, Bier und Branntwein genossenen Alkohols

C1890 bis 1902.

D Um diese Zahl zu erlangen, wurden die schon mehrfach erwähnten Haushaltungsbudgets der 2567 Familien hergenommen, die aus allen Teilen des Reiches stammten, und ihr Durchschnittskonsum an Nahrungsmitteln sowie die relative Bedeutung jedes derselben für den Haushalt ermittelt. Dies, zusammengehalten mit den Detailpreisen der Nahrungsmittel in jedem Jahre, ermöglichte dann, zu berechnen, wie viel durchschnittlich eine Familie in jedem der 15 Jahre für ihren Konsum auszugeben hatte, wenn er gleich blieb, und inwieweit diese Ausgaben über den Durchschnitt von 1890 bis 1899 stiegen oder fielen. Die absoluten und relativen Zahlen dieser Ausgaben für den Durchschnitt der 2567 Familien lauteten:

1890

1891

1892

1893

1894

1895

1896

1897

1898

1899

1900

1901

1902

1903

1904

318,20 Doll.

322,55 „

316,65 „

324,41 „

309,81 „

303,91 „

296,76 „

299,24 „

306,70 „

309,19 „

314,16 „

326,90 „

344,01 „

342,75 „

347,10 „

102,4

103,8

101,9

104,4

99,7

97,8

95,5

96,3

98,7

99,5

101,1

105,2

110,9

110,3

111,7

Der Durchschnitt von 1890 bis 1899, 310,74 Dollar, ist gleich 100 gesetzt.

EFrame spinners im Unterschied von mule spinners

FPipe fitters

GFür 1904 ist keine Zahl angegeben.

H Darunter wohl vielfache Doppelzählungen, bemerkt Sombart dazu. Es sind wohl die Fälle von eingetretener Armenunterstützung gemeint. Ganz New York zählte ja 1897 erst 3½ Millionen Einwohner.

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