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Karl Kautsky 19070227 Ausländische und deutsche Parteitaktik

Karl Kautsky: Ausländische und deutsche Parteitaktik

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 1. Band (1906-1907), Heft 22 (27. Februar 1907), S. 724-731 und 23 (6. März 1907), S. 764-773]

I

In Nr. 4 des „März" veröffentlicht Jaurès einen Artikel über „Absolutismus oder parlamentarisches Regiment", in dem er die Konsequenzen der Reichstagswahlen untersucht und zu dem Ergebnis kommt: Die deutsche Sozialdemokratie sollte „einen kühnen politischen Schritt tun, sie sollte dem bürgerlichen Liberalismus gegenüber so handeln, als ob er eine ernsthafte, aufrichtige Kraft wäre", und von ihm eine energische, demokratische Politik fordern. Dafür hätten wir zu versprechen, dass wir ihm dabei „mit der ganzem ungebrochenen Kraft des Proletariats helfen, die Anstürme der Reaktion zu bestehen. … So würde der Sozialismus die Verantwortlichkeit des bürgerlichen Liberalismus im Angesicht Deutschlands auf die Probe stellen und ihn sehr rasch nötigen, Partei zu ergreifen und nach rechts oder nach links zu rücken. Freilich wäre in solch entschlossener Taktik der deutschen Sozialdemokratie der vollständige, brutale Bruch mit dem Zentrum inbegriffen." So werden wir den Liberalismus zwingen, entweder den Absolutismus im Verein mit uns zu brechen oder „das weithin vernehmliche Geständnis seiner unheilbaren Ohnmacht, seiner Feigheit. seines Verrats abzulegen". In dem einen wie dem anderen Falle müssen wir die Vorteile davon einheimsen.

Der „Vorwärts" hat bereits zutreffend erwidert, was auf diesen Vorschlag zu entgegnen ist. Vielleicht hätte Jaurès ihn selbst nicht gemacht. wenn er zur Zeit der Abfassung seines Artikels schon gewusst hätte, dass der letzte Mohikaner der bürgerlichen Demokratie Deutschlands, Herr Th. Barth, selbst an seinen Parteigenossen verzweifelt und die Flinte ins Korn wirft, damit aber auch bereits selbst das „weithin vernehmliche Geständnis der unheilbaren Ohnmacht, der Feigheit und des Verrats" des deutschen Liberalismus ablegt. Der deutsche Liberalismus hat sich schon längst entschieden, und die Fragestellung unseres Genossen Jaurès kommt zu spät. Er wird auch kaum einen Genossen in Deutschland finden, der seine Frage wiederholen wollte.

Praktisch ist der Jaurèssche Vorschlag erledigt. Trotzdem veranlasst er uns zu einer weiteren Erörterung, denn er geht von einer Auffassung der deutschen Politik aus, die weiten Kreisen ausländischer Parteigenossen naheliegt, der Jaurès auch in Amsterdam Ausdruck gab, wo er sich darüber verwunderte, dass die deutsche Sozialdemokratie mit ihren drei Millionen Stimmen so gar keine parlamentarische Macht entwickle.

In der Tat ist zwischen der parlamentarischen Entwicklung Deutschlands und der seiner Nebenländer ein großer Unterschied merkbar: in England hat die junge Arbeiterpartei schon einen ansehnlichen parlamentarischen Erfolg errungen durch das neue Gewerkschaftsgesetz; in Österreich ist es der Sozialdemokratie gelungen, das allgemeine gleiche Wahlrecht zu erobern; und auch in Frankreich vermochte die Sozialdemokratie die Regierung bei manchen Streits zu anständigem Verhalten zu zwingen und in der Gesetzgebung große Reformen wenigstens in Fluss zu bringen – wenn auch freilich bisher ohne greifbares Resultat. in der Altersversorgung wie der Einkommensteuer, der Reform der militärischen Gerichtsbarkeit, selbst der Trennung der Kirche vom Staat. Auch da muss die Zukunft lehren, ob nicht schließlich in anderer Form der alte Zustand wiederhergestellt wird. Aber immerhin, die Reformen sind in praktisch erreichbare Nähe gerückt, indes in Deutschland die Sozialreform stockt und die Reaktion auf allen Gebieten triumphiert – gerade in dem Lande der stärksten Sozialdemokratie.

Das ist sicher eine auffallende Erscheinung, die zum Nachdenken herausfordert. Und es ist sehr wohl möglich, dass sie manchen unserer Mitläufer von uns losgelöst hat, der erwartet hatte, nun, nach dem glänzenden Siege von 1903, müsse ein neues Zeitalter der Reformen anbrechen, und der dann enttäuscht uns den Rücken wendete, als er sah, dass im Wesentlichen alles beim Alten blieb. Es fragt sich bloß, woher diese Erscheinung stammt. Ist sie ein Produkt unvermeidlicher Verhältnisse, dann müssen wir uns mit ihr abfinden und unsere wie unserer Anhänger Erwartungen danach einrichten. Wäre sie dagegen das Produkt einer falschen Taktik, dann allerdings hätten wir allen Grund, diese Taktik schleunig zu ändern.

Woher kommt es nun, dass die parlamentarische Tätigkeit der deutschen Sozialdemokratie gerade in den letzten Jahren so wenig positive Resultate aufzuweisen hat? Rührt es etwa daher, dass unsere „revolutionäre", marxistische Doktrin uns mit Verachtung für die Kleinarbeit, die Gegenwartsarbeit erfüllt? Das ist behauptet worden, im Wahlkampf wurde es uns vielfach entgegen gehalten, aber mit Unrecht. An Anträgen und Verbesserungsvorschlägen hat es unsere Fraktion im Reichstag nie fehlen lassen. Wenn sie damit nicht durchdrang, ist es nicht ihre Schuld, sondern die ihrer Gegner.

Liegt aber nicht die Verkehrtheit ihrer Taktik vielleicht darin, dass sie es zu wenig verstand, die Gegensätze, die zwischen unseren Gegnern herrschen, für sich auszunutzen? Isolierte sie sich nicht zu sehr aus Gründen eines revolutionären Doktrinarismus, infolge der Herrschaft der marxistischen Orthodoxie, und verurteilte sie sich nicht dadurch zur Unfruchtbarkeit?

Sicher ist die deutsche Sozialdemokratie politisch sehr isoliert. Ist das wirklich eine Konsequenz marxistischer Orthodoxie? Da täte man Marx sehr Unrecht. Gerade er war es, der sich am lebhaftesten gegen den Satz Lassalles sträubte, der ehedem in der deutschen Sozialdemokratie allgemeine Anerkennung fand, dass der Arbeiterklasse gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.

Gegen diesen Satz bemerkte er in seiner bekannten Kritik des Gothaer Parteiprogramms (1875):

Im Kommunistischen Manifest heißt es: ,Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr ureigenstes Produkt.'

Die Bourgeoisie ist hier als revolutionäre Klasse aufgefasst – als Trägerin der großen Industrie – gegenüber feudalen und Mittelständen, welche alle gesellschaftlichen Positionen behaupten wollen, die das Gebilde veralteter Produktionsweisen. Sie bilden also nicht zusammen mit der Bourgeoisie nur eine reaktionäre Masse.

Andererseits ist das Proletariat der Bourgeoisie gegenüber revolutionär, weil es, selbst erwachsen auf dem Boden der großen Industrie, der Produktion den kapitalistischen Charakter abzustreifen strebt, den die Bourgeoisie zu verewigen sucht. Aber das Manifest setzt hinzu: dass die ,Mittelstände … revolutionär werden im Hinblick auf ihren bevorstehenden Übergang ins Proletariat'.

Von diesem Gesichtspunkt ist es also wieder Unsinn, dass sie, zusammen mit der Bourgeoisie und obendrein den Feudalen, gegenüber der Arbeiterklasse ,nur eine reaktionäre Masse bilden'.

Hat man bei den letzten Wahlen Handwerkern, kleinen Industriellen usw. und Bauern zugerufen: Uns gegenüber bildet ihr mit Bourgeois und Feudalen nur eine reaktionäre Masse?" („Neue Zeit", IX, 1, S. 568, 569.)

Sicher hatte Marx theoretisch vollkommen recht. Trotzdem lehnten die deutschen Genossen, denen seine Kritik zuging, diese ab und blieben bei der Fassung, die sie von Lassalle übernommen hatten. Wenn sie später nicht in das Programm hineinkam, das sich die Partei in Erfurt gab, so ist dies den Bemühungen gerade der marxistischen „Dogmatiker" zuzuschreiben. Immerhin beherrscht der Satz bis heute noch das Bewusstsein unserer Partei, jener Satz, den im Gegensatz zum „Theoretiker" Marx, der „Praktiker" Lassalle geschmiedet, der „Realpolitiker", der darauf ausging, mit allen Mitteln baldigst praktischen Einfluss, praktische Macht zu erobern. Jener Satz beruhte also nicht auf allgemeinen Erwägungen der Theorie des Klassenkampfes, sondern auf lokalen, praktischen Erfahrungen, die der Politiker Lassalle gemacht hat und die nach ihm alle Politiker der deutschen Sozialdemokratie gemacht haben. Und aus ihren Erfahrungen ist die Taktik entsprungen, welche diesem Satze entspricht, eine Taktik, die keineswegs die Isolierung der Sozialdemokratie anstrebt, aber damit als einem unvermeidlichen Ergebnis rechnet und sich danach einrichtet.

Der preußische Staat wie der preußische Liberalismus sind eben ganz eigenartige Erscheinungen, die ihresgleichen in der Welt nicht wieder haben und die vom Ausland aus ebenso schwer zu begreifen sind wie etwa der österreichische Staat. der wieder ein Kuriosum anderer Art darstellt.

Von einigen Eigentümlichkeiten des preußischen Staates habe ich erst kürzlich gehandelt in meiner Artikelserie über die Situation des Reiches („Neue Zeit", Nr. 13 bis 15, namentlich Nr. 14, S. 453 ff.). Ich versuchte dort zu zeigen, wieso es gekommen ist, dass Deutschland von Preußen beherrscht wird, und Preußen von Ostelbien oder vielmehr von dessen Junkern. Hier sei das dort Ausgeführte etwas ergänzt und in Vergleich zu außerdeutschen politischen Erscheinungen gesetzt.

Das in letzter Linie entscheidende Werkzeug der Klassenherrschaft ist die Armee. Wie ganz anders ist aber die in Preußen beschaffen als in England, Frankreich, Österreich!

England kennt keine allgemeine Wehrpflicht. Dank seiner insularen Lage brauchte es kein großes stehendes Heer zur Abwehr äußerer Feinde, und das ist eine der Ursachen seiner inneren Freiheit. der Schwäche seiner Staatsgewalt dem Volke gegenüber geworden. Die Armee ist nur Kolonialarmee, besteht aus angeworbenen Lumpenproletariern, die so verachtet sind, dass der „Rock: des Königs" nichts weniger bedeutet als eine Empfehlung. Kein Offizier wird in Uniform in Gesellschaft gehen. Restaurants, die auf ihren guten Ruf halten, verbieten Soldaten in Uniform den Zutritt. Mit der allgemeinen Degeneration, die der Kapitalismus mit sich bringt, werden aber auch die kräftigen Proletarier seltener. Kraftvolle Leute finden in der Industrie große Nachfrage, sie haben es nicht nötig, in die Kaserne zu gehen. Das steigert nicht wenig die Ansprüche, aber auch die Unbotmäßigkeit der Soldaten. Fälle von Insubordination häufen sich in der Armee. Da wird diese kein Werkzeug, auf das sich eine bürgerliche Regierung mit Zuverlässigkeit stützen könnte gegenüber einer allgemeinen, wilden Entrüstung und Empörung der arbeitenden Klassen. Dies allein bildet schon ein starkes Motiv für die herrschenden Klassen, jede Politik gewaltsamer Unterdrückung zu meiden und andere Methoden zu suchen, der Arbeiterbewegung ihren Stachel zu nehmen.

Wieder anders ist die Armee in Frankreich. Wir haben da ein starkes Heer auf Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht, aber diese wurde erst vor einem Menschenalter eingeführt, nach einem unglücklichen Kriege, der alles Vertrauen zu den Offizieren untergrub. Und dem ist seitdem kein anderer gefolgt. Die allgemeine Wehrpflicht wurde überdies eingeführt zu einer Zeit. wo die sozialistische Bewegung wenigstens in Paris schon stark genug geworden war, eine Erhebung herbeizuführen, die die ganze Nation aufs Tiefste aufwühlte und in den arbeitenden Klassen den grimmigsten Hass gegen die Offiziere der Armee entfesselte, die den Bürgerkrieg als blutdürstige Schlächter beendeten.

Dabei ist die französische Kaserne seit der großen Revolution ein Ort, in dem Politik getrieben wird. Revolution und Bonapartismus haben an die Armee appelliert. nicht bloß an ihre bewaffnete Hilfe bei Putschen und Staatsstreichen, sondern auch an ihre Stimmen bei friedlichen Plebisziten.

Das hat aber auch das Offizierskorps zu einem politischen Körper gemacht, und heute zu einem solchen, der aufs Tiefste gespalten ist. Der intelligente Bourgeois wendet sich nur selten der Offizierslaufbahn zu. Am ehesten behagt diese dem Krautjunker, jener Klasse, die seit dreißig Jahren von der Majorität im Parlament und der politischen Herrschaft in Frankreich ausgeschlossen ist.

Daher wachsende Opposition im Offizierskorps gegen das herrschende Regime, die schließlich im Fall Dreyfus zu einer Explosion führte, durch die die Regierungsclique sich gezwungen sah, einerseits an die Hilfe der Arbeiterklasse zu appellieren, also auch an die der Soldaten gegen ihre Offiziere, und andererseits die Reihen der letzteren möglichst zu reinigen. So finden wir heute das französische Offizierskorps gespalten in eine klerikal oppositionelle und eine freimaurerisch regierungsfreundliche Hälfte, und darunter gemeine Soldaten voll Selbstbewusstsein, aber auch voll Misstrauen und Hass gegen ihre Offiziere.

Auch das ist keine Armee, auf die sich eine bürgerliche Regierung gegen einen proletarischen Ansturm mit Sicherheit stützen könnte. Und so wird in Frankreich wie in England die Armeeverfassung zu einem Faktor, der das herrschende Regime treibt, das arbeitende Volk, den großen Lümmel, lieber durch sanfte Lieder des Entgegenkommens einzulullen, statt ihn durch Keulenschläge zu erwecken.

Aber auch die österreichische Armee bietet dem herrschenden Regime keinen sicheren Stützpunkt mehr. Wie in der französischen wurde in ihr die allgemeine Wehrpflicht eingeführt unter dem Eindruck einer Niederlage, der kein siegreicher Krieg seitdem gefolgt ist. Und sie wurde eingeführt zu einer Zeit, wo bereits die Völker erwacht waren und heftige innere Kämpfe die Monarchie erschütterten. Freilich noch nicht proletarische Klassenkämpfe, wie in Frankreich, sondern Kämpfe der besitzenden Klassen der verschiedenen Nationen untereinander um die Staatsmacht oder doch um deren Beeinflussung, oder wo ihnen dies unerreichbar erschien, Kampf gegen den Bestand des Staates selbst. Diese Kämpfe erregen die ganze Bevölkerung ununterbrochen aufs Tiefste und desorganisieren den Staat. Um so mehr hält die am Bestand des Staates interessierte Dynastie darauf, dass wenigstens die Armee einen einheitlichen Charakter bewahrt und so das Band bildet, das den Staat zusammenhält. Das ist aber nur in der Form möglich, dass die Armeesprache eine einheitliche, die deutsche ist. Gerade das wird jedoch ein Mittel, die große Mehrheit der Bevölkerung und der Soldaten in Gegensatz zur Armeeleitung zu bringen. Waren doch in Österreich im Jahre 1900 von ungefähr 45 Millionen nur etwas über 11 Millionen Deutsche gegen fast 21 Millionen Slawen und 9 Millionen Magyaren.

Diese national so zerklüftete Armee wird aber keineswegs von einem Offizierskorps kommandiert, das durch ein einheitliches Klasseninteresse mit einer der großen herrschenden Klassen verbunden würde. Der adelige größere Grundbesitz, der gewöhnlich das ergiebigste Rekrutierungsgebiet für das Offizierskorps eines Heeres bildet, ist in Österreich zu großem Teil in den Händen von Nichtdeutschen, die sich in dem deutschen Heere nicht wohl fühlen. Andererseits ist wegen der Armut des Staates die pekuniäre Stellung des Offiziers keine glänzende. Die Politik bietet, namentlich dem ungarischen Adel, bessere Gelegenheiten, sein Glück zu machen, als der Kriegsdienst. Der Zuzug aus dem Adel reicht daher nicht aus, die Nachfrage nach Offizieren zu decken; das österreichische Offizierskorps ist, ähnlich wie die protestantischen Pastoren, eine Schicht, die sich immer wieder aus ihrem eigenen Nachwuchs ergänzt. Offiziers- und Beamtensöhne, meistens arme Teufel, lieben es, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Sie entwickeln ein sehr starkes Standesbewusstsein, aber kein Klassenbewusstsein, stehen den Klassenkämpfen mit ziemlicher Gleichgültigkeit gegenüber. Und unter dem Kommando dieser Offiziere, die vorwiegend Deutsche sind, stehen Soldaten, deren Sprache sie nicht verstehen, die in jedem Deutschen den Erbfeind des eigenen Volkes hassen; für die auch der Offizier nicht mit dem Nimbus des Siegers auf dem Schlachtfelde umgeben ist – hat doch die österreichische Armee seit dem siebenjährigen Krieg fast nur Niederlagen aufzuweisen: Das ist keine Armee, die in einem Sturm standzuhalten verspricht, der das ganze Volk aufpeitscht. Als kürzlich die Krone in lebhaften Konflikt mit Ungarn geriet, da gab es gleich eine Reihe ernsthafter Meutereien in ungarischen Regimentern. Diese dürften die Bekehrung der Krone zum allgemeinen, gleichen Wahlrecht nicht wenig beeinflusst haben.

Auf jeden Fall bildet eine derartige Armee kein verlässliches Werkzeug zur Unterdrückung einer starken Volksbewegung, was die Regierungen zu Kompromissen geneigt macht, wenn nicht gerade Lebenslagen im Spiel stehen, die einen Kompromiss nicht dulden.

Diese Neigung wird noch vermehrt durch den Charakter der Bürokratie. Neben dem stehenden Heere bildet diese überall das Werkzeug des Absolutismus. Jede Klasse, die den Staat ihren Interessen dienstbar machen will, strebt daher danach, einerseits die Bürokratie durch eine Art der Selbstverwaltung zu ersetzen, die jener Klasse ihren Einfluss sichert, andererseits sich die Bürokratie durch ein Parlament mit entsprechendem Wahlsystem zu unterwerfen. Das versuchten auch verschiedene der besitzenden Klassen Österreichs. Aber national gespalten, vermochten sie nicht die gehörige Kraft dazu aufzuwenden. Und gerade durch diesen nationalen Kampf wurden manche dieser besitzenden Klassen verschiedener Nationen geradezu Gegner des Staates, oder doch ungewollte Ursachen seiner Auflösung. So müsste sich die Bürokratie Österreichs als der den Staat zusammenhaltende Organismus mehr als die irgend eines anderen modernen Staates, nicht bloß materiell, sondern auch geistig unabhängig von den besitzenden Klassen zu machen suchen, nicht selten in Gegensatz zu ihnen treten. Je ärger die nationalen Kämpfe der besitzenden Klassen tobten und den Staat desorganisierten, desto größer konnte da die Unbefangenheit der Bürokratie gegenüber dem Proletariat und der Sozialdemokratie werden, um so mehr, da bei dem agrarischen Charakter des Staates die Gefahr der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat in weitere Entfernung rückt, so dass der den nationalen Kämpfen feindliche Charakter des klassenbewussten Proletariats und der Sozialdemokratie geradezu als staatserhaltendes Moment erscheinen kann.

Natürlich wäre es lächerlich, daraus etwa zu schließen, dass die Bürokratie nun nie in ernsthaften Konflikt mit dem Proletariat kommen werde. Sie bleibt ihrer Natur nach eine Maschinerie zur Aufrechthaltung der Herrschaft des Besitzes. Aber unter Umständen kann sie eine Konzession an das Proletariat für vorteilhaft halten, wie das erst jüngst der Fall war, und die Sozialdemokratie wäre töricht, solche Umstände nicht ausnützen zu wollen.

Anders wieder ist die französische Bürokratie, die im Wesentlichen heute noch denselben stramm zentralisierten Charakter trägt, den ihr Napoleon I. gab, der sie zu einer auserlesenen absolutistischen Herrschaftsinstitution machte. Die bürgerliche Republik hat ihr diesen Charakter nicht genommen, hat der Selbstverwaltung nur sehr kümmerliche Einräumungen gemacht. hat aber die Bürokratie der Herrschaft des Parlamentes unbedingt unterworfen. Die Mehrheit des Parlamentes setzt die Minister ein, und denen haben die Beamten unweigerlich zu gehorchen. Wir sehen eben jetzt, dass selbst ein „sozialistischer" Minister darauf besteht. dass sogar Gymnasiallehrer sich jeder freien Meinungsäußerung und jeder vom Minister nicht gebilligten Organisation zu enthalten haben, weil sie Beamte des Staates sind.

Dabei ist aber das Parlament selbst wieder in hohem Grade abhängig von der Bürokratie. Der Wahlapparat, der bei bonapartistischen Wahlen stets so sicher ungeheure Mehrheiten für die Regierung lieferte, besteht heute noch in hohem Grade fort. Wenn das Parlament die Minister nach seinem Gutdünken einsetzt, so weiß ein energischer Minister des Innern sehr wohl ein Parlament nach seinem Gutdünken zu schaffen, wenn nicht gerade eine unwiderstehliche Flutwelle das Land mit sich fortreißt und alle Wahlkünste zuschanden macht.

Die große Macht der Regierung besteht nicht bloß darin, dass ihr der Beamtenorganismus zur Verfügung steht, sondern auch darin, dass nur geringe politische, von ihr unabhängige Organisationen vorhanden sind. Bei sonst gleichen Umständen ist aber die Organisation stets der Desorganisation überlegen.

Fast alle französischen Regierungen des neunzehnten Jahrhunderts bis zur dritten Republik haben wohl einen Parlamentarismus geduldet, nicht aber größere politische Organisationen. So hat sich in den parlamentarischen Sitten Frankreichs der „Individualismus", die „Freiheit der Persönlichkeit" des Abgeordneten herausgebildet, und die Organisationsfreiheit unter der Republik hat bisher daran wenig geändert. Diese parlamentarische Tradition, die ein Jahrhundert alt und daher tief gewurzelt ist, große Kraft gewonnen hat, bildet eine der großen Schwierigkeiten, die unsere Genossen in Frankreich bei ihren Versuchen zu überwinden haben, die Abgeordneten in Abhängigkeit von der Parteiorganisation zu erhalten.

Der Mangel an geschlossenen großen Parteiorganisationen in der Bevölkerung erleichtert der Regierung die Beeinflussung der Wahlen in ihrem Sinne. Sind die Abgeordneten gewählt, so stehen auch diese ihr meist nicht in geschlossener Organisation, sondern als Individuen ohne jeden festen Zusammenhang gegenüber. Die Regierung hat nicht mit einer Partei zu tun, deren Willen sie sich fügen muss, sie hat mit einzelnen Abgeordneten zu tun, aus denen sie sich eine Mehrheit zusammenstellen muss. Macht in der Theorie die Mehrheit die Regierung, so in der Praxis die Regierung die Mehrheit – wenn nicht das bestehende Regime in allzu drastischem Gegensatz zu der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung steht.

Die Abgeordneten gewinnt man durch Konzessionen politischer oder persönlicher Art an sie selbst, ihre Freunde und Wähler. Darunter ist eine der wichtigsten die Gewährung von Beamtenposten. So wird die Bürokratie immer mehr erweitert, werden parasitische Stellen geschaffen, bloß als Mittel, um Abgeordnete zu kaufen. Machen zuerst die Staatsbeamten Abgeordnete, so dann die Abgeordneten Staatsbeamte.

Natürlich kann keine Regierung, so freigebig sie sein mag, die Zahl der Stellen und sonstigen Konzessionen, die sie für die Regierungsanhänger vergibt, ins endlose ausdehnen. Früher oder später findet sie eine Grenze, wo sie genötigt ist, die eine oder andere Forderung eines Anhängers abzuschlagen, und von da an beginnt die Abbröcklung der Mehrheit. Die Unzufriedenheit in ihr wächst, und man wartet nur noch eine passende Gelegenheit ab, um das Ministerium zu stürzen und neue Leute ans Ruder zu bringen, die gezwungen sind, durch neue Konzessionen eine neue Mehrheit zu erkaufen.

So ist dieses Regierungssystem trotz der starken Zentralisation und Unterordnung eines ungeheuren Beamtenapparats doch von ständiger Unbeständigkeit, dank dem, dass diesem einen staatlichen Organismus nicht starke, von ihm unabhängige politische Organisationen gegenüberstehen, die die „Meinungsfreiheit" der Abgeordneten etwas im Zaume halten. Es ist ein System, das mehr als jedes andere parlamentarischen Intrigen Tür und Tor öffnet und jede Regierung ständig dazu drängt, nach Unterstützung zu suchen und durch Konzessionen um Stimmen zu werben. Da kann eine geschlossene Partei wie die Sozialdemokratie, auch wenn sie klein ist, zu bedeutendem parlamentarischen Einfluss gelangen und einer Regierung, die auf ihre Stimmen angewiesen ist, wohl Konzessionen an das Proletariat abzwingen – natürlich nur unbedeutende, nur solche, die dem Ministerium nicht seine bürgerlichen Stimmen abwendig machen. Dieser Zustand ist kein sehr erhebender; aber wir können uns den Kampfplatz, auf dem wir für das Proletariat kämpfen, nicht nach Belieben einrichten, wir müssen ihn nehmen, wie er uns historisch gegeben ist, und suchen, möglichst viel für das Proletariat auf ihm herauszuschlagen. Nur dürfen wir dabei nie die innere Einheit des ganzen proletarischen Klassenkampfs außer Acht lassen, nie vergessen, dass der parlamentarische Kampf nur eine und nicht immer die wichtigste Art des proletarischen Klassenkampfes ist, und dass das Streben nach parlamentarischen Erfolgen nie Formen annehmen darf, durch die andere Arten dieses Klassenkampfes und dessen Gesamtheit geschädigt und beeinträchtigt werden.

Aber innerhalb dieser Grenzen ist es nicht nur gestattet, sondern sogar geboten, dass wir alle Kämpfe der besitzenden Klassen und ihrer Vertreter untereinander aufs Aufmerksamste verfolgen und benutzen, um Erfolge für das Proletariat zu erzielen und jenen Bestrebungen zum Siege zu verhelfen, die dem proletarischen Klassenkampf am förderlichsten sind.

Es würde zu weit führen, nun auch die englische Bürokratie zu behandeln, die minim ist. Im Gegensatz zu Frankreich haben die besitzenden Klassen Englands gerade die Selbstverwaltung – ihre Selbstverwaltung, nicht die des Volkes – sehr entwickelt und daneben keine starke Bürokratie aufkommen lassen. Andererseits aber haben sie auch, ebenfalls ganz anders als in Frankreich, einen Wahlmodus geschaffen, der nicht nur die Parteizersplitterung nicht fördert, sondern aufs Stärkste jedem Aufkommen einer neuen Partei neben den zwei alten, traditionellen Parteigruppierungen entgegenwirkt. Diese beiden Gruppen reichen in ihren Wurzeln ins siebzehnte Jahrhundert, und manches Mitglied der herrschenden Klassen wird heute noch in eine der Gruppen geradezu hineingeboren. In manchen der alten Familien sind konservative oder liberale Traditionen erblich und werden getreu bewahrt. Solche Zustände erfordern wieder eine eigene Taktik des politischen Kampfes für das Proletariat.

Ganz verschieden von den drei hier erwähnten Staatswesen, ihrer Armee, ihrer Bürokratie, ihrer inneren Staatspolitik, ist das preußische, das der Politik des Deutschen Reiches ihren Charakter aufprägt. Davon in einem zweiten Artikel.

Il

Wie die Armeen Frankreichs und Österreichs erhielt auch die Preußens die allgemeine Wehrpflicht nach einer Niederlage. Aber die Niederlage von Jena erfolgte sechzig Jahre vor der von Königgrätz, zu einer Zeit, als Deutschland noch eine fromme Kinderstube war; und wenn die österreichische wie die französische Armee heute noch als ihre letzten Erinnerungen Niederlagen aufweisen, so hat die preußische seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in vier Kriegen, die das Antlitz Europas umwandelten, fast nur Siege erfochten, von Großbeeren, Dennewitz, Leipzig, Waterloo bis Königgrätz, Metz und Sedan usw. Siege, die Triumphe des Volkes in Waffen waren, nicht bloß einer vom Volke abgeschlossenen Soldatenkaste.

Dank dieser hundertjährigen berauschenden Tradition der allgemeinen Wehrpflicht ist in Preußen der militaristische Geist tiefer in das Volk eingedrungen als in irgend einem anderen modernen Lande; seine Traditionen haben sich fest eingewurzelt und sind nur langsam und schwer durch den Aufstieg des Proletariats und die sozialistische Aufklärung zu lockern, wenn nicht gewaltige Ereignisse das Prestige der Armee in den Augen der indifferenten Massen mit einem Male zerstören.

Und die Soldaten, welche dies militaristisch gerichtete Volk liefert, werden kommandiert von einem Offizierskorps, das mehr als das eines anderen Landes eine fest geschlossene Kaste bildet, das aber nicht ein Dasein für sich führt, sondern Fleisch vom Fleische des Junkertums ist, der Klasse, die den ganzen Staat beherrscht. Nirgends fühlt das Offizierskorps so einmütig und solidarisch wie in Preußen, nirgends ist es so ein Herz und eine Seele mit der Regierung und den herrschenden Klassen. Da wird die militärische Disziplin im Offizierskorps nicht als ein von außen auferlegter Druck empfunden, sondern als ein inneres Bedürfnis, ein Ausfluss der Solidarität gegenüber der „Canaille", einer Solidarität, deren Konsequenzen man freudig auf sich nimmt. Wo eine solche strenge Disziplin oben herrscht, macht sie sich aber auch um so unerbittlicher nach unten geltend und zermalmt jede Äußerung von Selbständigkeit, die der kritische Geist des Proletariats in die Kaserne tragen mag.

Das ist bei dem heutigen Stande des Kriegswesens kein Vorteil für die kriegerische Leistungsfähigkeit der Armee. Der ununterbrochene rasche Wechsel der Kriegstechnik macht eine freie Kritik an allem Alten wie auch an allem Neuen unerlässlich, soll stets die richtige Mitte zwischen Verzopftheit und Modenarrheit eingehalten werden – freilich nicht bloß eine freie, sondern auch eine sachkundige und gewissenhafte Kritik. Das bloße Kritisieren allein ohne diese beiden Eigenschaften ist leeres Geschwätz und die Beschäftigung damit im besten Falle Zeitverlust.

Die moderne Kriegführung erfordert aber auch große Selbständigkeit und Anpassungsfähigkeit des einzelnen Soldaten in den verschiedensten unvorhergesehenen Situationen; Initiative und den Wagemut, nicht bloß sein Leben aufs Spiel zu setzen, sondern, wenn's sein muss, auch auf eigene Faust, ohne höheres Kommando zu handeln.

Kritik und Initiative werden aber in keiner Armee – wie sehen hier gänzlich ab von der russischen – mehr erdrückt als in der deutschen, gerade dank der eisernen Disziplin, die in ihr herrscht. Der rasche industrielle Fortschritt Deutschlands macht das Fehlen der Kritik zum Teil wieder wett, soweit sich's um die Entwicklung der Waffentechnik handelt. Aber gerade dieser Fortschritt erzeugt auch immer mehr ein revolutionäres Proletariat. was für die Armeeleitung wiederum ein Grund wird, den blinden Gehorsam doppelt stark zu betonen.

Das kann die Kriegstüchtigkeit der deutschen Armee nach außen erheblich beeinträchtigen, aber es macht sie zu einem wirksamen Mittel der Niederhaltung eines „inneren Feindes", solange nicht der Druck der Disziplin in sein Gegenteil umschlägt, indem er von der Masse der Soldaten als unerträglich, als ein Joch empfunden wird, das sie bei dem ersten Widerstand abzuschütteln suchen, den der Organismus der Armee findet.

Natürlich ist die Wirkung der Armee nach innen zunächst eine psychologische, nicht eine mechanische. Opposition wie Regierung rechnen mit diesem Faktor. Diese fühlt sich in Preußen unabhängiger von allen Volksströmungen als anderswo, eher gewillt, ihnen, wo sie unbequem sind, mit Gewalt als mit diplomatischen Künsten entgegenzutreten. Andererseits gehört da eine besonders furchtlose Opposition dazu, um sich mit der Regierung in einen ernsthaften Konflikt einzulassen, der für sie nur dann glücklich endigen kann, wenn es ihr gelingt, die Regierung durch eine Volksbewegung zur Kapitulation zu zwingen.

Das ist die Grundlage, auf der das beruht. was man das persönliche Regime nennt – eine keineswegs zutreffende Bezeichnung. Denn in der Regierung wie in der Armee ist die entscheidende Kraft das Junkertum, und die Tendenzen des persönlichen Regiments setzen sich nur so weit durch, als sie mit denen des Junkertums übereinstimmen, welche Übereinstimmung allerdings durch Tradition und persönliche Interessen in der Regel von vornherein bewirkt wird.

Neben der Armee stellt die Bürokratie in Preußen eine ungemein starke Macht dar; sie ist darin der französischen ebenbürtig. Aber in Preußen fehlt die Wechselwirkung zwischen Parlamentarismus und Bürokratie, welche in diese ein Moment der Unbeständigkeit hineinträgt. Sie bleibt beständig in völliger Abhängigkeit vom Junkertum und in Unterwürfigkeit gegen die Armee, die sich als die oberste Macht im Staatsorganismus fühlt. Das gilt bis tief in die Reihen der Universitätsprofessoren hinein. Demokratische oder oppositionelle Tendenzen, wie wir sie bei manchen im Staatsdienst stehenden Intellektuellen Österreichs, Frankreichs, Englands finden, kommen da nicht auf. Die gesamte vom Staate besoldete Intelligenz wirkt in Preußen nicht bloß, wie anderswo, von Amts wegen, sondern mit voller Überzeugung, ja Begeisterung darauf hin, jede Regung und Stärkung der Selbständigkeit des Proletariats und überhaupt der Volksmasse zu unterdrücken. Die preußischen Richter wie die preußischen Lehrer haben darin Schule gemacht im Deutschen Reiche, sie finden aber nicht ihresgleichen in der zivilisierten Welt außerhalb seiner Grenzpfähle.

Als in Preußen die Bourgeoisie erstarkte und sich nach ausländischem Vorbild eine liberale Bewegung entwickelte, da suchte diese natürlich, wie überall, die Staatsgewalt zu gewinnen oder doch wenigstens Einfluss auf sie zu erlangen. Aber gegenüber diesen Machtmitteln der Staatsgewalt war das eine besonders schwere Aufgabe, und es erforderte eine ausnehmend kraftvolle und kühne Bourgeoisie, die sich nicht davor scheute, den Acheron aufzuwühlen, um den herrschenden Machthabern Respekt einzuflößen.

Am günstigsten waren für sie die Jahre von 1840 bis 1864. Es war die Zeit. wo der preußische Militarismus am schwächsten dastand, die rebellischen Neigungen der preußischen Bourgeoisie am stärksten zutage traten. Für das arme, kleine Preußen mit etwa 14 Millionen Einwohnern (1840; 1860 18 Millionen) bildete es eine schwere Belastung, wenn sein Heer dem Österreichs oder Frankreichs mit etwa doppelt so viel Einwohnern (Frankreich 1840 34, 1860 37 Millionen) ebenbürtig sein sollte. Friedrich II hatte durch die Heereslast fast seinen Staat ruiniert. und dieser wäre unter ihr wohl zusammengebrochen, wenn nicht ihr Hauptgewicht auf Schlesien, Sachsen, Böhmen gefallen wäre, die aufs Schlimmste ausgesogen wurden. Nach Friedrich erfreute sich der preußische Militarismus englischer Hilfsgelder, diese hörten aber nach der Niederwerfung Napoleons auf. In der langen Friedenszeit, wo die Armee nichts zu plündern fand als das eigene Land, drückte sie schwer auf diesem und fand doch nicht die genügenden Mittel, sich zu entfalten, um so mehr als das Königtum, das jeden Parlamentarismus ablehnte, keinen Kredit zu einer Anleihe erhielt. So ging das Kriegswesen zurück, und die Untätigkeit in der langen Friedenszeit verbesserte nicht die Stimmung der Offiziere.

Aber nicht nur deren Stimmung war durch den langen Frieden gedrückt. Die Bourgeoisie ist ein widerspruchsvolles Wesen: sie schwärmt für den Frieden, brandmarkt den Krieg, ist aber von einem steten Ausbreitungsbedürfnis beseelt, wie jedes kapitalistische Geschäft sucht auch jede kapitalistische Nation ihr Ausbeutungsgebiet beständig zu erweitern. Das liegt im Wesen des Kapitalismus, das wir hier nicht weiter erörtern können. Darin findet auch die Kraft der modernen Kolonialbestrebungen ihren Grund. Nichts lächerlicher als die Versuche, sie aus dem Anwachsen der Bevölkerung, als eine natürliche Notwendigkeit, als eine Maßregel zugunsten des arbeitenden Volkes zu erklären. Nicht nur sind die Gebiete der modernen kolonialen Eroberungen alle in den Tropen gelegen, wo weiße Arbeiter gar nicht zu brauchen sind; wir finden dieses Expansionsstreben auch bei Nationen, die gar keinen Bevölkerungszuwachs haben, wie Frankreich, sowie solchen, die an zu dünner Bevölkerung des eigenen Landes leiden, wie Russland. Es ist der stete Drang nach der Ausdehnung des Ausbeutungsgebiets, nicht der Bevölkerung, was die kapitalistische Expansionspolitik hervorruft. In Österreich erzeugt sie nicht eine Kolonialpolitik, sondern die nationalen Kämpfe, dank der nationalen Unterschiede. Die deutsche Bourgeoisie bedurfte bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein der steten Ausdehnung des Staatsgebietes nicht, da Slawen und Magyaren im Lande selbst ihr ein ausdehnungsfähiges Ausbeutungsgebiet boten. Schließlich aber erhoben sich diese Nationen gegen die deutsche Ausbeutung und begannen, sich kapitalistische Ausbeuterklassen aus der eigenen Nationalität zu schaffen und die deutschen Ausbeuter in die Defensive zu drängen.

Wo es eine einheitliche, nationale Kapitalistenklasse gibt, da verlangt sie von ihrem Staate stete Erweiterung, und sie ist in der Regel zufrieden mit der Staatsgewalt, wenn sie diesem Drange entspricht. Dagegen wird sie höchst oppositionell und strebt danach, das Staatsruder selbst in die Hand zu bekommen, wenn die Staatsgewalt es an einer Ausdehnung des Staates fehlen lässt: Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die Überwindung des Absolutismus und die Begründung der politischen Herrschaft der Bourgeoisie eines jeden Staates in eine Epoche unglücklicher oder tatloser äußerer Politik fällt.

Die englische Bourgeoisie trug willig das Joch des Absolutismus der kriegerischen Elisabeth. Sie wurde rebellisch, ja republikanisch unter den Stuarts, die Frieden mit Spanien, Frankreich, den Niederlanden hielten, und sie zeigte ihre wahre Natur unter dem kriegerischen Regime Cromwells.

So erwuchs auch die bürgerliche Opposition in Frankreich, als auf Ludwiga XIV. Regierung, die das Land in blutigen Kriegen erweiterte, zwei Ludwige kamen, unter denen es fast seine ganzen Kolonien in unglücklichen Kriegen verlor. Und in Russland haben wir erst jüngst gesehen, dass von einer bürgerlichen Opposition kaum etwas zu merken war, solange die Regierung das Staatsgebiet stetig erweiterte. Bis zum japanischen Kriege war die Opposition gegen den Absolutismus fast ausschließlich proletarischer, sozialistischer Natur. Erst als der militärische Zusammenbruch in diesem Kriege für Jahre hinaus aller Expansionspolitik ein Ende machte, kam die Bourgeoisie zur Einsicht, dass die Regierung unter ihre Kontrolle gebracht werden müsse. Erst von da an wurde der russische Liberalismus plötzlich eine Macht.

Dem preußischen Staate hatte es bis zum Wiener Kongress 1815 an ständiger Ausdehnung nicht gefehlt. Die Bourgeoisie Preußens durfte in der Beziehung mit ihrer Staatsgewalt zufrieden sein. Aber nun kam die lange Friedenszeit. und da gewann auch der preußische Bourgeois Zeit und Gelegenheit, die Mängel des Absolutismus zu entdecken und drückend zu empfinden. Er wurde oppositionell und liberal.

Als aber der Februarsturm in Paris losbrach, im März dann die Kleinbürger und Proletarier von Berlin aufstanden und das Königtum auf die Knie niederzwangen, da jubelte der preußische Liberalismus gar wenig auf! Vielmehr fuhr ihm ein gewaltiger Schreck in die Glieder ob dieser Kraftentfaltung des „Pöbels", und seine erste und größte Sorge war die, ihn vor weiteren „Ausschreitungen" zu bewahren und das Königtum zu schützen. Das ist ihm auch nur zu gut gelungen. Vom 18. März 1848 an herrschte in Berlin fast immer Ruhe. Mochte aus den anderen Revolutionsschauplätzen noch so verzweifelt gekämpft werden, Berlin blieb ruhig. In Wien kam es im Mai zu Unruhen, die die kaiserliche Familie nach Innsbruck verjagten; im Oktober zu einer Insurrektion, die nur nach langen, blutigen Kämpfen, die Tausende von Menschenleben kosteten, niedergeworfen werden konnte. Die Berliner Bürger dagegen hießen wenige Tage darauf Wrangel herzlich willkommen, der mit seinen Truppen die Stadt besetzte und dabei heftigen Widerstand erwartet hatte. Im nächsten Jahre wurde in Dresden, im Badischen gekämpft und preußische Truppen ausgesandt, diese Erhebungen niederzuschlagen. Auch da kein Versuch, den Auszug der Truppen zu hindern.

Die bürgerliche Demokratie hatte sich im Jahre 1848 überall verräterisch und feige benommen, aber nirgends mehr als in Preußen.

Mit dem Beginn der sechziger Jahre nahm die internationale Reaktionszeit ein Ende, die der Niederschlagung der Revolution gefolgt war. In ganz Europa erwachten die Völker, der Liberalismus, ja Republikanismus erstarkte allenthalben. Davon blieb Preußen nicht unberührt. Und dort war die Situation für den Liberalismus damals besonders günstig, da die Mobilisierung von 1859 die völlige Unzulänglichkeit des Heeres dargetan und die Monarchie seit 1849 sich ablehnend gegen die preußischen Expansionsbedürfnisse gezeigt hatte. Dringender als je schien es damals der Bourgeoisie geboten, die Staatsgewalt der Kontrolle der Bevölkerung zu unterwerfen. Aber um die nötige Kraft dazu zu finden, musste der Liberalismus auch alle Volkskräfte entfesseln, musste er das Banner des allgemeinen Wahlrechtes entfalten und musste er seine ganze Wucht auf den Kampf gegen den königlichen Absolutismus konzentrieren. Aber dem Liberalismus bangte auch diesmal wieder vor dem Proletariat, er lehnte es ab, sich für das allgemeine Wahlrecht ins Zeug zu legen, hielt fest an dem Dreiklassenwahlsystem, das die Reaktion eingeführt hatte. Und gleichzeitig mit dem Kampfe um Beschränkung des Absolutismus und Militarismus begann er eine Agitation für die gewaltsame Entfernung Österreichs aus Deutschland und dessen Zusammenfassung unter der preußischen Pickelhaube, eine Aufgabe, die aber nicht wieder, wie 1848, gelöst werden sollte durch eine Erhebung der Völker, sondern durch die vom Königtum geführte preußische Armee. Das war jedoch nicht möglich ohne Stärkung der Armee und des Königtums, und jeder Schritt in dieser Richtung musste der bürgerlichen Opposition den Boden unter den Füßen entziehen. Diese verfolgte damals dieselbe Politik, die uns jetzt Calwer als Sicherung gegen jegliche Niederlage empfiehlt. So wie dieser die Kolonialpolitik für nützlich und notwendig hält, aber der Regierung aus Misstrauen und nebensächlichen Bedenken die Mittel zu ihrer Durchführung verweigern will, so forderten die Fortschritte damals eine „nationale" Politik des preußischen Königtums und lehnten aus „demokratischen" Bedenken die Bewilligung der dazu erforderlichen Mittel ab.

Durch diese famose Politik hat der preußische Liberalismus sich sein eigenes Grab gegraben. Die für ihn günstigste historische Situation endete mit seinem völligen Zusammenbruch.

Seitdem kann von einer bürgerlichen Demokratie als ernsthafter politischer Macht in Preußen nicht mehr die Rede sein.

Woher kommt das? Sicherlich wäre es töricht, hier Rassenpsychologie zu treiben und die ausnehmende Feigheit ins preußischen Liberalismus aus dem Volkscharakter erklären zu wollen – aus dem Charakter jener Nation, die seit zwei Jahrhunderten mehr Siege auf dem Schlachtfeld erfochten hat als irgend eine andere. Diese Feigheit kann nur aus besonderen gesellschaftlichen Verhältnissen zu erklären sein.

Der ganze osteuropäische Liberalismus ist feiger als der westeuropäische schon deswegen, weil er sein Ringen um die Macht mit dem Absolutismus zu einer Zeit begann, wo in England und Frankreich schon das Proletariat sich selbständig gemacht hatte und als ernsthafte Gefahr für die Bourgeoisie aufgetreten war. Die Proletarier und die ihnen nahestehenden Schichten des Kleinbürgertums waren aber stets die Kämpfer gewesen, die die Schlachten für den Liberalismus durch Einsetzung des eigenen Lebens entschieden hatten, wenn es einmal zu einer gewaltsamen Entscheidung gekommen war. Die Bourgeoisie Englands und Frankreichs hatte gelernt, den revolutionären Elan des Proletariats für sich auszunutzen, und als dieser begann, ihr unbequem zu werden, war sie bereits zur Macht im Staate gelangt, bedurfte sie keiner Revolution mehr.

Ohne die Hilfe des Proletariats hat noch keine Bourgeoisie die politische Macht erobert, sie verzichtet aber auf diese Hilfe, wo ihr das Proletariat als selbständige Macht entgegentritt. Angstvoll blickt sie stets nach dem Proletariat zurück, das sie vorwärts zu treiben sucht, wie könnte sie in dieser Situation Tapferkeit gegenüber Absolutismus und Feudalismus entwickeln?

Aber zu diesem allgemeinen Moment der Furchtsamkeit jedes osteuropäischen Liberalismus gesellten sich noch besondere für den preußischen. Der Staat war bis in die sechziger Jahre hinein kein einheitliches Gefüge, so auch nicht sein Liberalismus. In den Rheinlanden trug ihn ein starker industrieller Kapitalismus, der sich eben noch unter französischem Regime sehr wohl befunden hatte, schutzzöllnerisch und arbeiterfeindlich war. In Ostpreußen wieder trugen ihn Handelskapital und landwirtschaftliches Kapital, die beide durch den Getreidehandel nach England groß geworden waren, beide von der industriellen Arbeiterbewegung nicht berührt wurden, die auf das flache Land noch nicht zurückwirkte. Unter dem Einfluss englischen Denkens stehend war dieser Liberalismus freihändlerisch und arbeiterfreundlich.

Beide, Ostpreußen und die Rheinlande traten in Gegensatz zur Zentralregierung, die ihren Interessen nicht Rechnung trug. Und dieser stand noch gegenüber der Liberalismus der Residenz, der sich vornehmlich auf Kleinbürgertum und Intelligenz stützte, die stark von der Bürokratie beeinflusst war; er war schwankend, wie diese Schichten, ohne starke ökonomische Interessen hinter sich, dagegen voll ideologischer Schrullen und Illusionen. Und gerade in ihnen war das monarchische Bewusstsein ungemein lebendig. Ich habe in meiner schon erwähnten Artikelserie gezeigt. dass die Interessen der Hohenzollern und die der deutschen Einigung, wie sie die Bourgeoisie auffasste, in vielem parallel liefen. Wir haben auch gesehen, dass gerade die Hohenzollern seit der Begründung des Königtums dem Expansionsbedürfnis der Bourgeoisie in der Regel sehr genügten – das alles gewöhnte namentlich die Bourgeoisie der zentralen Provinzen Preußens und der Residenz daran, die Erfüllung aller ihrer historischen Ausgaben von der Dynastie zu erwarten, auf diese zu hoffen und zu bauen. Der Byzantinismus der Bourgeoisie Preußens ist nicht bloß, wie der anderer Länder, ein Ausfluss konventioneller Höflichkeit und berechnender Streberei, sondern ein Herzensbedürfnis.

Das waren nicht Elemente, die imstande gewesen wären, einer so starken und rücksichtslosen Klasse, wie dem preußischen Junkertum, ein so starkes Machtmittel wie die preußische Armee, zu entwinden und sich dienstbar zu machen.

Die Entwicklung seit den sechziger Jahren hat darin aber keine Besserung gebracht. Im Gegenteil. Drei glückliche Kriege, die Preußen zu einer Europa beherrschenden Macht erhoben, haben den Glauben der Bourgeoisie an das Hohenzollerntum ungemein verstärkt und die Armee moralisch und materiell gekräftigt. Dank seiner Einigung schreitet das Deutsche Reich ökonomisch weit schneller vorwärts als irgend ein anderes Europas, und kann es die Lasten der Armee, die es in den vierziger und fünfziger Jahren erdrückten, leichter tragen als mancher andere Großstaat. Wohl seufzt auch das deutsche Volk schwer unter dieser Bürde, aber es wird durch sie doch nicht so erdrückt wie etwa das Italiens, Österreichs oder gar Russlands.

Gleichzeitig sind die arbeiterfeindlichen Industrieherren der Rheinlande zu mächtigen Magnaten geworden, die auf die staatliche Zentralgewalt durch ganz andere Mittel einzuwirken wissen wie den Parlamentarismus. Die Landwirte Ostpreußens haben sich zum Schutzzoll bekehrt. und die Leutenot macht sie zu wütenden Feinden jeder Arbeiterbewegung, jeder Volksfreiheit. Und in der Reichshauptstadt werden die Liberalen ständig zurückgedrängt durch die Sozialdemokratie, die ihnen auch dort immer mehr als der Hauptfeind erscheint. Da ist es klar, dass der ehedem schon dem Volke mit Misstrauen gegenüberstehende Liberalismus, der sein Vertrauen in seinen König setzte, heute mehr als je von jedem wirklich demokratischen Empfinden fern ist und jubelnd die Gelegenheit benutzt, die ihm Bülow bietet, sich in das konservativ liberale Bündnis zu stürzen und jenes Wort von der „reaktionären Masse" auch äußerlich zur Wahrheit zu machen, das für das Seelenleben des preußischen Liberalismus schon längst gegolten hat. Seit der Beherrschung Deutschlands durch Preußen ist dann auch der außerpreußische Liberalismus immer mehr den Weg in dieser selben Richtung gegangen.

Trotzdem hat die deutsche Sozialdemokratie nie die Konsequenz des Wortes von der „reaktionären Masse" in dem Sinne gezogen, dass sie blind gewesen wäre für die Differenzen innerhalb der besitzenden Klassen und bürgerlichen Parteien und nicht gesucht hätte, daraus praktische Vorteile für das Proletariat zu gewinnen. Aber dabei hat sie nur zu oft den Liberalismus sich gegenüber und die Gegner des Liberalismus an ihrer Seite gefunden. So verweigerte der preußische Liberalismus, wie wir gesehen, den Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus damals, wo er Erfolg verhieß. Es war Bismarck, der es für den Reichstag im Gegensatz zum Liberalismus gab.

Mehr als einmal aber war es das Zentrum, das im Gegensatz zum Liberalismus der Sozialdemokratie in der Verteidigung oder Gewinnung von Volksrechten beistand. So erst jüngst in Bayern, wo die Liberalen sich der Wahlreform hartnäckig widersetzten und so die Sozialdemokratie zwangen, diese im Bunde mit dem Zentrum zu machen.

Das ist übrigens eine Erscheinung, die nicht auf Deutschland beschränkt ist. Auch in Österreich ist unter die Faktoren, die es ermöglichten, dass der Ansturm des Proletariats zur Wahlreform Erfolg hatte, die Mitwirkung der Christlichsozialen zu rechnen, während gerade aus dem liberalen Lager die zähesten und giftigsten Feinde der Wahlreform kamen.

Natürlich überschätzen wir diese demokratischen Anwandlungen des Ultramontanismus nicht. Wir kennen sehr wohl dessen Grundsatzlosigkeit, die ihn für ein demokratisches Wahlrecht nur dort eintreten lässt, wo er sofortigen praktischen Nutzen daraus zieht. Dieselben Christlichsozialen, die für den österreichischen Gesamtstaat, in dem die agrarischen Elemente überwiegen, das allgemeine gleiche Wahlrecht akzeptierten, lehnen es ab nicht bloß für den Gemeinderat von Wien, sondern auch für den Landtag von Niederösterreich, weil ihnen da das industrielle Proletariat zu stark erscheint.

Wir wissen sehr wohl, was wir vom Zentrum zu halten haben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Liberalismus bei uns in Fragen der Demokratie noch weit unzuverlässiger und arbeiterfeindlicher ist als der Ultramontanismus, und dass uns daher die Verteidigung der Volksrechte öfter an die Seite des Zentrums als an die des Liberalismus drängt. Nicht die Vorliebe für das Zentrum, sondern der Verrat des Liberalismus an der Demokratie zwingt uns dazu.

Wollte die deutsche Sozialdemokratie sich verpflichten, nie und unter keinen Umständen auf derselben Seite mit dem Zentrum zu stehen, so würde sie sich der ohnehin so geringfügigen letzten Möglichkeit berauben, aus den politischen Gegensätzen der bürgerlichen Klassen Nutzen für das Proletariat zu ziehen. Sie würde ihre drei Millionen Stimmen zu noch größerer parlamentarischer Unfruchtbarkeit verurteilen, als die gegebene historische Situation ohnehin mit sich bringt.

Diese parlamentarische Unfruchtbarkeit bedeutet indes keineswegs Kraftlosigkeit. Außerhalb des Reichstags ist die Kraft des deutschen Proletariats in rascher Steigerung begriffen. In keinem Lande wachsen zum Beispiel die Gewerkschaften, wächst die sozialdemokratische Presse in dem gleichen Tempo wie in Deutschland. Aber auch im Reichstag besitzt die Sozialdemokratie eine weit größere Bedeutung als bisher die sozialdemokratische Fraktion irgend eines anderen Landes. Eben wurde sie angeblich „niedergeritten", sie wurde fast auf die Hälfte reduziert, und doch drehen sich mehr als je die Verhandlungen und die Politik des Reichstags um die Sozialdemokratie. Es geht ihr wie den Theorien von Marx. Je mehr man sie totschlägt, desto furchtbarer erscheint sie, desto mehr spannt man alle Kräfte an, sie zu widerlegen und zu bekämpfen.

Die parlamentarische Machtlosigkeit, zu der die Sozialdemokratie durch die reaktionäre Masse immer mehr verurteilt wird, schlägt aber keineswegs zum Vorteil des Volkes und der Gesellschaft aus. Je mehr die angeblich so unfruchtbare Sozialdemokratie im Parlament an Macht verliert, desto unfruchtbarer wird die ganze Gesetzgebung und Staatsverwaltung. Denn wie das Proletariat heute die einzige revolutionäre Klasse ist, die einzige mit großen Zielen jenseits der bestehenden Gesellschaft, so ist die Sozialdemokratie dem entsprechend die einzige Partei, die an der Fortentwicklung der Gesellschaft ein lebhaftes Interesse hat. Die anderen Klassen und Parteien wollen nichts als das Bestehende erhalten, befestigen, ihren Sonderwünschen besser anpassen. Soweit noch Fortschritte zugunsten der arbeitenden Klassen und der gesellschaftlichen Entwicklung vollzogen werden und die Staaten nicht in bloßer Förderung des Militarismus, Erfindung neuer Steuern und auswärtiger Expansionspolitik aufgehen, verdanken sie dies nur dem steten Antrieb des klassenbewussten Proletariats. Je mehr dieser fehlt, desto mehr herrscht allgemeine Stagnation auf allen Gebieten.

So muss die aus dem Zusammenschluss der bürgerlichen Parteien hervorgehende parlamentarische Unfruchtbarkeit der Sozialdemokratie notwendigerweise Zustände erzeugen, die steigende Unzufriedenheit, steigende Unzulänglichkeit des Staatswesens und schließlich allgemeine Empörung der gesamten Volksmassen gegen dieses herbeiführen, die sich dann um so begeisterter um die Sozialdemokratie scharen müssen, je weniger Konzessionen sie dem herrschenden System macht, je entschiedener sie in Gegensatz zu ihm steht.

Nur auf solche Weise kann sie schließlich dieses System überwinden, die Demokratie begründen und die Möglichkeit fruchtbaren parlamentarischen Wirkens für sich selbst schaffen. Auf den Liberalismus kann sie dabei nicht bauen, und auch mit dem Zentrum wird sie immer seltener noch zusammen wirken können. Sie sucht nicht die Isolierung, aber sie muss sich im Deutschen Reiche darauf einrichten, allein gegen die Gesamtheit der bürgerlichen Parteien zu kämpfen, allein gegen sie den Sieg zu erringen.

Eine schwere Aufgabe unter den gegebenen Verhältnissen, aber keine, an der wir zu verzweifeln haben, solange wir dafür sorgen, dass wir einen mächtigen Verbündeten behalten, der mehr wert ist als die Hilfe irgend einer bürgerlichen Partei: die Logik der Tatsachen.

Diese ist mächtiger als jeder Einzelwille, ihr muss sich schließlich jede Klasse beugen, an ihr zerschellt jede Gewalttat. Wer die Logik der Tatsachen für sich hat, das heißt, wer in jener Richtung arbeitet, die durch den Zwang der ökonomischen Bedingungen für die Gesellschaft naturnotwendig gegeben ist, der wird zum Schlusse immer Recht behalten, er wird derjenige sein, der zuletzt lacht, mögen auch Unverstand und Sonderinteressen noch so gewaltige Hindernisse gegen ihn auftürmen.

Und darin besteht eben die praktische Bedeutung der Theorie, dass sie uns die Richtung erkennen lässt, in der die Logik der Tatsachen geht. Sie ist nicht bloßer Aufputz, der zeigen soll, dass auch wir gebildete Leute sind, die etwas auf Gelehrsamkeit halten; sie ist eine Notwendigkeit des praktischen Kampfes, doppelt notwendig in einem Lande wie Deutschland, wo wir so große und starke Feinde zu überwinden haben, wo wir uns weniger als anderswo den Luxus erlauben dürfen, erst durch bittere Erfahrungen klug zu werden, wo wir mehr als anderswo jeden Fehler, jede Kraftverschwendung vermeiden müssen: und gerade das ist es, wozu uns eine wissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft am ehesten verhilft. Nirgends ist das Proletariat isolierter als in Deutschland, nirgends stehen ihm seine Feinde geschlossener und machtvoller gegenüber. Um so dringender bedarf es der Einigkeit in den eigenen Reihen auf Grund theoretischer Klarheit.

Die Situation ist ernst, aber nichts weniger als verzweifelt.

Es ist nicht nur die ökonomische Entwicklung, die für uns wirkt und die Zahl der Proletarier immer mehr zunehmen lässt. Dieselbe Entwicklung bringt auch Konflikte und Krisen der mannigfachsten Art mit sich, denen nur ein gefestigtes Staatswesen standhält, in denen ein Regierungssystem von allgemeinstem Vertrauen getragen werden muss, will es sich behaupten. Je mehr aber die bürgerlichen Parteien sich gegen die Sozialdemokratie zusammenschließen, desto mehr lähmen sie sich gegenseitig selbst, desto mehr nehmen sie sich die Möglichkeit zu der geringsten Reformtätigkeit. Jetzt schon, unmittelbar nach dem Siege, werden die Sieger ihres Triumphes nicht froh, fragen sie bange, was daraus werden soll. Soweit diese Majorität überhaupt imstande ist, positiv zu wirken, kann sie nur eines schaffen: Unheil.

Dieser Reichstag wurde geboren in einer Zeit der herrlichsten Maienblüte für die Gesamtheit der besitzenden Klassen: die Fleischteuerung füllte die Taschen großer und kleiner Landwirte, indes der gleichzeitige industrielle Aufschwung große und kleine Kapitalisten entzückte. Und dabei atmeten alle Machthaber erleichtert auf, weil sie dachten, die russische Revolution liege in den letzten Zügen.

Aber dieser sonnige Blütentraum geht einem raschen Ende entgegen. Schon beginnen die Eisenpreise zu weichen und die Bautätigkeit stockt. ein Zeichen, dass die Prosperität auf ihrem Höhepunkt angelangt ist und wahrscheinlich kaum noch ein Jahr lang anhält. Auch der agrarische Jubel wird bald ein Ende nehmen, denn jede Preissteigerung der Rohprodukte führt zu einer Erhöhung der Güterpreise, der Güterverschuldung (durch Erbrecht, Kauf usw.), führt zu einer erhöhten Belastung der Landwirtschaft. Nicht bei absolut hohen, sondern bei steigenden Preisen fühlt sich der Landwirt wohl. Ins Unendliche können aber die Preise nicht steigen; jene Preise, von denen allein die Masse der kleinen Grundbesitzer Vorteil hat, dürften schon ihren Gipfelpunkt erreicht haben, und damit wird das Geschrei über die Notlage der Landwirtschaft und wird die wirkliche Notlage der kleinen Landwirte wieder beginnen.

Und dabei zeigen die Dumawahlen, wie schlecht berichtet jene waren, die da wähnten, das russische Volk sei eingeschüchtert und der Revolution müde. Mit ungebrochener Kraft steht es da und bietet dem Absolutismus von neuem den Kampf an.

Die gewaltigsten Aufgaben werden an den Reichstag herantreten, und er wird dabei um so eher versagen, sich um so mehr zur Unfruchtbarkeit verdammen und allgemeine Empörung gegen sich und die Regierung erregen, je mehr er der Aufforderung Bülows nachzukommen sucht, immer höhere Dämme und Deiche gegen „die trüben Gewässer der Sozialdemokratie" aufzuführen.

Das Gewässer der Sozialdemokratie, das ist nichts anderes als der ungeheure Strom der gesellschaftlichen Entwicklung. Wohl ist er mitunter trübe, denn durch den dicksten bürgerlichen Schlamm und Unrat hat er sich seinen Weg zu bahnen. Aber aufhalten lässt er sich nicht. Möge Fürst Bülow Dämme gegen ihn aufführen, mögen die Liberalen sich glücklich schätzen, auch einige Handlangerdienste dabei verrichten zu dürfen – je höher die Dämme, desto höher staut sich der Strom, desto gewaltiger die Flut, die schließlich den Damm zerreißt und dessen Erbauer mit sich fortschwemmt, Architekten und Handlanger.

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