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Karl Kautsky 19061224 Die Situation des Reiches

Karl Kautsky: Die Situation des Reiches

1. Die internationale Lage

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 1. Band (1906-1907), Heft 13 (24. Dezember 1906), S. 420-428, Heft 14 (2. Januar 1907), S. 453-461, und Heft 15 (9. Januar 1907), S. 484-500]

So lange das neue Deutsche Reich besteht, haben noch nie Reichstagswahlen in einer Situation stattgefunden, die so voll von Konfliktstoffen, so gefahrdrohend und unheilverkündend gewesen wären, wie die, unter der sich die jetzigen, so überraschend gekommenen Wahlen vollziehen. Wohl mögen frühere Wahlen unter größerer Erregung der Bevölkerung vor sich gegangen sein, so die von 1878, nach den Attentaten auf den alten Kaiser, vor der Ächtung der Sozialdemokratie durch ein Ausnahmegesetz, oder die von 1887, als Bismarck einen großen Teil der Bevölkerung in den Glauben zu versetzen wusste, ein Krieg mit Frankreich stehe vor der Tür. Weit geringfügiger ist diesmal die Ursache der Auflösung: die Verweigerung eines kleinen Kolonialkredits, und doch kann der Ausfall der Wahl weit ernstere Folgen, selbst als die von 1878, nach sich ziehen, kann diese Wahl der Anfangspunkt eines Kampfes werden, in dem schließlich noch weit mehr zusammenbricht, als ein Ausnahmegesetz und eine Reichskanzlerschaft.

Noch nie seit seinem Bestehen war das Deutsche Reich in einer so verworrenen und heiklen Situation wie jetzt; noch nie bedurfte seine Regierung so sehr wie diesmal einer besonnenen, weitsichtigen, konsequenten Politik, noch nie hat es ihr mehr daran gefehlt.

Schon die äußere Lage des Reichs ist eine ungemein ungünstige. Als es gegründet wurde, stand es in gewaltiger Machtfülle da, nicht bloß durch den Glanz seiner Waffen, die soeben in wenigen wuchtigen Streichen das bonapartistische Kaisertum zerschlagen und dann in zähem, blutigem Ringen die französische Republik zu Tode erschöpft hatten. Frankreich brauchte es für lange Zeit nicht mehr zu fürchten, aber noch mächtiger ward es dadurch, dass es außerhalb Frankreichs keinen Feind besaß.

England stand unter den Weltmächten in freiwilliger Isolierung da. Noch herrschte die Ära des Freihandels, in der der Abschluss eines liberalen Handelsvertrags für eine weit nützlichere Tat galt, als der Gewinn einer Kolonie. Keine Macht dachte damals daran, neue Kolonien zu erwerben, so kam auch England mit keiner Macht Europas in Konflikt, ausgenommen Russland, dessen Fortschritte in Zentralasien es Indien bedenklich näher brachten, indes seine Wühlarbeit in der Türkei, die auf die Erwerbung Konstantinopels hinzielte, ihm die Beherrschung des östlichen Mittelmeeres und damit des kürzesten Seewegs nach Indien zu verleihen drohte. Russlands Vordringen aufzuhalten, war die wichtigste Aufgabe der englischen Regierungen; die Konservativen suchten dies durch die Gewalt der Waffen, die Liberalen durch freundschaftliche Vereinbarungen zu erreichen. Die anderen Mächte Europas aber kümmerten England sehr wenig, solange es mit ihnen günstige Handelsverträge erreichte. Die Seemacht konnte ebenso wenig in die Verhältnisse der Landmächte eingreifen, wie diese der Seemacht gefährlich werden konnten. England hatte von ihnen wenig zu erwarten, und konnte ihnen wenig bieten, blieb ihnen daher fern und gefiel sich in „glänzender Isolierung".

Mit Italien und Russland verband Preußen alte Freundschaft, die auf das neue Reich unter preußischer Führung übertragen wurde. Blieb nur der Gegensatz zu Österreich, das 1866 von Preußen geschlagen worden war. Aber es bildete vielleicht die meisterhafteste Leistung Bismarckscher Politik, dass sich Preußen damals mit der Hinausdrängung der habsburgischen Monarchie aus Deutschland begnügt und ihr keinen Gebietsverlust auferlegt hatte. Daher verschmerzten die Habsburger leichter die Misserfolge ihrer Waffen, eine für sie nicht ungewohnte Erscheinung, und waren glücklich, die dargebotene Freundeshand des mächtigen Siegers ergreifen zu dürfen.

So waren nach 1870 die Großmächte Europas entweder mit Deutschland befreundet und verbündet oder isoliert und zu Lande machtlos.

Aber das dauerte nicht allzu lange. Schon 1873 setzte eine gewaltige internationale Wirtschaftskrise ein, die mit unerhörter Heftigkeit ganz Europa erschütterte und bis zum Ausgang der achtziger Jahre eine Art chronischer Überproduktion herbeiführte. Alle industriellen Nationen begannen auf dem Weltmarkt eine Schleuderkonkurrenz, bei der England ihnen den Rang ablief. Die Industriellen der anderen Nationen erhoben immer lebhafter den Ruf nach dem Schutz ihrer Fabrikate vor der englischen Konkurrenz. Gleichzeitig trat aber immer stärker Amerika auf dem Weltmarkt als Lieferant von Lebensmitteln, namentlich Getreide, auf; andere überseeische Länder – Indien und Australien – folgten, indes auch die Getreideausfuhr aus Russland bedeutend wuchs. Die Getreidepreise begannen stark zu fallen und das gerade in dem Zeitpunkt, wo dank seinem industriellen Aufschwung Preußen aus einem Getreide ausführenden ein Getreide importierendes Land wurde. Die herrschende Klasse Preußens und damit des Reichs, die Junker, wandelten sich nun plötzlich aus glühenden Freihändlern in ebenso glühende Schutzzöllner, und sie begegneten sich dabei jetzt mit den Industriellen Deutschlands, deren schutzzöllnerische Wünsche sie bis dahin ebenso lebhaft wie erfolgreich bekämpft hatten.

Die Krisis der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und die überseeische Lebensmittelkonkurrenz haben in vielen Staaten die freihändlerischen Prinzipien, die dort zur Herrschaft gekommen waren, über den Haufen geworfen, in anderen den Schutzzoll aus einem gemäßigten in einen hochgespannten verwandelt und das System des industriellen Erziehungszolls durch das des industriell-agrarischen bloßen Ausbeutungszolls verdrängt. Der Anstoß zu dieser Bewegung ging aber von Deutschland aus, dessen Politik damals die Welt beherrschte und dessen Junkertum rücksichtsloser und herrischer als jede andere Klasse den staatlichen Schutz für seine Ausbeutung der Nation forderte.

Schon dadurch wurde das gute internationale Einvernehmen Deutschlands mit den übrigen Mächten Europas und auch mit Amerika erheblich getrübt. Die neue Handelspolitik war nicht möglich ohne scharfe Reibungen, ja Zollkämpfe mit einzelnen Nationen.

Aber dieser Wandel der Handelspolitik bildete nur die Einleitung zu einem noch weit verhängnisvolleren Wandel der äußeren Politik. Die naturnotwendige Konsequenz des Niedergangs der Freihandelspolitik war das Aufkommen der neuen Kolonialpolitik. Der industrielle Kapitalismus bedarf ständiger Ausdehnung und er überschreitet dabei bald die Grenzen des eigenen Landes. So lange jedoch die Kapitalisten eines Industriestaates bei allgemeinem Freihandel oder mäßigem Schutzzoll die wichtigsten Länder der Erde ihrem Export zugänglich sahen, brauchten sie für die ständige Ausdehnung desselben nichts zu verlangen, als günstige Handelsverträge. Aber je ungünstiger diese wurden, je mehr sich die industriellen Nationen voneinander kommerziell abschlossen, desto wichtiger erschien es jetzt jeder von ihnen, ein stets wachsendes Stück Welt außerhalb des eigenen Landes zu besitzen, von dem sie niemand fernhalten konnte.

Dazu kam, dass der Export der industriellen Nationen immer mehr einen neuen Charakter annahm. Hatte er bis in die siebziger Jahre hinein vornehmlich in Gegenständen des persönlichen Konsums, namentlich Textilwaren, bestanden, so trat jetzt dieser an Bedeutung immer mehr zurück hinter der Ausfuhr von Produktionsmitteln, das Wort im weitesten Sinne genommen, so dass auch die Transportmittel, Schienen, Lokomotiven und dergleichen darunter fallen. Produktionsmittel können nun heute exportiert werden als bloße Waren ober als Kapital. Der erstere Fall findet statt, wenn man sie an das Ausland verkauft; der zweite, wenn man sie ins Ausland befördert, das Eigentumsrecht an ihnen aber behält und sie dort profitbringend anwendet. Wenn zum Beispiel deutsche Kapitalisten an die chinesische Regierung Schienen und Lokomotiven verkaufen, dienen ihnen diese als bloße Waren, sie bringen ihnen nur einmal Profit. Wenn aber dieselben Kapitalisten eine Eisenbahngesellschaft für China gründen und dieselben Schienen und Lokomotiven ausführen, um die ihnen gehörende chinesische Eisenbahn zu betreiben, so werden diese Produkte für sie zu einer Quelle stets wiederkehrender und sich erneuernder Profite.

Die letztere Art der Ausfuhr ist also weit gewinnreicher, setzt aber auch größeren Reichtum der Kapitalisten voraus, die imstande sein müssen, auf die Wiederkehr ihres Kapitals längere Zeit warten zu können. Je reicher die Kapitalistenklasse eines industriellen Landes wird, desto mehr zieht sie den Export von Kapitalien dem von bloßen Waren vor. Gerade die Ausfuhr von Kapitalien gedeiht aber am besten bei einer dauernden Sicherung derselben, was wieder am ehesten erreicht wird durch eine dauernde Abhängigkeit des Landes, in dem sie angelegt werden, von dem Lande, das sie exportiert. Wie viel gesicherter wären zum Beispiel die Gelder, die deutsche Kapitalisten in venezolanischen Eisenbahnen angelegt haben, wenn Venezuela im Besitz des Deutschen Reiches wäre.

Je mehr also der Export von Kapitalien den von bloßen Waren überragt, desto weniger genügen dem Expansionsbedürfnis des Kapitals günstige Handelsverträge, desto mehr verlangt es nach einer Ausdehnung des „nationalen Gebiets". Das ist bei der heutigen Lage für die meisten Staaten Europas fast nur noch möglich durch Erwerbung überseeischer Kolonien.

Seit dem Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beginnt bei allen Industriestaaten, die in der Lage sind, koloniale Erwerbungen zu machen, das Bestreben, sich solche anzueignen.

Gehört auch Deutschland zu den Staaten, die mit Erfolg und Gewinn diese Politik der kolonialen Ausdehnung mitmachen konnten? Bismarck selbst bezweifelte es. Das Deutsche Reich besaß im Anfang der achtziger Jahre nicht, wie etwa England und Frankreich, ein Kolonialreich, das es bloß zu erweitern galt, es musste sich ein solches erst von Grund auf schaffen. Es besaß aber auch nicht eine Seemacht, die es instand gesetzt hätte, mit Nachdruck überseeische Interessen zu vertreten. Auch diese musste erst geschaffen werden. Ohnmächtig zur See, konnte es nur Landstriche erwerben, die keinen anderen Staat noch gelockt hatten; jeder Versuch aber, eine Seemacht zu schaffen, musste sofort das Misstrauen der Seemächte wachrufen, angesichts der weltbeherrschenden Stellung Deutschlands, und sie zur Verstärkung der eigenen Flotte antreiben. Deutschland konnte bei diesem Wettrennen nie an die Spitze kommen, es konnte vor allem England nie überholen.

Bisher ist noch jede Nation gescheitert, die sich im Gegensatz zu England ein Kolonialreich schaffen wollte. Dank seiner insularen Lage darf dieses seine ganze Kraft der Flotte zuwenden. Ein kontinentaler Staat, der neben der Seemacht noch eine beherrschende Landmacht besitzen will, kann dagegen nicht aufkommen, er muss unter der verdoppelten Bürde zusammenbrechen. Dies passierte im sechzehnten Jahrhundert Spanien, wobei es völlig ruiniert wurde; im siebzehnten Holland, das durch die enormen Kriegslasten zu Wasser und zu Lande auf einem an der Spitze der industriellen Entwicklung marschierenden Lande in ein stagnierendes, industriell schließlich sogar rückständiges Land verwandelt ward; endlich im achtzehnten Jahrhundert hatte Frankreich dasselbe Schicksal, als es sich ein Kolonialreich gründen wollte, und auch Napoleon scheiterte schließlich an seinem Gegensatz zu England. Wenn seine Seekriege Frankreich nicht ebenso ökonomisch erschöpften, wie die der drei letzten Ludwige, so verdankte es dies nur seiner ebenso glücklichen wie rücksichtslosen Raub- und Plünderungspolitik gegenüber seinen Nachbarn, die Frankreichs Kapitalisten und Armeeführer bereicherte, aber um so mehr alle Völker Europas erbitterte und schließlich zu jener Koalition zusammenführte, der Napoleon erlag.

Deutschlands geographische Lage ist aber für einen Kriegsfall weit ungünstiger, als etwa die Frankreichs oder Spaniens. Die Verteidigung seiner ausgedehnten Grenzen erheischt eine größere Landmacht; will es daneben noch eine nennenswerte Seemacht entwickeln, so muss es dadurch noch weit mehr belastet werden, als dies bei Spanien und Frankreich der Fall war. Und dabei ist in den Kolonien heute weit weniger zu holen, als vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert zu holen war. Die Kolonien, um derentwillen sich Spaniens Bevölkerung verblutete, waren die reichsten Gold- und Silberländer der Welt. Der Besitz, um den Frankreich mit England im achtzehnten Jahrhundert am heftigsten stritt, war der des fabelhaft reichen Indiens.

Angesichts alles dessen ist es wohl begreiflich, dass Bismarck sich nicht entschließen konnte, an eine energische Kolonial- und Flottenpolitik heranzugehen. Aber er war auch wieder zu abhängig von der Bourgeoisie, um ihrem Drängen Widerstand leisten zu können. Selbst die stärkste und anscheinend selbständigste Regierung ist im Grunde nur ein Kommis der herrschenden Klassen. So kam es zu den Anfängen unserer kolonialen Erwerbungen, ein paar Fieberlöcher und Sandwüsten in Afrika und ein paar Inseln im Stillen Ozean, Kolonien, die bis heute noch keinen Schuss Pulver wert sind. Bismarck fiel es auch nicht ein, ihretwegen etwas zu riskieren. Als er im Jahre 1885 wegen der Karolineninseln in Konflikt mit Spanien geriet, wich er selbst vor dieser kleinen, verachteten Macht zurück.

Das änderte sich, als der neue Kurs eingeschlagen wurde. Nun gerieten Kolonial- und Flottenpolitik in den Vordergrund der Reichspolitik. In den acht Jahren von 1880 bis 1888 war zum Beispiel der Etat der Marineverwaltung samt dem Pensionsfonds von 40 Millionen Mark (40.366.300), auf 50 Millionen (genau 52.063.300) gestiegen, um ein Dutzend Millionen. Da gegen in den acht Jahren von 1888 bis 1896 wuchs er von 50 auf 90 Millionen (94.612.400) und in weiteren acht Jahren, 1896 bis 1904, von 90 auf 230 Millionen Mark (genau 233.795.500), um die Kleinigkeit von mehr als zehn Dutzend Millionen. Und in den letzten zwei Jahren allein hat er sich schon wieder um das Sümmchen von 40 Millionen vermehrt. Der Marineetat betrug 1906 271.958.600 Mark.

Gleichzeitig ist auch der Kolonialetat rasch gewachsen. Anfänglich war er ganz geringfügig, wird auch im statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich bis 1892 nicht gesondert aufgeführt. Von 1896 bis 1904 aber sind allein die ordentlichen Ausgaben der Kolonialverwaltung von 8 auf 24 Millionen gestiegen (von 7.775.500 auf 23.716.400), sie haben sich verdreifacht. Dabei sind zahlreiche Ausgaben, die uns die Kolonialpolitik verursacht, nicht inbegriffen. Die Chinaexpedition hat allein fast eine halbe Milliarde Mark gekostet, und ebenso viel bisher schon der Aufstand in Südwestafrika. Beide Abenteuer verschlangen zusammen also rund eine Milliarde.

Und die Ergebnisse dieser enormen Aufwendungen? Afrika und die Inseln der Südsee genügten der neuen deutschen Kolonialpolitik bald nicht mehr. Sie verlangte nach Ländern höherer Kultur. Das nördliche Becken des Stillen Ozeans und das Mittelmeer, China und die mohammedanischen Reiche wurden die Objekte der neuen Weltpolitik. Auf China wendeten in den neunziger Jahren alle großen Mächte ihre Aufmerksamkeit. Die einen sahen den Moment gekommen, dieses enorme Reich aufzuteilen und daraus für jede von ihnen ein Herrschaftsgebiet herauszuschneiden; die anderen suchten dagegen das Reich ungeteilt zu erhalten, um es vollständig zu ihrem Markte machen zu können. Zu den letzteren Staaten gehörten neben England zwei neu aufgekommene Mächte, denen schon ihre geographische Lage, nicht minder aber ihre Intelligenz und Energie eine herrschende Stellung im nördlichen Becken des Stillen Ozeans zuweist: Japan und die Vereinigten Staaten. Dagegen strebte nach der Aufteilung Chinas Russland, dessen Industrie auf einem ungeschützten Markte nicht konkurrenzfähig ist und das als festländischer Nachbar Chinas diese fette Beute am leichtesten sich assimilieren könnte.

Das Deutsche Reich musste natürlich auch von der Partie sein, und dank seinen reaktionären Sympathien und seiner Unterschätzung der neu aufkommenden Mächte besorgte es Russlands Geschäfte, stellte es sich Japan bei dem Friedensschluss von Schimonoseki entgegen (1895), nicht um China zu retten, sondern um das Signal zu seiner Aufteilung zu geben. Anders war die darauf folgende Besetzung von Kiautschou nicht aufzufassen.

Man hat gemeint, diese Besetzung sei nicht der dümmste Streich gewesen, den die deutsche Regierung verübt habe. Wie alle Orakelsprüche, ist auch dieser zweideutig, und je nach der Deutung entweder richtig oder falsch. Er ist richtig in dem Sinne, dass die deutsche Regierung noch dümmere Streiche gemacht hat; wir werden gleich von einem zu sprechen haben, dem marokkanischen Abenteuer. Aber der Ausspruch ist falsch, wenn er bedeuten sollte, dass die Besetzung von Kiautschou ein schlauer Streich gewesen sei. Nichts weniger als das. Ohne dem Deutschen Reiche einen wirklichen Vorteil zu verschaffen, erweckte die „Pachtung" Kiautschous den Anschein, als wolle Deutschland die Aufteilung Chinas provozieren und sich gleich einen fetten Bissen dabei sichern. Es musste alle jene Mächte gegen sich erbittern, denen an der Integrität Chinas und der Offenhaltung der Tür in dieses Reich gelegen war.

Es empörte Japan, Amerika, England gegen sich, in China selbst aber erweckte es ein nationales Empfinden. das wieder seine Spitze vor allem gegen Deutschland wendete. Und diese glänzenden Ergebnisse um eines „Platzes an der Sonne" willen, der aus Deutschland um 8 Millionen Mark im Jahre einführt und dafür einen Reichszuschuss von 13 Millionen erfordert!

Aber die Weltpolitik des neuen Kurses sollte noch bessere Erfolge erzielen. Nicht nur in China, auch in Afrika wurde England als lästiger Widersacher empfunden, und das wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, als England in Konflikt mit den Burenrepubliken geriet. Bei jedem Konflikt, an dem man nicht selbst beteiligt ist, neigen sich die Sympathien zugunsten des Schwächeren; so stand auch in diesem Falle nicht nur das sozialistische Proletariat aller Länder als grundsätzlicher Gegner jeder Eroberungspolitik, sondern auch die gesamte Bourgeoisie außerhalb Englands auf Seite der Republiken. Aber es blieb der Regierung Deutschlands vorbehalten, diese zuerst zum äußersten Widerstand zu ermuntern, um dann die Ermattenden nicht bloß im Stiche zu lassen, sondern auch noch brutal zurückzuweisen. Die Ermunterung der Buren vertiefte außerordentlich den Gegensatz zwischen England und Deutschland; die moralische Misshandlung der Unterlegenen durch das deutsche Regime aber brachte diesem noch die Geringschätzung der ganzen, auch der außerenglischen Welt ein. Sie kam zur Überzeugung, die großen Worte dieses Regimes seien nicht ernst zu nehmen, seine Drohungen seien nicht zu fürchten, auf seine Freundschaft sei kein Verlass.

Zu alledem kommt nun die eigenartige Mittelmeerpolitik Deutschlands. Die verkommenden mohammedanischen Staaten an der Ost- und Südküste des Mittelmeers werden immer mehr eine Beute der Staaten, die an der Beherrschung des Mittelmeers ein Lebensinteresse haben; das sind Frankreich und Italien wegen ihrer geographischen Lage, England wegen des Seewegs nach Indien. Solange Russland nach Konstantinopel strebte, fanden sich denn auch diese drei Mächte leicht zusammen, wenn es die Zurückweisung der Moskowiter galt. Als aber die Erstarkung Rumäniens und Bulgariens Russlands Vordringen nach dem Bosporus erschwerte und das russische Reich sein Interesse mehr Ostasien zuwandte, hörte die gemeinsame Gegnerschaft gegen diesen Feind auf, ein einigendes Band zwischen den drei am Mittelmeer interessierten Mächten zu sein; gerade der Kampf um dieses wurde eine Ursache, sie zu verfeinden. Bismarck beobachtete das mit Wohlgefallen, weil deren Zwietracht die Macht Deutschlands stärkte. Wenn England Ägypten besetzte (1882), und dafür Frankreichs Feindschaft eintauschte, wenn Frankreich 1881 nach Tunis ging, sich dadurch Italien aufs Tiefste entfremdete und es um so stärker an Deutschland kettete, so durfte dieses damit wohl zufrieden sein.

Auch darin brachte der neue Kurs gründlichen Wandel. Auch am Mittelmeer muss er sich tätig zeigen, und zwar im Gegensatz zu den Mittelmeermächten. Er gibt sich als Protektor der verfallenden Sultanate, sucht als deren Schutzherr eine herrschende Stellung in den mohammedanischen Staaten zu gewinnen. Er steift den Nacken des türkischen Sultans gegen englische und französische Forderungen, sucht durch die Bagdadbahn Kleinasien ökonomisch zu erobern, bestreitet die Ansprüche Frankreichs auf das Protektorat über die Katholiken des Orients und endlich tritt er gar als der Schutzherr des Sultans von Marokko auf, um Frankreich zu hindern, sich dieses Landes zu bemächtigen, was nebenbei gesagt die größte Dummheit wäre, die Frankreich begehen könnte, da es damit nur eine offene Wunde gewänne, die ihm für lange jede freie Bewegung raubte.

Obwohl Deutschlands Interessen in Marokko minime sind, trieb es im marokkanischen Handel doch eine Politik, die einer Provokation Frankreichs zum Kriege so ähnlich sah wie ein Ei dem andern. Wenn auch nicht anzunehmen ist, dass die deutsche Regierung den Krieg wollte, so war doch ihre Politik eine solche, die ohne die größte Klugheit und Zurückhaltung des Gegners nur zu leicht in eine Situation hineintreiben konnte, in der der Krieg unvermeidlich wurde. Die deutsche Regierung setzte damals das deutsche Volk der Gefahr eines furchtbaren Krieges aus – für nichts und wieder nichts.

Ist Deutschland aber diesmal noch vom Kriege verschont geblieben, dank nicht der eigenen Klugheit und Selbstbeherrschung, sondern der Frankreichs, so hat es doch dafür seine völlige Isolierung geerntet. Deutschland wirkt jetzt auf die Mittelmeermächte ebenso wie ehedem Russland. Es bringt sie zusammen, die kürzlich noch um des Mittelmeers willen zerfallen waren. Um Deutschland vom Mittelmeer fernzuhalten, sind Frankreich und England einiger als je, ist Italien in bestem Einvernehmen mit Frankreich. Amerika und Japan wieder sind durch Deutschlands ostasiatische Politik verschnupft und misstrauisch. Russland ist Frankreichs Bundesgenosse, hat indes vorläufig aufgehört, im internationalen Konzert zu zählen. Nur Österreich bleibt Deutschland als letzter Bundesgenosse – aber auch das wird einer Allianz müde, die ihm nur noch Gefahren und keine Vorteile mehr verspricht.

Das ist das Ergebnis des letzten Dutzend Jahre deutscher auswärtiger Politik.

Wir haben gesehen, dass Deutschland durch seine Geschichte wie durch seine geographische Lage darauf angewiesen ist, auf jede überseeische Eroberungspolitik zu verzichten; dass es, sobald es eine solche Politik treibt, vor die Alternative gestellt wird, sich mit dem Abhub an Kolonialgebiet zu begnügen, den andere Völker stehen gelassen haben, oder einen aussichtslosen Wettlauf um die Seemacht zu beginnen, in dem es nie siegen kann, vielmehr schließlich erschöpft auf der Strecke liegen bleiben muss.

Eine weitblickende Regierung hätte unter diesen Umständen dem Andrängen der bürgerlichen Kolonialschwärmer entschieden Widerstand leisten müssen, auch wenn sie nur bürgerliche Interessen vertrat. Aber die deutsche Regierung besaß weder Weitblick noch Kraft genug, auch nur bürgerliche Politik ersprießlich zu treiben. Sie hat sich dem Drängen nach kolonialer Expansionspolitik nicht nur nicht widersetzt, sondern diese überdies in einer Weise betrieben, dass sie tatsächlich doch nichts anderes erlangte, als den kolonialen Abhub der anderen Völker, aber trotzdem gleichzeitig dem deutschen Volke die erdrückende und erschreckend rasch wachsende Doppellast des Wettrüstens zu Lande wie zur See auferlegte, und dabei Deutschland vollständig isolierte. Man vergleiche die glänzende äußere Lage des Reiches bei seinem Beginn mit der heutigen Situation und man wird zugeben, dass nie ein glänzendes Erbe an Macht und Prestige rascher vertan ward.

Aber damit nicht genug. Wir sehen nicht bloß, dass die Lasten dieser Politik rasch wachsen, indes ihre Erfolge völlig ausbleiben; mit den Lasten wachsen auch die Gefahren dieser Politik. Sie isoliert Deutschland immer mehr, schafft ihm immer mehr Feinde, und wird dabei immer fahriger, leichtherziger und abenteuerlicher. Niemals drohte ein Weltkrieg furchtbarere Verwüstungen und Katastrophen nach sich zu ziehen wie heute; niemals seit seinem Bestand war des Deutschen Reiches Stellung in der Welt schwächer und nie hat eine deutsche Regierung gedankenloser und launenhafter mit dem Feuer gespielt, wie in der jüngsten Zeit.

Es gibt aber nur eine Partei in Deutschland, die dieser Regierung und ihrer äußeren wie ihrer inneren. Politik entschiedene und unversöhnliche Opposition machte, und das ist die Sozialdemokratie. Alle anderen Parteien haben die äußere Politik der Regierung mitgemacht, und ihr die Mittel dazu bewilligt. Die sogenannten Oppositionsparteien des Bürgertums, das Zentrum und die Freisinnigem unterscheiden sich von den Regierungsparteien bloß dadurch, dass diese mit Hurra bewilligen und jene mit einigen Verwahrungen. Seit Dernburgs Auftreten haben sich aber auch die freisinnigen Parteigruppen in bedingungslose Schwärmer für die Kolonialpolitik der Regierung verwandelt, und das Zentrum wurde nur dadurch verhindert, es den Freisinnigen gleich zu tun, weil die Regierung in einem Moment sinnlosen Übermuts ihm allzu demütigende Bedingungen für seine Unterwerfung stellte. Sachlich hätte die Regierung vom Zentrum für Südwestafrika, wie bisher für ihre ganze koloniale Politik, alles haben können, was sie brauchte; aber sie verlangte, dass diese Bewilligung sich in Formen vollziehe, die das Zentrum nicht annehmen konnte, ohne sich vor seinen Wählern als Partei ohne jede Würde und Scham unheilbar zu kompromittieren.

Wie die deutsche Regierung jahrelang alles aufgeboten hatte, Frankreichs Gunst zu erwerben, um es dann wegen einer flüchtigen Laune mit dem Kriege zu bedrohen, so hat sie das Zentrum jahrelang umbuhlt, um ihm dann ebenfalls plötzlich um nichts und wieder nichts den Krieg zu erklären, nach innen wie nach außen dieselbe Politik der Unbegreiflichkeiten, der Launen, der Desorganisation und der Verwirrung.

Aber die feindlichen Brüder werden sich wieder finden, sie sind zu sehr aufeinander angewiesen. Einzig die Sozialdemokratie bildet eine zuverlässige Schutzwehr gegen diese Politik. Denn die bürgerlichen Parteien alle stehen auf dem Boden des Kapitalismus, verlangen nach steter Ausdehnung des Reichsgebiets, weil stete Ausdehnung das Lebensprinzip des Kapitalismus ist. Sie mögen sich über das pfuscherhafte Vorgehen der Regierung noch so sehr ärgern, sie können ihr bei ihrer Weltpolitik nicht prinzipiell entgegentreten.

Das vermag nur die Sozialdemokratie, die als Vertreterin des Proletariats, der untersten aller Klassen, prinzipiell jede Unterdrückung, jede Ausbeutung bekämpfen muss; sie muss jede Kolonialpolitik ablehnen, weil heute eine jede mit gewaltsamer Eroberung fremden Landes und gewaltsamer Versklavung freier Menschen naturnotwendig verbunden ist. Sie muss es aber auch ablehnen, dass Gut und Blut der arbeitenden Klassen Deutschlands von Staats wegen verschwendet werden, um die Profite der Kapitalistenklasse zu steigern. Sie bekämpft daher grundsätzlich die Kolonialpolitik, mit ihr aber auch jene Politik, die Deutschland steigende Lasten ohne jeden Vorteil auferlegt, es in der Welt isoliert, in immer stärkeren Gegensatz zu den übrigen Weltmächten bringt und schließlich die Gefahr immer drohender heraufbeschwört, dass es wegen einer Lappalie oder gar wegen eines verwerflichen Verlangens seiner eigenen Regierung in einen gräuelvollen Krieg verwickelt wird, in dem es, isoliert, von allen Seiten angegriffen, nur aus taufend Wunden blutend, zu Tode erschöpft, vielleicht völlig zu Boden geschlagen, hervorgehen könnte.

Je kraftvoller die Sozialdemokratie, je stärker das in ihr politisch organisierte Proletariat, desto gesicherter vor diesen Gefahren wird das Deutsche Reich sein, denn auch die tollste Regierung wird nicht wagen, leichtfertig einen Krieg zu entzünden mit einer starken, kriegsfeindlichen Sozialdemokratie im Rücken. Eine starke Sozialdemokratie ist die beste Friedensbotschaft, das sicherste Hemmnis für die Regierung, eine dem deutschen Volke verderbliche äußere Politik zu treiben. In diesem Sinne der beste Hort der deutschen Nation, die patriotischste Partei ist heute die internationale Sozialdemokratie.

2. Die innere Lage.

a. Der preußische Staat.

Nicht minder verworren und gefahrvoll wie die äußere ist die innere Lage des Deutschen Reiches. Man sucht sie in neuester Zeit zu kennzeichnen durch den Gegensatz von Volksrecht und persönlichem Regiment. Dieser Gegensatz ist sicher vorhanden, aber er gibt kein erschöpfendes Bild der heutigen Lage, er ist nur ihr oberflächlichster Ausdruck. Gälte es bloß den Kampf gegen das persönliche Regiment, die Situation wäre weit weniger verworren und bedenklich. Aber hinter dem persönlichen Regiment verbergen sich mächtige Klasseninteressen, und diese gilt es vor allem bloßzulegen, will man sich über die heutige Lage klar werden. Es gilt zu zeigen, was davon persönlichem, willkürlichem Eingreifen, was historischer Notwendigkeit entspringt, inwieweit die Probleme der letzteren durch ersteres vereinfacht oder kompliziert, für uns günstiger oder ungünstiger gestaltet werden.

Natürlich brauchen wir hier nicht mehr von den grundlegenden Interessengegensätzen zwischen Kapitalprofit und Grundrente oder zwischen Kapital und Arbeit zu handeln. Die dürfen wir als bekannt voraussetzen. Wir wollen nur einen raschen Blick auf die eigenartigen Formen werfen, die diese Gegensätze durch besondere Verhältnisse in dem herrschenden Staate des Deutschen Reiches, in Preußen, angenommen haben.

Es ist eine sonderbare Erscheinung, und eine Erscheinung, die im Widerspruch zu stehen scheint zur materialistischen Geschichtsauffassung, dass die Hegemonie im neuen Deutschen Reiche jenem Staate zufiel, der bei der Reichsgründung noch zum überwiegenden Teile ökonomisch der rückständigste war, und dass in diesem Staate wieder der rückständigste Teil herrscht: der Osten über den Westen, der große Grundbesitz über die Bourgeoisie.

Aber Preußen verdankt seine herrschende Stellung in Deutschland dem Umstand, dass die besonderen Interessen seiner Dynastie mit den Bedürfnissen der deutschen Nation im achtzehnten und den ersten sieben Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts mehr zusammenfielen als die jeder anderen deutschen Dynastie.

Die Reformation war in Deutschland schließlich nichts anderes geworden als eine Rebellion der deutschen Landesfürsten gegen die kaiserliche Macht. Der dreißigjährige Krieg, in dem sie gipfelte, endete mit allgemeiner Erschöpfung, in der Anerkennung der Kleinstaaterei, der Souveränität der einzelnen Fürsten Deutschlands, aber auch in der der Oberhoheit der Habsburger, die die kaiserliche Würde gewissermaßen in Erbpacht genommen hatten. Nur ein deutscher Staat konnte sich bei dem damals geschaffenen Zustand nicht beruhigen, der brandenburgische. Er war zu groß geworden, um die Oberhoheit Habsburgs willig zu tragen. Die Hohenzollern wurden von nun an immer mehr die Rivalen der Habsburger. Da aber der Kampf gegen die kaiserliche Macht die Form eines Kampfes des Protestantismus gegen den Katholizismus angenommen hatte, wurden die Hohenzollern nun die Schutzherren der protestantischen Sache in Deutschland, was ihnen die Sympathien der ganzen protestantischen Welt eintrug, der nach dem dreißigjährigen Kriege gerade die Staaten mit dem reichsten politischen und geistigen Leben, Holland und England, angehörten.

Seit dem dreißigjährigen Kriege wurde aber auch die Kraft und Aufmerksamkeit der Habsburger immer mehr vom Kampfe mit den Türken absorbiert. Von Osten drohte ihnen die größte Gefahr, nach Osten konnten sie ihr Gebiet am ehesten erweitern. Für Deutschland hatten sie nur wenig Interesse übrig, dort verlangten sie nur die Aufrechterhaltung des status quo. Die Gebiete, die den Hohenzollern in Deutschland zufielen, waren dagegen so gelegen, so zersplittert und voneinander getrennt, dass es eine unbedingte Notwendigkeit für den Staat war, seine Grenzen zu erweitern, sein Gebiet zu arrondieren, um ein geschlossenes Ganzes daraus zu machen. Waren also die Habsburger in ihrer deutschen Politik konservativ, so die Hohenzollern umstürzlerisch, stets geneigt, den bestehenden Zustand über den Haufen zu werfen. Die Habsburger wirkten für die Erhaltung der Kleinstaaterei, bei der ihre Oberhoheit am besten gesichert war; die Hohenzollern für die Aufsaugung der Kleinstaaten in einem großen, zusammenhängenden Gebiet. Die Habsburger waren interesselos für die deutsche Nation, die Hohenzollern voll Interesse für alle Vorgänge in Deutschland, und in diesem Sinne national, namentlich seit der Teilung Polens, die den preußischen Staat zum Nachbarn des russischen machte, so dass nun jede weitere Ausdehnung nach Osten angeschlossen schien, nur noch eine Machterweiterung in Deutschland, auf deutschem Boden anzustreben war.

So erschienen die Hohenzollern im Gegensatz zu den Habsburgern immer mehr als eine nationale und fortschrittliche Macht; und in der Tat, während diese stets nur aufs Ängstlichste bemüht waren, alles Neue von Deutschland fernzuhalten, und ihren Staat zu einem europäischen China gestalteten, gab es Situationen, wo die Hohenzollern ungescheut mit fortschrittlichen, ja selbst revolutionären Ideen, Einrichtungen, Personen spielten und wirkten. Wenn Friedrich II der Freund französischer Aufklärer war, so trug sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II. keine Bedenken, mit den Männern der französischen Revolution zu kokettieren, solange er glaubte, sie ausnutzen zu können. Unter Friedrich Wilhelm III. wurde die Niederlage von Jena der Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Reformen, die, wenn auch in verkrüppelter Form, Schöpfungen der französischen Revolution nachahmten, wie die allgemeine Wehrpflicht, die Bauernbefreiung, die Gewerbefreiheit. So dürftig diese Reformen auch waren, an den Ergebnissen der großen Revolution gemessen, sie waren doch gewaltige, wenn man das Preußen nach Jena mit dem gleichzeitigen Österreich vergleicht, das eine ununterbrochene Kette von Niederlagen in Italien und Deutschland nicht aus seinem Schlummer zu erwecken vermochte.

Bismarck blieb da ganz in den preußischen Traditionen, wenn er mit Lassalle konferierte, 1866 mit Garibaldi und Kossuth zusammenwirkte, dann das Deutsche Reich auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechtes schuf.

Seitdem es in Deutschland ein nationales Leben gab, den Drang nach Aufhebung der Kleinstaaterei, nach der Zusammenfassung der Nation in einem einheitlichen Staate mit ökonomischer und politischer Freiheit, wie sie das Ideal des aufstrebenden Bürgertums bildete, wurde für alle jene liberalen Schichten, die daran verzweifeltem durch die Tätigkeit des Volkes zur Verwirklichung dieser Ideale zu gelangen, und die sie nur von einer monarchischen Gewalt, einem Kaisertum erwarteten – für alle jene Schichten wurde immer mehr Preußen im Gegensatz zu Österreich der Fels, auf den sie bauten. Und als nach dem Zusammenbruch der Revolution von 1848 die deutsche Bourgeoisie vollends jedes Zutrauen zur eigenen Kraft verloren, dafür um so mehr Angst vor der Kraft des entfesselten Volkes gewonnen hatte, da wurde die Anerkennung Preußens als der einzigen Macht, die Deutschland einigen und frei machen konnte, bei ihr allgemein.

Aus diesem Gedankengang beruht der Nationalliberalismus, der schon 1849 in der Form der „Gothaer" erstand, nach 1866 aber für ein Jahrzehnt zur stärksten politischen Partei Deutschlands anwuchs.

So ist Preußen zum Beherrscher Deutschlands geworden. Es verdankt sein siegreiches Fortschreiten dem Umstand, dass die Interessen der Hohenzollern mehr als die jeder anderen deutschen Dynastie, und vor allem mehr als die der Habsburger mit den Bedürfnissen mächtiger aufsteigender Klassen, die für die deutsche Nation entscheidend wurden, zusammenfielen. In der Tat lag nichts näher, als dass sich jeder liberale und nationale Deutsche, der nicht Republikaner war, für das preußische Kaisertum deutscher Nation begeisterte.

Die Medaille zeigte indes auch ihre Kehrseite; der preußische Staat entwickelte nicht bloß fortschrittliche, sondern auch höchst reaktionäre Charakterzüge. Diese hatten jenen schon seit den Anfängen Preußens eine eigenartige Bindung verliehen. Im Jahre 1870 ist aber die umstürzlerische Laufbahn Preußens an ihrem Ende angelangt. Staat und Dynastie haben von da an keine Interessen mehr, die aus ihnen, wenn auch nur gelegentlich, Hebel des Fortschritts machen könnten. Von da an kommt immer unverhüllter bloß die reaktionäre Kehrseite dieses Staatswesens zur Geltung.

Diese reaktionäre Seite beruht aus der Herrschaft des Junkertums.

Es ist eine eigenartige Erscheinung, dass das Junkertum in Ostelbien kraftvoll gedeiht in derselben Zeit, in der der Adel im westlichen und südlichen Europa immer mehr verkommt. Überall verliert er seit dem sechzehnten Jahrhundert immer mehr seine alten, feudalen Funktionen, wird er für die Gesellschaft immer überflüssiger. Gleichzeitig erweckt aber die ankommende Warenproduktion bei ihm immer größere Geldbedürfnisse, denen seine landwirtschaftlichen Betriebe nicht genügen können. So wird er immer mehr bankrott, immer abhängiger von der Bourgeoisie und vom Königtum, das ihn nur durch Privilegien und fette Sinekuren noch über Wasser hält.

Anders war die Entwicklung in England und in Ostelbien. Hier wie dort produzierte die Landwirtschaft schon frühzeitig einen Überschuss für den Export, Getreide und Wolle, wurde sie ein profitables Geschäft, das Geld abwarf, und wurde der grundbesitzende Adel dadurch frühzeitig mit kapitalistischen Interessen und Neigungen erfüllt. Aber in England entwickelte sich gleichzeitig mit der kapitalistischen Landwirtschaft eine reiche Klasse von Kaufleuten und Geldkapitalisten dank dem kolonialen Plünderungssystem, das namentlich in Ostindien reiche Beute fand und das durch Sklavenhandel und Seeraub noch unterstützt wurde. So erwuchs eine starke Bourgeoisie, die sich vor dem Adel durchaus nicht beugte, sondern ihn sogar niederzuwerfen wusste und schließlich zwang, sich mit ihr aus einen modus vivendi zu einigen. Dank dem Kapitalreichtum Englands erstand dort aber auch früh der kapitalistische Pächter, der dem Grundherrn die Bewirtschaftung seiner Güter abnahm und ihn dafür auf die Grundrente beschränkte. An der Kolonial- und Seeräuberpolitik beteiligte sich aber ebenfalls der Adel und schöpfte aus ihr nicht nur Versorgungsstellen für seine jüngeren Söhne, sondern auch Reichtümer, um die Bauern auszukaufen und seinen Grundbesitz zu vergrößern.

Diese Hilfsquellen fehlten zu seinem Bedauern dem ostelbischen Junker. Er fand aber auch keine kapitalistischen Pächter vor, denen er seine Güter hätte verpachten können, und doch bedurften die profitablen Produktionszweige – Getreide und Wolle – des Großbetriebs, sollten sie einen erheblichen Überschuss abwerfen. Die Verpachtung des Bodens in kleinen Parzellen an halb verhungerte Bauern nach irischem, italienischem oder französischem Muster hätte zu geringe Erträge geliefert. Ungleich den englischen Landlords bewirtschafteten daher die ostelbischen Junker ihre Güter selbst. Hatte der englische Lord nur mit seinem Pächter zu tun, hatte er sich um die Bearbeitung des Bodens nicht zu kümmern, so wurde dagegen der ostelbische Junker der direkte Antreiber seiner Arbeitskräfte und blieb er direkt an deren größtmöglicher Ausschindung interessiert. Diesen Arbeitskräften stand er aber mit der ganzen Machtvollkommenheit eines Feudalherrn gegenüber. Und der Junker regierte auch im Staate. Die Industrie entwickelte sich nur langsam, die Städte blieben schwach, die Bourgeoisie daher unterwürfig. So besaß auch die landesherrliche Gewalt nicht die Macht, die Junker niederzuhalten. Und am allerwenigsten lohnte es ihr, wegen der Bauern und Landarbeiter, sich mit den Junkern zu verfeinden. Diese durften das Landvolk schinden und schaben nach Herzenslust. Je ärmer der Boden war, je rückständiger die Produktionsweise, je entwickelter aber dabei die kapitalistischen Appetite der Junker, desto rücksichtsloser und brutaler die Misshandlung der Bearbeiter ihres Bodens.

Und wenn in anderen Staaten im Laufe der ökonomischen Entwicklung das Aufkommen einer bürgerlichen Intelligenz und eines starken Kleinbürgertums den Adel bessere Sitten lehrte und ihn zwang, die bürgerliche „Canaille" als gleichberechtigt anzuerkennen und sich zu bürgerlicher Sitte zu bequemen, wie das am gründlichsten die große französische Revolution besorgte, so ging es in Ostelbien ganz anders. Dort verseuchte vielmehr das Junkertum mit seiner feudalen Brutalität auch das Bürgertum und von Ostelbien aus verseuchte es die herrschenden Klassen von ganz Preußen, ja ganz Deutschland. Die jüngeren Söhne der Junker bildeten das Offizierskorps der preußischen Armeen. Nicht immer kämpften diese Armeen glücklich, aber dank den fortschrittlichen Tendenzen, die dem preußischen Staate im Vergleich freilich nicht etwa mit dem französischen seit 1789, wohl aber mit den anderen deutschen Staaten und mit Österreich innewohnten, waren die preußischen Armeen diesen gegenüber doch in den Regel siegreich, und wie den Aufstieg jeder Macht, die in der Richtung der notwendigen Entwicklung arbeitet, konnten auch den Aufstieg des preußischen Staates zeitweilige Niederlagen nicht dauernd hemmen. Das hervorragendste Werkzeug seines Aufstiegs war aber seine Armee; kein Wunder, dass ihre Erfolge ihr zu Kopfe stiegen, dass ihr Offizierkorps zu der Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Junkertums noch eine besondere Dünkelhaftigkeit gesellte. Als Kommandierende einer Armee der allgemeinen Wehrpflicht wurden sie aber Kommandierende eines erheblichen Bruchteils des ganzen Volkes in einer bestimmten Altersperiode. Dank der Brutalität und Kraft des Junkertums durfte der Ton, der in dem Werbeheer geherrscht, nun auch in der Armee der allgemeinen Wehrpflicht fortdauern. Die Misshandlungen der Landarbeiter durch die Junker fanden nun ihre liebliche Ergänzung durch die Misshandlungen aller Söhne des Volkes in der Armee. Junker- und Offiziersdünkel wurde aber jetzt das Vorbild für alle Söhne der herrschenden Klassen, der Reserveoffizier wurde der Vermittler dieser Überhebung und Brutalität an die deutsche Bourgeoisie, um so mehr, je mehr die Verehrung für Preußen und seine Armee wuchs. Während in England die Bourgeoisie den Offizier zwang, sich bürgerlicher Sitte anzubequemen, wurden in Deutschland immer mehr Fabrikanten, Kaufleute, Ingenieure, ja selbst Dichter und Denker auf ihrem Wege durch die Armee der allgemeinen Wehrpflicht von den Manieren und der Denkart des Junkertums und der Kaserne angesteckt. So hat diese rückständigste und roheste der herrschenden Klassen nicht bloß Deutschland erobert, das deutsche Volk sich dienstbar gemacht, sondern auch der inneren und äußeren Politik, ja sogar dem Geistesleben seiner herrschenden Klassen ihren Stempel aufgedrückt.

Nichts sonderbarer als die Mischung fortschrittlicher Tendenzen mit der Junkerrohheit, wie sie in der Politik Preußens im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zutage tritt, von Friedrich II. bis Bismarck. Indes, wie oft die junkerliche Borniertheit und Brutalität dabei siegte, immerhin lagen die höheren Interessen des Staates und der Dynastie zu oft in entgegengesetzter Richtung, als dass sie nicht auch von Zeit zu Zeit hätten zur Geltung kommen können.

Aber mit der Gründung des Deutschen Reiches endet diese fortschrittliche Richtung der dynastischen Interessen. Sie hatten von dem Umsturz des Bestehenden nichts mehr zu erhoffen, hatten bei einem solchen vielmehr alles zu verlieren. Von da an hört jene eigenartige Mischung in der preußischen Politik immer mehr auf und gelangt der Geist des Junkertums immer entschiedener zu ausschließlicher Herrschaft. Der aufsteigende industrielle und finanzielle Kapitalismus übernimmt von diesem Vorbild seine Denkformen und wird zum Scharfmachertum.

b. Die Bismarcksche Ära.

Bismarck war der richtige preußische Junker. Er besaß in vollstem Maße dessen kapitalistische Appetite, dessen Habgier, und ebenso sehr dessen Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Volksverachtung. Aber er unterschied sich von der Masse seiner Genossen durch seinen umfassenderen Blick, durch sein Verständnis für die weiteren Interessen des Staates und der Dynastie der Hohenzollern und durch die Unbedenklichkeit, mit der er, um diese zu fördern, auch fortschrittliche, ja revolutionäre Elemente zu benützen suchte. Darin war er freilich auch nicht originell, der erste und auch der dritte Napoleon hatten ihm die Bahnen dazu gewiesen. Bismarck jedoch wusste sie verständnisvoll den deutschen Anschauungen und Bedürfnissen anzupassen und dadurch seine großen Erfolge zu erzielen, im Interesse seiner Dynastie und seiner Junkergenossen, jedoch sehr oft von ihnen nicht verstanden und angefeindet. Aber wir haben gesehen, dass für den Staat der Hohenzollern der Sättigungszustand mit der Reichsgründung eintrat, und damit änderte sich auch allmählich der Charakter der Politik Bismarcks. Er sank von nun an immer mehr und mehr zum bloßen Junker herab, der alle Welt mit Fußtritten behandelt, sobald sie ihm nicht zu Diensten ist. Seine Politik wurde immer reaktionärer, brutaler, kleinlicher, erfolgloser, und trieb immer rapider auf völligen Bankrott zu.

Das erfuhr er zunächst dem Zentrum gegenüber. Dieses ist ein Gebilde ganz eigener Art, ein Produkt preußischer Staatskunst.

Es gibt keinen modernen Staat, der so sehr aus verhältnismäßig jungem eroberten Gebiet zusammengesetzt wäre wie Preußen. Nach dem dreißigjährigen Krieg waren die heutigen Großstaaten alle im Wesentlichen schon gebildet, mit Ausnahme Preußens, Italiens und Russlands. Preußen fing damals erst an, eine Macht zu werden. 1742 gewann es Schlesien. 1772 ging es mit Russland an die Zerstücklung Polens, die 1795 beendet wurde. 1815 erwarb es die Rheinlande, 1866 Hannover und Hessen, 1871 erhielt es die Verwaltung von Elsass-Lothringen. Diese Gebiete umfassten (ohne das Elsass), über 4000 Quadratmeilen. Bei der Thronbesteigung Friedrichs II. betrug das preußische Gebiet bloß 2160 Quadratmeilen, 1866 dagegen 6327. Zwei Drittel davon waren also relativ kürzlich erobert. In jedem eroberten Gebiet ist die Bevölkerung besonders empfindlich, namentlich die konservativen, am Alten hängenden kleinbürgerlichen und bäuerlichen Elemente. Doppelt empfindlich musste sie im preußischen Polen sein, wo sie einem fremdsprachigen Eroberer zufiel, der durch die unsaubersten Praktiken ihren nationalen Staat erdrosselt hatte; ebenso empfindlich in den Rheinlanden oder im Elsass, wo sie den warmen Hauch der französischen Revolution verspürt hatte, der mit dem scharfen preußischen Ostwind so seltsam kontrastierte.

Überdies bildete Preußen eine protestantische Macht, den Vorkämpfer des Protestantismus in Deutschland, die Mehrzahl der Bevölkerung in dem größten Teil der eroberten Gebiete war aber katholisch.

Zu alledem kam noch, dass die Zertrümmerung des deutschen Bundes im Jahre 1866 und die Hinausdrängung Österreichs aus ihm die Katholiken, die bis dahin in Deutschland den Protestanten die Wage gehalten und die mächtigen Habsburger zu Schutzherren gehabt hatten, seitdem eine schutzlose Minderheit darstellten, nur noch ein Drittel der Bevölkerung.

Trotzdem wäre es nicht allzu schwer gewesen, diese Elemente mit den neuen Verhältnissen auszusöhnen. Zog doch das preußische Regime als Junkerregime aus denselben ökonomisch und politisch rückständigen Klassen in den protestantischen und altpreußischen Landesteilen seine Kraft, von denen der Protest gegen dies Regime in den katholischen und neu angegliederten Gegenden ausging. Kein ausgesprochener Klassengegensatz, sondern in erster Linie ein Gegensatz der Traditionen trennte sie. Ein derartiger Protest ließ sich mit Klugheit und Milde leicht überwinden; er beruhte aus dem bitteren Empfinden, dass die Katholiken, dass die Bewohner der neuerworbenen Gegenden im neuen preußisch deutschen Reiche Bürger zweiter Klasse sein würden. Dies Empfinden galt es zu überwinden durch möglichst viel Selbstverwaltung, möglichster Schonung jeglicher traditionellen Eigenart.

Aber das ist nicht die Methode des Junkertums. Es verlangt von seinen Untergebenen blinden Gehorsam, es weiß keine andere Methode, mit einer Opposition fertig zu werden, als gewaltsame Unterdrückung. So trat auch das Bismarcksche Regime der katholisch partikularistischen Opposition entgegen mit dem Ergebnis, dass es, statt sie zu entwaffnen, sie zu einer mächtigen Partei zusammenschweißte, dem Zentrum.

In den Anfängen des neuen Reiches verfolgte Bismarck gegenüber der ultramontan-partikularistischen Opposition noch die zwiespältige Politik, die Preußen in den Zeiten seines umstürzlerischen Aufsteigens gekennzeichnet hatte. Er mischte die brutale Gewalttätigkeit mit fortschrittlichen Maßregeln. Der Kulturkampf brachte einige Neuerungen, die wirkliche Fortschritte darstellten, namentlich die Zivilehe. Aber das waren nur noch die letzten, rasch ersterbenden Nachwirkungen jener Periode, in der der preußische Staat aus dem Umsturz Vorteile gezogen hätte. Je länger der Kulturkampf voranging, desto mehr verflüchtigte sich sein liberaler Spiritus und desto unverhüllter kam die Knute zum Vorschein.

Die Bismarcksche Regierung wagte nicht, dem katholischen Geistlichen seine privilegierte Stellung zu nehmen, sie fuhr fort, ihn als Hirten über seine Schafherde zu setzen, nur suchte sie ihn durch Prügel und Fasten zu knechtischer Unterwürfigkeit unter ihre Gebote zu dressieren. Aber die katholische Kirche erwies sich als ein höchst widerspenstiger Organismus, und sie fand kräftige Unterstützung bei den Bauern, Kleinbürgern, Proletariern der katholischen Gegenden, die gerade durch den Kulturkampf jene Befürchtungen vor dem neuen preußisch-protestantischen Regime bestätigt sahen, die sie ihm von vornherein entgegengebracht hatten.

Es gelang Bismarck mit allen Gewaltmaßregeln nicht, des Zentrums Herr zu werden. Neben diesem stand ihm aber noch ein weiterer Feind gegenüber, weit gefährlicher als dieses, in dem Repräsentanten nicht der rückständigsten, sondern der revolutionärsten Elemente und Gegenden, jener, denen nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft gehört, in der Sozialdemokratie.

Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie und die politische Organisation des Proletariats als besondere Klasse ist nichts dem preußischen Staate Eigentümliches, sondern eine internationale Erscheinung. Und so unbequem ist die besondere Organisation des Proletariats für die herrschenden Klassen, dass diese den Anfängen jener fast überall gewaltsam entgegentreten. Aber nirgends gelingt es, sie auf diese Weise zu verhindern. Wo aber die Organisation des Proletariats eine Macht wird, da gibt es zwei Methoden ihrer Bekämpfung für die Bourgeoisie: die eine ist die der Korrumpierung und Spaltung der proletarischen Organisation, indem man einzelne ihrer leitenden Personen durch Ämter und Ehren, mitunter sogar direkt durch Geld kauft, oder indem man einzelne Schichten des Proletariats durch besondere Vorteile von seiner Gesamtmasse loslöst. Das sind nicht Methoden, die das Proletariat fördern, nicht die Anfänge seiner Eroberung der politischen .Macht. sondern vielmehr Mittel, diese Eroberung hinauszuschieben. Sie kräftigen nicht das Proletariat, sondern die Bourgeoisie. Jenes spalten sie, dieser führen sie neue Kräfte zu, indem sie ihr Leute dienstbar machen, die durch die Schule des Sozialismus gegangen sind. Die Bourgeoisie liebt es, wegwerfend von den Sozialisten zu reden, als Leute, denen jedes Verständnis für die Natur des Menschen und der menschlichen Gesellschaft fehle. Aber schon zu wiederholten Malen hat sich's gezeigt, dass der Sozialismus gerade wegen seiner kritischen Stellung tiefere Einblicke in das Wesen des modernen Menschen und der modernen Gesellschaft ermöglicht als die bürgerliche Wissenschaft, so dass Sozialisten, die sich der Bourgeoisie zuwenden, auch in deren Reihen sich auszeichnen. Das haben schon früher Oweniten und Saint Simonisten bewiesen, das beweisen heute englische und französische. Sozialisten, die den Liberalismus ihrer Länder verjüngen und stärken.

Auf die Dauer lässt sich durch derartige Manöver natürlich der Aufstieg des Proletariats, seine Loslösung von der Bourgeoisie als besondere Klasse und Partei und der Kampf dieser Klasse und Partei um die politische Macht nicht hindern, denn die ökonomische Entwicklung wirkt zu stark in dieser Richtung durch stete Vermehrung des Proletariats und Verschärfung der Klassengegensätze. Aber jedenfalls ist die Methode des Kaufens einzelner Führer und Proletariergruppen diejenige, die die Stärkung des Proletariats möglichst weit hinausschiebt, und sobald das Proletariat eine gewisse Kraft erlangt hat, wird sie die Lieblingsmethode der Bourgeoisie in Ländern, die schon in größeren Revolutionen die Kraft des Proletariats kennen gelernt haben und kein Verlangen danach tragen, sie ohne Not wieder gegen sich auszureizen. Jedenfalls ist die Methode der Korrumpierung oder Spaltung des Proletariats durch Kauf und Scheinkonzessionen weit wirksamer als die Drangsalierung einzelner Vorkämpfer und Organisationen. Nichts ist geeigneter, das Klassenbewusstsein des Proletariats mehr zu stärken, seine revolutionäre Energie mehr anzufeuern, es zu einem einigem festen Körper zusammenzuschweißen, als diese letztere Methode. Und die Methode der Konzessionen und der Verleihung von Ämtern entzieht dem Proletariat sehr wertvolle Kräfte, die der Bourgeoisie dienstbar werden, oft mit den besten Absichten der Welt, weil sie glauben, dadurch das Proletariat am wirksamsten zu fördern. Umgekehrt erweckt eine Ära der Verfolgungen gerade in den höchst stehenden Elementen der bürgerlichen Intelligenz Sympathien für das verfolgte Proletariat und führt ihm deren Unterstützung zu.

Die Methode der Verfolgungen kann dem Proletariat gegenüber im besten Falle vorübergehenden Erfolg haben, solange es noch schwach und unentwickelt ist. Sie muss vollständig versagen dort, wo es schon einen bedeutenden Bruchteil der Bevölkerung ausmacht und zu starkem Selbstbewusstsein gelangt ist.

Merkwürdigerweise versuchte Bismarck gerade, solange die proletarische Bewegung in Deutschland noch jung war, die Methode ihrer Erkaufung und Ausnutzung. Es war das während seiner umstürzlerischen Periode, wo er von Louis Napoleon unter anderen seinen Dingen auch dieses Verfahren übernahm. Wir haben schon darauf hingewiesen, wie er mit Lassalle in Verbindung trat; er wusste auf Schweitzer Eindruck zu machen, durch welche Mittel immer; er nahm Lothar Bucher und Wagener, die mit sozialistischen Elementen Fühlung hatten oder suchten, in seine Dienste und suchte Liebknecht zu gewinnen durch die Braßsche „Norddeutsche Allgemeine Zeitung".

Aber das demokratische Empfinden ist im Proletariat zu stark, als dass eine nichtdemokratische Regierung Aussicht hätte, es zu spalten. und einzelne seiner Schichten zu gewinnen. Wie Napoleon hatte auch Bismarck mit seinem Regierungssozialismus keine besonderen Erfolge. Der Krieg gegen die französische Republik, der die entschiedene Gegnerschaft der deutschen Sozialdemokratie fand, und dann die Erhebung der Pariser Kommune machte dieser Seite der Bismarckschen Politik rasch und entschieden ein Ende. Von da an kam der proletarischen Bewegung gegenüber seine Junkernatur unverhüllt zur Geltung. Um so mehr, da ihn das allgemeine Wahlrecht bitter enttäuschte. Auch dieses war dem dritten Napoleon abgeborgt, aber der hatte es verliehen nach der Junischlacht, als die Arbeiterklasse in einer vernichtenden Niederlage anscheinend für immer zusammengebrochen war. So konnte es viele Jahre lang das Übergewicht der Bauernstimmen zur Geltung bringen, den Bonapartismus gegen die städtische Opposition stützen. Aber je mehr die Nachwirkungen der Niederlage von 1848 verschwanden, das Proletariat wieder erstarkte, desto mehr wuchs auch die Opposition, die das allgemeine Stimmrecht in die Kammer sandte.

Bismarck aber führte das allgemeine Wahlrecht zwei Jahrzehnte später ein als Napoleon, zu einer Zeit, wo die proletarische und demokratische Bewegung wieder in vollem Aufschwung war. Er führte es ein in einem frisch zusammengeschweißten Staate, in dem gerade die konservativsten Schichten, jene, aus denen Napoleon die größte Kraft gezogen hatte, zum großen Teile als Zentrumspartei in scharfer Opposition zum neuen Kaisertum standen. So wirkte das allgemeine Wahlrecht in Deutschland nach 1871 ganz anders als in Frankreich nach 1850; es gab jenen in unseren eigenen Reihen Unrecht, die es als zäsaristische Falle abgelehnt, und enttäuschte Bismarck, der es als solche gegeben hatte. Dank dem allgemeinen Wahlrecht wuchs die Opposition, wuchsen Zentrum und Sozialdemokratie.

Noch entschiedener als gegen jenes ging Bismarck gegen diese vor. Hier war es ja nicht Fleisch von eigenem Fleisch, gegen das er wütete, hier kam der Klassengegensatz und die Ausbeuternatur des Junkers voll zur Geltung.

Aber gegen eine Klasse, die durch die ökonomische Entwicklung zu einer mit Naturnotwendigkeit wachsenden und stets unentbehrlicheren wird, muss jede Gewaltmaßregel sich früher oder später abstumpfen. Will die gewalttätige Regierung nicht kapitulieren, so muss sie ihre Gewaltmaßregeln immer mehr und mehr steigern, bis sie schließlich zu einer Periode der blutigsten Verfolgungen kommt, die in einer furchtbaren Katastrophe endet, durch welche das gewalttätige Regime entweder vorübergehend Ruhe oder aber völlige Vernichtung findet.

So musste auch Bismarck seine Gewaltmaßregeln gegen unsere Partei immer mehr steigern, bis er schließlich selbst mit dem Sozialistengesetz sein Auslangen nicht mehr fand, so dass er, wie wir jetzt wissen, sich gedrängt sah, das Äußerste zu planen. Aber ehe er dazu kam, hatte er schon vor dem einen Gegner kapitulieren müssen. Gegen zwei Parteien, wie Zentrum und Sozialdemokratie, gleichzeitig mit voller Kraft den Kampf zu führen, hatte seine Macht nicht ausgereicht. Je schärfer er die letztere bekämpfte, je mehr diese wuchs, desto mehr näherte er sich dem Zentrum, dessen überwiegende Klasseninteressen den von ihm vertretenen so nahe verwandt waren. Er endete mit dem Gang nach Canossa und mit der Vorbereitung des Staatsstreichs – es blieb ihm keine andere Wahl, wollte er sich retten. Was selbst der verzweifelte Abenteurer auf dem kaiserliche Throne Frankreichs gegenüber der anwachsenden Opposition nicht gewagt hatte, die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts, das plante schließlich Bismarck in der Hoffnung, dadurch das Proletariat vor die Gewehre der noch unerschütterten Armee zu treiben und es so zu dezimieren und eine neue Galgenfrist zu gewinnen.

Aber dieser verzweifelte Ausweg erschien 1890 wohl notwendig, um das Bismarcksche Regime zu retten, er war aber noch keineswegs notwendig zur Rettung des Reichs und der Dynastie vor der Sozialdemokratie. So stark war diese noch nicht. Und mit solchen Maßregeln hört ein Regime auf, es fängt damit nicht an.

Der neue Kaiser konnte um so weniger gewillt sein, sich auf ein derartiges furchtbares Experiment einzulassen, als er durchaus nicht eine bloße Puppe Bismarcks sein wollte, sondern bald in starken Gegensatz zu diesem trat. Mühelos schob er ihn beiseite. Was 1871 noch unmöglich gewesen wäre, vollzog sich 1890 mit einer Handbewegung. In diesen zwanzig Jahren hatten Zentrum und Sozialdemokratie die Macht des ehernen Kanzlers so zermürbt, dass sie bei der leisesten Berührung in Moder zusammenfiel.

c. Der neue Kurs

Der neue Kurs kam im Kampfe gegen den Bismarckschen auf, so bildete er zunächst auch dessen Gegensatz.

Natürlich blieb er ebenso wie Bismarck abhängig von der kapitalistischen Gesellschaft. Er diente ihr ebenso wie dieser, nur in anderer Weise. Noch besser als Bismarck besorgte er die kapitalistischen Interessen in der Kolonial- und Flottenpolitik. Hatte Bismarck diese nur zögernd, mit Widerstreben betrieben, so stürzte sich der neue Kurs Hals über Kopf in eine Weltpolitik, die in den entferntesten Winkeln des Erdballs nichts mehr passieren ließ, wo er nicht die Nase hineinsteckte.

Aber auch die Arbeiterklasse wollte er nicht leer ausgehen lassen. Das Sozialistengesetz fiel, und im Arbeiterschutz wurden einige schüchterne Anläufe gemacht, namentlich der Zehnstundentag für Arbeiterinnen festgesetzt. Nicht minder stellte sich der neue Kurs in Gegensatz zum Bismarckschen in der Handelspolitik. Die Politik der staatlichen Brotverteuerung wurde gemildert, die Lebensmittelzölle herabgesetzt.

Und endlich kam jetzt das Zentrum zu Ehren, samt den ihm anhängenden Polen. Das geschah nicht aus bloßem Gegensatz zu Bismarck. Der ganze Charakter des Zentrums entsprach von allen Parteien am ehesten dem des neuen Kurses. Im Zentrum sind am meisten alle Klassen vertreten. Es umfasst Großgrundbesitzer und Kapitalisten wie Lohnarbeiter, am meisten aber Kleinbürger und Bauern, und unter den Kapitalisten wie unter den Lohnarbeitern vorwiegend die rückständigen Elemente, die noch in kleinbürgerlichem Denken befangen sind. Seine Politik erheischt daher vor allem die Erhaltung der alten überkommenen Denkweisen, die man heute als Christentum bezeichnet. Wohl kann man unter Christentum alles mögliche verstehen, aber das erleichtert nur das Zusammenhalten so verschiedener Elemente unter einer gemeinsamen Fahne. Zu der christlichen Gesinnung muss sich aber bei einer derartigen Partei noch die Kunst vorsichtigen Lavierens gesellen, die jeder der verschiedenen Klassen mit ihren entgegengesetzten Interessen etwas verspricht und zu bringen scheint, ohne dass eine von ihnen sich durch die anderen benachteiligt fühlt. Auch diese Kunst haben die Staatsmänner des Zentrums zur Vollkommenheit entwickelt, zu solcher Vollkommenheit, dass sie es verstanden, Regierungspartei zu werden und Oppositionspartei zu bleiben. So schwer das ist, es ist nicht schwerer, als Kapitalisten und Arbeiter gleichzeitig im Glauben zu erhalten, man vertrete alle ihre Interessen. Für eine bloße Regierungspartei würde das freilich auf die Dauer unmöglich sein. Die Klasseninteressen des Proletariats stehen in zu schroffem Widerspruch zur bürgerlichen Gesellschaft, als dass es in dieser eine andere als eine oppositionelle Stellung einnehmen könnte. Bei der heutigen hohen Spannung der Klassengegensätze vermag eine bürgerliche Partei nur als Oppositionspartei größere Arbeitermassen längere Zeit an sich zu fesseln. Will das Zentrum sich seine proletarische Gefolgschaft erhalten, so muss es wenigstens dem Anschein nach Oppositionspartei bleiben. Andererseits sind aber die Kapitalisten und Junker zu sehr daran gewöhnt, in der Regierung ihren Kommis zu sehen, in ihrer Partei den Vermittler zwischen ihnen und der Regierung. Sie bleiben auf die Dauer nicht einer Partei treu, die es nicht versteht, ihre parlamentarische Macht gegen Gefälligkeiten der Regierung auszutauschen, die nicht in dem Sinne des do ut des Regierungspartei wird. Wollte sich das Zentrum seine Kapitalisten und Großgrundbesitzer erhalten, musste es Regierungspartei werden.

Und die ist es auch geworden, und zwar die nützlichste aller Regierungsparteien. Denn dadurch, dass es den Anschein der Opposition aufrecht erhielt, dass es bei seinen Bewilligungen feilschte und protestierte, erhielt es sich seinen Anhang von Proletariern und halb proletarisierten Kleinbauern und Kleinbürgern, die unter allen Umständen oppositionell fühlen, die es aber wider ihren Willen und ohne ihr Wissen der Regierung dienstbar macht. Das hat keine andere der Regierungsparteien zustande gebracht. Unter der Herrschaft des allgemeinen Wahlrechtes war dieser Dienst des Zentrums für die Regierung unschätzbar. Sein Ansehen bei ihr musste steigen.

Indes auch die schlaueste Diplomatie vermag nicht den Gang der ökonomischen Entwicklung aufzuhalten, und diese bringt heute die Verschärfung der Klassengegensätze und das Erstarken des Proletariats mit sich. Das führte bald zu einer Änderung der Richtung des neuen Kurses. Allenthalben in Westeuropa wuchs das Proletariat im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts so sehr an Zahl, Kraft und Selbstbewusstsein, dass keine Regierung es ignorieren konnte. In Frankreich war nichts Geringeres als die Verleihung einzelner Ministerämter an Sozialdemokraten imstande, wenigstens vorübergehend das Proletariat zu zersplittern und die Wucht seines Ansturmes zu schwächen. Das deutsche Zentrum als Oppositionspartei hatte es billiger. Aber auch es musste doch einzelne Arbeiter wenigstens zu Stadtverordneten und Abgeordneten erwählen lassen.

Die deutsche Regierung dagegen vermochte sich nicht einmal zu dem Versuch aufzuschwingen, durch Gewährung von Ämtern an einzelne Führer oder von Vorteilen an einzelne Schichten des Proletariats dieses zu entzweien. Dazu blieb sie zu sehr vom Junkertum abhängig, das dieser Methode der Sozialistenbekämpfung am entschiedensten widerstrebt. Und sein Grimm über die Sozialdemokratie wuchs gerade in den neunziger Jahren. Sie waren im allgemeinen Jahre eines starken industriellen Aufschwunges, der die Landarbeiter in Scharen vom Lande in die Industriebezirke zog und die Forderungen der Zurückbleibenden steigerte. Dass die Sozialdemokratie und die von sozialdemokratischem Geiste beseelten freien Gewerkschaften alles aufboten, die Lebenshaltung der Massen zu verbessern, ihre Löhne zu erhöhen, ihre Arbeitszeit zu verkürzen, das war eine Tätigkeit, deren Wirkungen jetzt die Junker am eigenen Geldbeutel erfuhren. Um so energischer arbeiteten sie von nun an aus eine gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften hin. Von irgend einem Fortschreiten der Sozialreform war seit der Gewerbenovelle von 1891 an, die schon ungenügend gewesen war, nicht mehr die Rede mit einziger Ausnahme des schüchternen Anlaufs zu einer Erweiterung des Kinderschutzes über das Gebiet der Fabrikarbeit hinaus. Dafür begannen bald die Versuche, die Arbeiterklasse zu knebeln. Schon 1894 kam es zur Vorlage des sogenannten Umsturzgesetzes im Reichstag. Es scheiterte an der Uneinigkeit von Nationalliberalen und Zentrum, welches das Gesetz so zu gestalten suchte, dass es nicht bloß die Sozialdemokratie, sondern auch die bürgerliche Aufklärung traf. Ähnlich ging es mit dem Zuchthausgesetz von 1899, das die Anreizung zum Streik mit Zuchthaus bedrohte. Das war doch selbst vielen bürgerlichen Elementen noch zu starker Tabak. Es fiel. Von da an hat die Regierung es vorgezogen, durch Staatsanwälte und Polizei die ihr durch die bestehende Gesetzgebung schon in so reichlichem Maße gebotenen Waffen gegen das kämpfende Proletariat aufs Rücksichtsloseste auszunutzen. Die Anzahl der Kerkerstrafen wegen Äußerungen in der Presse ist seitdem Legion; nicht minder energisch wie gegen die Presse ist aber in dem letzten Jahrzehnt das Vorgehen der Polizei gegen alle Versuche der Arbeiter, durch Streiks ihre Lage zu verbessern.

Eine neue Etappe auf diesem Wege bildete der jüngste Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, ein Versuch, wirkliche Kampfvereine des Proletariats zu lähmen durch ihre Einschnürung und die Privilegierung von Streikbrechervereinen.

Alles das atmete wieder denselben Geist wie der alte Kurs. Der neue unterscheidet sich schließlich vom alten nur noch dadurch, dass die junkerliche Arbeiterfeindschaft und Profitsucht jetzt noch unverhüllter zutage tritt als ehedem.

Als das Sozialistengesetz 1878 erlassen wurde, da stand die Bourgeoisie noch unter dem Schrecken der Pariser Kommune, da hatten eben die Schüsse der Hödel und Nobiling auf den greisen Kaiser ihr Entsetzen erregt. Da glaubten weite Schichten des Volkes wirklich noch, dass die Sozialdemokratie die ganze Kultur bedrohe, dass ihr Sieg die Auflösung aller gesellschaftlichen Bande bedeute. Seitdem ist fast ein Menschenalter verflossen, in dem die Sozialdemokratie sich gerade als stärkster Schützer der modernen Kultur, als das die unteren Volksschichten in jeder Beziehung erhebendste Element erwiesen hat, wo es keinem vernünftigen Menschen mehr einfällt, sie der Kulturfeindschaft oder der Bilderstürmerei anzuklagen. Heute bezeugen alle Maßregeln zur Erschwerung der Organisation, der Aufklärung, der Kampffähigkeit des Proletariats nur noch das nackteste Ausbeuterinteresse. Und insofern stehen sie noch einige Stufen tiefer als selbst das Sozialistengesetz von 1878.

Dasselbe gilt von der neueren Handelspolitik des neuen Kurses, die durch den Ablauf der 1892 auf zehn Jahre abgeschlossenen Handelsverträge hervorgerufen wurde. Auch sie ist nur ein Rückfall in den alten Kurs, aber auch sie steht noch einige Stufen tiefer als dieser.

Als 1878 die Schutzzollpolitik begann, stand England noch industriell übermächtig auf dem Weltmarkt da, und herrschten auf diesem Überproduktion und Krisis. Als die neueste Schutzzollära eingeleitet wurde, war Deutschland England bereits industriell völlig ebenbürtig geworden und hatte eine neue Ära der Prosperität eingesetzt. 1878 konnte man noch ehrlich glauben, die deutsche Industrie bedürfe zu ihrer Erstarkung des Schutzzolls – wenngleich das damals schon falsch war. In den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts war es offenbar, dass die industriellen Zölle nur noch dazu dienten, die Unternehmerorganisationen zu erleichtern und deren Extraprofite künstlich zu steigern.

Und nun gar die Agrarzölle! In der zweiten Hälfte der siebziger und in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts waren unter dem Andrang der überseeischen Konkurrenz die Preise der Lebensmittel und damit auch die Grundrenten im Sinken. In den neunziger Jahren kam diese Bewegung zum Stillstand und wurde schließlich rückläufig wieder zu einer steigenden.

Nun war die künstliche Erhöhung der Grundrente durch die Agrarzölle schon in den siebziger und achtziger Jahren vom Standpunkt des gesellschaftlichen Interesses – nicht nur des Interesses der Arbeiterklasse, sondern selbst der bürgerlichen Gesellschaft – nicht gerechtfertigt. Die Grundrente bildet die schlimmste und nutzloseste Belastung der Gesellschaft, diese gedeiht um so besser, je geringer jene. Aber ist schon die künstliche Hochhaltung einer sinkenden Grundrente ein Verbrechen gegen die Gesellschaft, was muss dann erst von der künstlichen Steigerung einer ohnehin schon steigenden Grundrente gelten! Unsere Agrarier meinen, es biete für sie eine Entschuldigung, wenn sie darauf hinweisen, dass auch in anderen Ländern, nicht bloß in Deutschland, die Lebensmittelpreise gestiegen seien. Aber das ist, soweit es richtig, nicht nur kein mildernder, sondern ein erschwerender Umstand. Denn das bleibt auf jeden Fall richtig, und das ist ja der Zweck der Zölle, dass sie um ihren Betrag die Preise steigern. Ist es aber schon verwerflich, die Nahrung der arbeitenden Klassen zu verteuern bei sinkenden Lebensmittelpreisen, wie soll man dann erst ein Vorgehen nennen, das bei ohnehin steigenden Lebensmittelpreisen diese noch künstlich erhöht! Kann es etwas Schlimmeres geben als staatlichen Brot- und Fleischwucher in Zeiten allgemeiner Teuerung? Brot- und Fleischwucher, einzig zu dem Zwecke betrieben, eine Parasitenklasse wie das Junkertum nicht nur nicht zu erhalten, sondern auch noch über das bisherige Maß hinaus künstlich von Staats wegen zu bereichern, die von ihr betriebene Ausbeutung zu steigern? Wie zahm sieht dem gegenüber die Bismarcksche Schutzzollpolitik aus, die doch schon schlimm genug war!

So ist in der Arbeiterfeindschaft und der Auspowerung des Volkes zugunsten der Junker der neue Kurs bald wieder der alte Kurs geworden, aber in verschlimmerter Auflage. Dabei ist er fortgefahren, durch den Militarismus das Volk weiß zu bluten – der Militäretat, der 1873 noch 356 Millionen Mark ausmachte, ist bis 1906 auf 868 Millionen angewachsen. In der Flottenpolitik, der Kolonialpolitik, der Weltpolitik ist der Kurs allerdings nicht in die Bismarckschen Bahnen zurückgegangen, da ist der neue geblieben, aber niemand wird behauptest wollen, dass er dadurch ersprießlicher und erfolgreicher geworden wäre.

Diese ganze Politik hat aber das Zentrum getreulich mitgemacht. Ohne seine Unterstützung wäre sie nicht möglich gewesen. Es hat dem neuen Kurs die Ausgaben für Kolonien und Flottenrüstungen wie für das Landheer stets bewilligt, im Gegensatz zu seiner früheren Haltung, wo es dem Militarismus kritisch, der Kolonialpolitik ablehnend gegenüberstand; es hat die Umsturzvorlage ebenso wenig abgelehnt wie den jüngsten Gesetzentwurf über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, und in dem Kampfe für den Brot- und Fleischwucher ist es mit voller Wut gegen die Opposition vorgegangen, deren Mundtotmachung durch einen Staatsstreich es bewirkte.

Und dennoch, trotz alledem jetzt die Auflösung des Reichstags um des Zentrums willen, dieser für die Regierung nützlichsten aller Parteien! Wie wurde das möglich?

d. Die polnische Frage.

So regierungsfreundlich auch das Zentrum geworden ist, so hat es doch eine Reihe von Rücksichten auf oppositionelle Elemente zu nehmen. Das eine davon sind die Polen.

Dass die Polen, soweit sie überhaupt politisch dachten, die Zertrümmerung ihres Staates schmerzlich empfanden und seine Wiederherstellung ersehnten, ist leicht verständlich. Und da die drei Mächte, die Polen geteilt hatten, die selben waren, die die „heilige Allianz" zur Niederhaltung der revolutionären Tendenzen bildeten, so ist es ebenso naheliegend, dass die Polen von einem Siege der Revolution über die heilige Allianz auch den Sieg der polnischen Nationalität erhofften, dass sie an allen revolutionären Erhebungen Europas bis zur Pariser Kommune mitkämpften. Seitdem aber hat in Russland wie in Österreich der Polonismus viel von seinen Schrecken für die bestehende Staatsordnung verloren.

Im österreichischen Galizien bewohnen die Polen nur die eine Hälfte des Landes, die westliche. Den Osten nehmen die Ruthenen ein, fast ebenso zahlreich wie die Polen. In Österreich gehört es aber zu den Traditionen der Staatspolitik, eine Nationalität gegen die andere auszuspielen. Der polnische Nationalismus wurde da nicht ungern gesehen als Gegengewicht gegen den ruthenischen. Ebenso aber auch als ein Russland und dessen Panslawismus feindliches Element. Überdies bildete die herrschende Klasse Polens der Adel, dieselbe Klasse, die Österreich beherrschte. Der polnische Adel half, das Übergewicht des anderen Adels in Österreich zu stärken. Und endlich waren die Polen ebenso gute Katholiken wie die Habsburger. Die Habsburger waren es als Erben der alten Kaiserwürde, im Gegensatz zum kaiserfeindlichen Protestantismus der deutschen Landesfürsten und als Vorkämpfer gegen die Türken; die Polen aber hatten in den letzten Jahrhunderten ihrer staatlichen Existenz ununterbrochen gegen nichtkatholische Mächte zu kämpfen gehabt – die Türken im Süden, die Russen im Osten, Schweden im Norden und Preußen im Westen. Und in dem zerfallenden Staatswesen und seiner feudalen Anarchie erwies sich die kirchliche Organisation als das einzige Band, das die Nation fest zusammenhielt. Wie für die Irländer und aus ähnlichen Ursachen wurde für die Polen die katholische Kirche das kraftvollste Mittel des Widerstandes gegen die ausländischen Unterdrücker. Und so bilden denn auch neben den Irländern die Polen die fanatischsten Katholiken unter den modernen Völkern. Alles das machte sie zu willkommenen Bundesgenossen des Adels, der Kirche, der Dynastie, der Mächte, die Österreich beherrschten. Trotz allen nationalen Sehnens haben sich denn auch die Polen in Österreich sehr wohnlich eingerichtet.

Nicht so gut ging es ihnen in Russland, das den größten Teil der polnischen Nation annektiert hatte. Von den etwa 14 bis 15 Millionen Polen, die in Russland, Österreich und Preußen zusammen wohnen, entfallen auf das erstere etwa 8 Millionen, auf jeden der beiden anderen Staaten über 3 Millionen.

Sibirien und der Galgen sollten der polnischen Nationalität alle Selbständigkeitsgelüste austreiben. Aber schließlich mussten selbst die Staatsmänner des Zaren erkennen, dass auch mit diesen Mitteln ein Volk nicht zu fesseln ist.

Sie suchten im polnischen Volke selbst auf Grund des Klassengegensatzes jene Klasse zu schwächen, die die Seele der nationalen Erhebungen war, sie suchten gegen den Adel die ihm feindlichen Klassen auszuspielen, und da sie dabei im Sinne der ökonomischen Entwicklung wirkten, hatten sie Erfolg. Der polnische Adel hatte sich behauptet auf Kosten der Bauern und der Städte. Seit der Erhebung von 1863 wurden diese begünstigt auf seine Kosten. So entstand ein vom Adel unabhängiger Bauernstand, aber auch eine industrielle Bourgeoisie, die sich um so rascher entwickelte, als ihr der ganze ungeheure russische Markt eröffnet wurde und die Polen den Russen gegenüber die kulturell höherstehende Nation darstellten. Mit der Industrie erstand aber auch ein starkes Proletariat. Die polnische Bourgeoisie, an der Verbindung Polens mit Russland ökonomisch interessiert, suchte auch bei der russischen Regierung Schutz vor dem Proletariat der eigenen Nationalität. Je mehr dieses erstarkte, desto mehr wurde ihr jede revolutionäre Bewegung ein Gräuel. So finden wir denn auch jetzt, während der russischen .Revolution, bei den besitzenden Klassen des russischen Polen keine Spur einer nationalen Bewegung, die auf Polens Losreißung von Russland abzielte. Die „Nationaldemokraten" erweisen sich als Zarenknechte. Der polnische Adel in Russland ist gebändigt und die Bourgeoisie zarentreu. Es gibt nur noch eine revolutionäre Klasse in Russisch-Polen, das Proletariat.

Anders in Preußisch-Polen. Dieses hat für Preußen vor allem die unangenehme Eigenschaft. dass es dicht vor der Residenz liegt. Wenn das Weichselgebiet weit entfernt ist von der Newa und Moskwa (von Warschau nach Petersburg sind es über 1000, nach Moskau über 1200 Kilometer), Galizien weit von Wien (die Entfernung von Krakau nach Wien beträgt über 400 Kilometer), so grenzt die Provinz Posen an Brandenburg, und von Berlin nach der Stadt Posen sind es nur 260 Kilometer. Dabei schiebt sich die Provinz Posen wie ein Keil in den östlichen Teil des preußischen Staates ein und trennt Schlesien von West- und Ostpreußen. So bildet es eine Gefahr für den preußischen Staat, ein Einfallstor von Osten, wenn es von einer diesem Staate feindlichen Bevölkerung bewohnt wird. Man sollte glauben, dass seine Staatsmänner daher mit besonderem Eifer danach getrachtet hätten, gerade diese Provinz durch starke ökonomische Interessen an den Staat zu fesseln. Aber moralische Eroberungen zu machen, entspricht nicht dem Charakter des Junkertums. Es verstand nicht die österreichische Methode, die Polen zu gewinnen, konnte aber auch von der russischen nur den einen Teil akzeptieren, gerade den unwirksamsten, den der gewaltsamen Unterdrückung der Nation. Dagegen wurde es durch seine eigenen Klasseninteressen daran gehindert, den anderen, wirksameren Teil dieser Politik anzuwenden, die Hebung von Bauern und Bürgern, die Förderung der Industrie auf Kosten des großen Grundbesitzes. Im Gegenteil. Während die polnische Industrie in Russland floriert, Polen den reichsten und entwickeltsten Teil des Reiches darstellt, ist Posen kulturell der tiefststehende Teil des preußischen Staates geblieben. So sind zum Beispiel die Volksschulen in Posen am schlechtesten, sie haben in Preußen die höchste Schülerzahl pro Lehrer (durchschnittlich 74!) und die geringste Aufwendung an Mitteln pro Kopf des Schülers (nur 35 Mark).

Daher blieben die Polen in beständiger Opposition gegen das preußische Regime. Als sich nach 1866 die Zentrumspartei bildete, schlossen sich ihr sofort die Polen an; als Katholiken wie als Gegner des preußischen Regimes gehörten sie zu deren energischsten Anhängern. Aber natürlich trug das nur dazu bei, dass die Gegnerschaft der Bismarckschen Regierung sie nun auch doppelt hart traf, als Polen und als Ultramontane.

Der neue Kurs, der als Gegensatz zum Bismarckschen auftrat, äußerte sich zunächst, wie zum Zentrum, so auch zu den Polen freundlich. Aber das dauerte nicht allzu lange. Die polnische Nationalität erstarkte zusehends in Posen und Schlesien. Nicht etwa infolge der Polenfreundlichkeit der Regierung, sondern infolge der unvermeidlichen ökonomischen Entwicklung. Es ist das Los jedes Aufschwunges der Industrie, dass er die agrarische Bevölkerung der näheren und weiteren Umgebung der Industriegegenden mobilisiert und diesen zuführt. So begann auch infolge des industriellen Aufschwunges der neunziger Jahre eine massenhafte Auswanderung polnischer Arbeiter. Zum Teil gingen sie als Landarbeiter in die Industriegegenden, um dort die einheimischen Landarbeiter zu ersetzen, die sich der Industrie zugewandt hatten, zum Teil strömten sie direkt der Industrie zu, namentlich dem Bergbau. Bis an den Rhein gelangten sie als Landarbeiter und Bergleute.

Diese Abwanderung verursachte in Ostelbien eine wachsende „Leutenot" für die Junker, deren willigste und billigste Arbeitskräfte bisher die Polen gewesen waren. Nicht einen direkten Mangel an Arbeitern, aber einen Mangel an willigen und billigen Arbeitern. Die größere Seltenheit steigerte die Ansprüche der Lohnarbeiter. Freilich, nicht alle ausgewanderten Polen blieben in der Fremde. Im Gegenteil, sie liebten es, zurückzukehren, um mit ihren Ersparnissen ein Gütchen zu erwerben oder einen industriellen Kleinbetrieb aufzumachen. Das verbesserte aber nicht die Situation für die Junker. Wohl kamen die Polen nach dem Westen zunächst als Lohndrücker und Streikbrecher. Es war auch schwer, sie dem Sozialismus zuzuführen. Sie blieben gern im kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Denken befangen, suchten sich aus ihrer proletarischen Situation zu emanzipieren nicht durch Emanzipation des Proletariats, sondern durch das Aufsteigen aus dem Proletariat in die besitzende Klasse als Bauern oder Handwerker. Aber immerhin, der Aufenthalt im Westen verfehlte nicht seine Wirkung auf sie. Sie brachten bei ihrer Rückkehr und schon durch ihre Briefe und Geldsendungen an die Zurückgebliebenen neue Ansprüche und erhöhte Widerstandskraft in ihre Heimat. Da sie aber nicht leicht für die Sozialdemokratie zu gewinnen waren, in den alten, überkommenen Denkformen und Idealen befangen blieben, so äußerten sich ihre erhöhten Kräfte und Ansprüche in stärkerer Betonung dieser alten Ideale, in ihrer größeren Widerstandskraft gegen die Unterdrückung ihrer Nationalität und Kirche. Nicht die Ausbeutung und nicht die Staatsgewalt als Kommis der Ausbeutung bekämpft diese Bevölkerung, sondern nur den deutschen und protestantischen Ausbeuter, den deutschen und protestantischen Beamten. Je kraftvoller aber diese Strömung auftritt, desto rabiater wenden sich die Junker und die von ihnen beherrschte Regierung gegen sie, um durch die vermehrte Unterdrückung nur Öl ins Feuer zu gießen, denn die Gewalttat versagt stets einer Massenbewegung gegenüber, die durch die ökonomische Entwicklung erzeugt wird.

So erstarkt im Gegensatz zu Österreich und Russland in Preußen die nationalpolnische reichsfeindliche Bewegung immer mehr und wächst die Wut der Junker und der Regierung darüber in gleichem .Maße.

Das Zentrum aber kommt dadurch in eine fatale Lage, in die jenes Vermittlers, der zwei streitende Drachen miteinander versöhnen wollte und dabei von beiden angepackt wurde. Es kann die Unterdrückungsmaßregeln der Regierung gegen eine so gut katholische Bevölkerung nicht billigen, gerät darob in Gegensatz auch zu den ihm sonst so nahestehenden Konservativen, und doch ist es zu deutsch und zu regierungsfreundlich, als dass es den Deutschenhass und die energische Opposition der Polen gutheißen könnte. Und den katholischen Industriemagnaten Schlesiens wird die nationale polnische Arbeiterbewegung zu rebellisch, trotz ihres unsozialistischen Charakters. So erwirbt sich das Zentrum in der polnischen Frage die Gegnerschaft beider Teile; die Gegensätze spitzen sich hier zu schroff zu, als dass die alte Zentrumsdiplomatie ausreichte und man gleichzeitig Oppositions- und Regierungspartei sein, beide Teile befriedigen könnte.

Ähnlich, wenn auch nicht so schroff, steht es in der Kolonialfrage.

e. Die Kolonialfrage.

Die Kolonialpolitik, das heißt die Besetzung eines überseeischen Landen, bedeutet tatsächlich nichts anderes als die gewaltsame Niederwerfung, Versklavung und Expropriierung seiner eingeborenen Bevölkerung. Einen Landstrich, der bewohnbar und doch unbewohnt wäre, gibt es auf der Erde kaum. Gegenden, die uns als unbewohnt erscheinen, sind es nur mit dem Maßstab europäischer Volksdichtigkeit gemessen. Sie sind dünn bewohnt, weil ihre Bewohner eine Produktionsweise haben, die eine dichtere Bevölkerung nicht verträgt, zum Beispiel Jagd oder nomadische Weidewirtschaft.

Wohl ist auch eine andere Art der Kolonialpolitik denkbar als die eben erwähnte, eine Kolonialpolitik, die eine reine Kulturpolitik wäre: Europäer besetzen einen überseeischen Landstrich, um dessen Bewohnern ihre höhere Produktionsweise zu bringen. Auf diese Weise wird das Land instand gesetzt, eine weit dichtere Bevölkerung zu ernähren, es wird Platz für neue Ansiedler geschaffen, die aus Europa kommen können, und daneben entwickelt sich noch die eingeborene Bevölkerung zu höherem Wohlstand.

Nicht bloß denkbar ist eine solche Art Kolonialpolitik, sie wurde sogar praktisch versucht, in Nordamerika von den Quäkern, einer Art friedlicher, kleinbürgerlicher Sozialisten, die aufkamen, als die kämpfenden sozialistischen Richtungen der englischen Revolution von Cromwell niedergeschlagen worden waren. Wie heute Tolstoi, so verurteilten auch sie jede Gewalttat, und sei es aus Notwehr. Vor den Verfolgungen ihrer Gegner in England flüchteten viele nach Nordamerika, wo namentlich Pennsylvanien anfänglich ganz von ihnen kolonisiert wurde. Getreu ihren Grundsätzen kamen sie den Indianern liebevoll entgegen, und sie hatten es nicht zu bereuen. In allen Nachbarkolonien wurden die Ureinwohner erbarmungslos aus ihren alten Stätten vertrieben, was diese, von Rachedurst und Verzweiflung getrieben, wieder mit ebenso erbarmungslosen Erhebungen beantworteten. In Pennsylvanien dagegen lebten Indianer und Quäker freundschaftlichst zusammen, keinem Quäker wurde von den ersteren je ein Haar gekrümmt.

Aber zeigt das Beispiel Pennsylvaniens, dass eine friedliche, den Wilden Kultur bringende Kolonialpolitik möglich ist, so zeigt es doch auch, dass sie unvereinbar ist mit dem Charakter der kapitalistischen Gesellschaft. Auch in Pennsylvanien wurden die Indianer durch das Anwachsen der weißen Bevölkerung immer mehr zurückgedrängt und zur Auswanderung genötigt. Und wenn die Quäker nicht selbst zu den Waffen griffen, so brachten die Kriege zwischen England und Frankreich um den Besitz Nordamerikas doch Soldaten ins Land, die nicht nur gegen die Franzosen, sondern auch gegen die Indianer Krieg führten.

Heute ist aber eine friedliche Kolonialpolitik nach Art der quäkerischen von vornherein ausgeschlossen. Denn eine solche ist nur möglich in gemäßigten Klimaten, wo der Weiße selbst Handarbeit zu verrichten vermag. Es gibt aber keine Landstriche mehr in den gemäßigten Zonen, die noch als Kolonien erworben werden könnten. Sie sind alle schon von Kulturvölkern besetzt. Als Objekt der Kolonialpolitik bleibt außer Polynesien nur noch das tropische Afrika, wo ein körperliches Arbeiten des Weißen angeschlossen ist. In diese Gegenden kann der Weiße nur kommen entweder als Lehrer, Missionar und Händler, was nicht die Kosten und Mühsale der Besetzung und Festhaltung des Landes, also seine Erwerbung als Kolonie erfordert; ober er besetzt das Land um es zu bewirtschaften und dadurch Profit aus ihm herauszuschlagen; das aber ist nicht möglich ohne Versklavung der Bevölkerung. Denn da der Weiße in den Tropen nicht selbst arbeiten kann, muss er andere, dem Klima besser angepasste Arbeitskräfte für sich arbeiten lassen. Nirgends aber in der ganzen Welt lässt sich eine Volksmasse ausbeuten, ohne dazu gezwungen zu sein, entweder durch physische Gewalt. als Sklaven oder Hörige, oder, durch die Hungerpeitsche getrieben, als Besitzlose. So muss heute jede Kolonialpolitik dahin gehen, die eingeborene Bevölkerung zu versklaven oder zu expropriieren, oder sie auszurotten, um sie durch eingeführte Kontraktsklaven, Kulis, zu ersetzen. Der bloße Besitz der Kolonie, des Landes allein nutzt eben nichts. Nur Arbeit produziert Werte, und willige, botmäßige Arbeitskräfte zu beschaffen ist daher die notwendige Aufgabe jeder Kolonialpolitik. Da die Ethik des Zeitalters der Lohnarbeit die offene Sklaverei verbietet, so werden versteckte Formen für sie gesucht; man legt den Eingeborenen Geldsteuern aus, die sie nicht bezahlen können und daher abarbeiten müssen, oder zwingt sie zu Fronarbeiten. Das einfachste, dem kapitalistischen Gemüt entsprechendste aber ist jenes Verfahren, das auch in Europa an der Schwelle der kapitalistischen Produktionsweise angewandt wurde: man expropriiert das Landvolk und schafft so Massen Besitzloser, die gezwungen sind, sich um jeden Preis zu verkaufen, um nicht zu verhungern. In der Reformationszeit war dies Verfahren sehr beliebt; namentlich die Juristen des römischen Rechtes, das vom Landvolk nicht begriffen wurde, arbeiteten durch ihre Prozesse eifrig an der Expropriierung der Bauern. Wo sich die verzweifelnden Bauern gegen das Schinden und Schaben der hohen Herrschaften erhoben, da wurde diese Erhebung ein willkommener Vorwand für die Obrigkeit, die Expropriierung der „Rebellen" massenhaft und aufs Rascheste durchzuführen.

Dasselbe vollzieht sich heute in Afrika. Man lässt die Eingeborenen Verträge eingehen nach einem Recht, das sie nicht verstehen, und peinigt sie dann „vertragsmäßig" bis aufs Blut. Wenn sie sich verzweifelnd gegen diese Methode erheben, ihnen allmählich ihr Land und Vieh zu rauben, dann um so besser für die Kolonisatoren. Nun sind die Eingeborenen „Rebellen", die um so rascher und gründlicher expropriiert werden. Was sich heute in Südwestafrika vollzieht, das ist nichts als eine Neuauflage des deutschen Bauernkriegs von 1525, aus dem Europäischen ins Afrikanische übersetzt.

Bestialität und Gemeinheit sind also nicht zufällige Anhängsel der Kolonialpolitik; sie gehören zu ihrem Wesen, sind untrennbar mit ihr verbunden. Ihre vornehmsten Träger sind die Kolonialkapitalisten und die Vertreter der kolonialen Staatsgewalt, Beamte und Offiziere.

Neben diesen sind noch Missionare der verschiedenen christlichen Kirchen in den Kolonien tätig, die für ihre Bekenntnisse Proselyten zu machen suchen. Sie stehen der Kolonialpolitik nicht feindselig gegenüber. Im Gegenteil, sie ist ihnen willkommen, insofern sie ihnen im besetzten Lande eine privilegierte Stellung gegenüber den Eingeborenen verleiht. Dies auch der Grund, warum das Zentrum sich so sehr für das Chinaabenteuer begeisterte, das uns bekanntlich nichts brachte, als eine halbe Milliarde Schulden und den Ruf, dass der Deutsche das Plündern ebenso gut versteht wie der Kosak.

Die Missionare arbeiten auch im Sinne des Kolonialkapitalismus, da sie die Eingeborenen zur Arbeit für andere zu „erziehen" suchen. Aber immerhin, diese Erziehung geht für die kapitalistische Habgier zu langsam vor sich; auch sind die Missionare nicht direkt an der kapitalistischen Ausbeutung interessiert und daher nicht blind für ihre Scheußlichkeiten. Es kann ihnen auch nicht angenehm sein, wenn ihr Propagandawerk immer wieder dadurch durchkreuzt wird, dass die christlichen Tugenden, die sie den Eingeborenen predigen, von niemand weniger geachtet werden als von jenen, die als Vertreter christlichen Handels und christlicher Obrigkeit in der Kolonie herrschen, um dort ungezügelt und schamlos in Völlerei und Notzucht, Lüge und Treulosigkeit, Raub und Mord zu exzedieren. Und ebenso wenig kann es den Missionaren passen, wenn die Schäflein, die sie eben mit harter Arbeit für ihren Stall gewonnen haben, nun nicht bloß geschoren, sondern auch gleich hingeschlachtet werden.

So mangelt es nicht an Friktionen zwischen den kolonialen Autoritäten und den Missionen, namentlich den katholischen; ist ja die katholische Kirche die von der Staatsgewalt unabhängigste kirchliche Organisation. Das Zentrum, das so viel dieser Organisation verdankt, kann nicht umhin, bei solchen Friktionen sich der Missionen bei der Staatsregierung anzunehmen.

Es hat aber noch einen anderen Grund, der Kolonialpolitik kritisch gegenüber zu stehen. Die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches ist nicht bloß brutal und grausam – das ist mehr oder weniger jede Kolonialpolitik – sie ist auch ungemein kostspielig. Wie schon gesagt. ist für Deutschland nur der koloniale Abhub übrig geblieben, von dem momentan gar nichts zu holen ist. Dies bildet übrigens einen besonderen Grund zu erhöhter Grausamkeit. Je ärmer die Bevölkerung, desto mehr muss man sie bedrücken, desto schamloser plündern, um etwas Erkleckliches aus ihr herauszuquetschen. Trotz alledem erfordern die deutschen Kolonien reichliche Staatszuschüsse. Nun mag man sich mit dem Gedanken trösten, dass sie einmal ein gutes Geschäft sein werden. Aber bei manchen dürfte das für immer ausgeschlossen sein, zum Beispiel Südwestafrika, von dessen Metallreichtum man uns nun schon seit zwanzig Jahren erzählt. Diese Erzählungen erinnern lebhaft an die Prospekte schwindelhafter Minengesellschaften, welcher Schwindel gerade aus südafrikanischem Boden gut gedeiht und sich als ein vortreffliches Mittel erweist, jenen, die nie alle werden, das Geld aus den Taschen zu ziehen. Aber auch solche deutsche Kolonialgebiete, aus denen einmal etwas werden kann, versprechen nicht, vor einem halben Jahrhundert erhebliche Überschüsse abzuwerfen, sie werden bis dahin Milliarden an Zuschüssen aufgezehrt haben, die dem deutschen Volksvermögen entnommen sind. Und das Ende vom Lied wird sein, dass das deutsche Volk sie mit erheblichen Kosten für andere in die Höhe gebracht hat.

Im Zeitalter des Kapitalismus sind fünfzig Jahre eine furchtbar lange Zeit, ist ein Geschäft, das erst nach fünfzig Jahren aktiv zu werden verspricht, als bankrott anzusehen, denn niemand weiß, wie die Dinge in fünfzig Jahren sein werden. Heute geht jede Bewegung enorm rasch vor sich. Im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts hat sich Südamerika selbständig gemacht, das zwanzigste Jahrhundert begann mit der Mündigkeitserklärung Asiens, binnen kurzem werden wir aber auch starke Afrikanerbewegungen erwachsen sehen, eine in Südafrika, das bald ebenso selbständig sein wird wie Australien und Kanada, und eine islamitische, von Ägypten ausgehend und nach der Südküste des Mittelmeers und dem Sudan ausstrahlend. Diese beiden Bewegungen werden binnen wenigen Jahrzehnten kraftvoll genug sein, die Selbständigkeit Afrikas herbeizuführen.

Professor F. v. Luschan, der Nachfolger Bastians als Direktor des Völkermuseums in Berlin, äußerte sich unter anderem darüber in einem Vortrag am 17. Februar 1906:

Es ist lehrreich, zu beobachten, wie das farbige Element in der eigentlichen Kapkolonie und besonders in der Hauptstadt stetig zunimmt. Es ist dies um so auffallender, als gerade Kapstadt und Umgebung ein für Europäer fast ideal gesundes Klima haben und speziell auch von Lungenkranken aus England sogar für Heilzwecke aufgesucht werden. Aber während noch vor zwanzig Jahren ein Weißer in Kapstadt auf drei Farbige kam, so sind nach der amtlichen Statistik heute schon fünf Farbige auf einen Weißen zu rechnen. Dabei erobern sich die Farbigen allmählich immer zahlreichere, sozial höher stehende Positionen. Augenblicklich liegt sogar ein wichtiges Dezernat im Gemeinderat von Kapstadt, das für Gesundheitspflege, in den Händen eines Dr. Abdurahman, eines sehr dunklen mohammedanischen Eingeborenen mit Neger- und Malaienblut. Dieser ist auch die Seele der sogenannten äthiopischen Bewegung, die unter dem Motto: ,Afrika für die Afrikaner' ständig an Boden gewinnt. Schon jetzt sehen wir, dass überall in Südafrika die Eingeborenen sich bemühen, sogar ihre weißen Missionare allmählich durch schwarze zu ersehen, und ebenso wird behauptet, dass von amerikanischen Negern diese Bewegung in Jahr für Jahr zunehmender Weise und mit immer größeren finanziellen Mitteln geschürt würde" („Zeitschrift für Ethnologie", 6. Heft, 1906, S. 894).1

Dem deutschen Volke fallen die Kosten seiner Kolonialpolitik zu. Deren Früchte wird es nicht mehr ernten – soweit sie überhaupt welche tragen sollte.

Die herrschenden Klassen kümmert das nicht. Sie zahlen nicht die Kosten der Kolonien bei dem heutigen Steuersystem, sie sind aber heute schon imstande, als Kaufleute, Plantagenbesitzer, Lieferanten, Beamte und Offiziere aus den Kolonien Profite zu ziehen. Dass dies nur zum geringsten Teil auf Kosten der so armen kolonialen Bevölkerung möglich, dass der Löwenanteil an diesen Profiten von den arbeitenden Klassen Deutschlands zu zahlen ist, kümmert sie nichts. Wie die Staatsschulden und der Militarismus sind auch die Kolonien für sie ein Mittel, das arbeitende Volk von Staats wegen auszuplündern. Ihre patriotische Begeisterung dafür kennt also keine Grenzen.

Anders steht's aber mit den Proletariern, Kleinbürgern und Bauern. Ihnen bieten die Kolonien nicht die mindesten Vorteile, sie haben bloß die Zeche zu zahlen. Kein Wunder, dass in ihren Kreisen der Unmut über unsere Kolonialpolitik wächst. Dem muss das Zentrum Rechnung tragen, denn seine Kraft zieht es ja hauptsächlich aus diesen Klassen.

Als Regierungspartei opponiert es freilich nicht mehr der Kolonialpolitik prinzipiell. Das tut nur die Sozialdemokratie als Vertreterin aller Unterdrückten und Enterbten. Aber es muss doch trachten, ihre schlimmsten Brutalitäten zu verhindern, ihre tollsten Extravaganzen einzuschränken, ihre Kosten etwas herabzumindern. Als Regierungspartei versuchte es dies in der schonendsten Form, möglichst wenig durch offene Aufdeckung aller Schäden, sondern nur durch freundschaftliche private Vorstellungen. Freilich, ganz konnte es auf die öffentliche Kritik der Kolonialschäden nicht verzichten. Die braucht es, um vor seinen Wählern damit zu prunken. Aber auch da blieb es beim Reden, bei den Abstimmungen kam es der Regierung möglichst weit entgegen.

Indes selbst diese milde Form der „Nebenregierung" wird unseren herrschenden Klassen unerträglich. Ihre koloniale Habgier verträgt nicht die mindesten Schranken mehr, und so jubelten sie alle begeisterte Zustimmung dem Manne mit dem robusten Gewissen zu, der der kolonialen „Nebenregierung" den Fehdehandschuh hinwarf und die völlige Unabhängigkeit der Regierung von jeder parlamentarischen Beeinflussung proklamierte. Unser Freisinn – dass Gott erbarm – sah in dieser Erklärung des nacktesten Absolutismus die Morgenröte, die endlich für den Liberalismus im Deutschen Reiche aufgeht.

f. Das allgemeine Wahlrecht und das persönliche Regiment

Wie in der Polenfrage und der Kolonialfrage ist auch in der Arbeiterfrage das Zentrum den herrschenden Klassen unangenehm geworden, weil es Arbeiterwähler hat, auf die es unter dem allgemeinen Wahlrecht Rücksicht nehmen muss. Wohl geht es auch hier wie bei den Polen und den Kolonien; Die Opposition des Zentrums äußert sich fast nur im Reden; bei den Abstimmungen wirkt es als gute Regierungspartei. Aber immerhin, es hat Arbeiter hinter sich, und das erscheint unseren Scharfmachern schon als ein Verbrechen. In manchen Wahlkreisen wirkt es doch als ein gewisses Hemmmittel gegen eine Paschawirtschaft. die sich schrankenlos austoben möchte; so namentlich in Bergwerksgegenden, im Saarrevier und Ruhrrevier; seine Arbeiterorganisationen sind nicht ganz die Streikbrecherkolonnen, zu denen sie das Zentrum selbst gern machen möchte. Die herrschenden Klassen Deutschlands, die Junker und Scharfmacher, merken aber nicht, dass die Zentrumsmethode, weit entfernt, der Sozialdemokratie Vorschub zu leisten, vielmehr nur eine schwächliche Anwendung der angelsächsischen und jetzt auch französischen Methode der Zersplitterung und Korrumpierung der Arbeitermassen ist, die der Sozialdemokratie weit größere Hindernisse in den Weg legt als selbst die schärfste Verfolgung. In ihrer Habgier und ihrer dünkelhaften Brutalität und Kurzsichtigkeit vertragen sie nicht einmal die geringen Schranken, die ihnen die Zentrumspolitik auferlegt, spüren sie nicht, wie sehr sie sich dadurch ins eigene Fleisch schneiden.

So ist in einem großen Teil der herrschenden Klassen Deutschlands nach und nach eine Missstimmung gegen das Zentrum erwachsen, die sich jetzt Luft gemacht hat. Auch das ist nur eine Wirkung der Verschärfung der Klassengegensätze in Deutschland. Sie machen die schlaue Doppelrolle des Zentrums immer unmöglicher. Es geht immer schwerer, gleichzeitig Regierungspartei und Oppositionspartei zu sein, gleichzeitig durch den Absolutismus und das allgemeine Stimmrecht zu herrschen. So ist es momentan wieder mehr in die Opposition gedrängt worden.

Der jetzige Kampf zwischen Regierung und Zentrum ist aber nur an der Oberfläche ein Kampf zwischen Volksvertretung und persönlichem Regime. Es gibt heute keine bürgerliche Partei in Deutschland, die den Mut und das Bedürfnis hätte, den Kampf gegen das persönliche Regime aufzunehmen. Sie alle kämpfen nur um, nicht gegen das persönliche Regime. Das gilt selbst von den bürgerlichen Parteien der äußersten Linken. Was predigte uns denn Herr Naumann anderes, als die Sozialdemokratie solle trachten, Macht zu gewinnen dadurch, dass sie dem persönlichen Regime zu willen ist; die Sozialdemokratie sollte also in der Weise politische Macht erobern, wie sie die Pompadour und Dubarry unter Ludwig XV. in Frankreich eroberten? Und diese Methode des politischen Dirnentums, sie ist die Methode der ganzen bürgerlichen Welt Deutschlands geworden. Wohl gibt es keine politische Partei in Deutschland, die nicht gegen das persönliche Regiment zu Felde gezogen wäre, aber das zeigt nur, wie dieses Regiment wechselvoll ist und dass es nach einander schon die verschiedensten Parteien enttäuscht hat. Die Enttäuschten zetern indes bloß über das persönliche Regiment, weil sie nach seiner Gunst verlangen. Der Fetischanbeter hört nicht auf, an seinen Fetisch zu glauben, wenn er ihn prügelt, weil er ihm nicht seinen Willen tut. Im Gegenteil, er prügelt ihn gerade deswegen, weil er an ihn glaubt. Und weil er ihn heute prügelt, wird er ihn morgen wieder anbeten.

Nicht eine Rebellion des Zentrums gegen das persönliche Regime ist das Charakteristikum der heutigen Situation, sondern eine Rebellion der von Junkertum und Scharfmachertum geführten herrschenden Klassen gegen das allgemeine Wahlrecht.

Das Zentrum ist die einzige große bürgerliche Partei, die noch am allgemeinen Wahlrecht interessiert ist, die einzige, die noch erhebliche Massen von Proletariern und ihnen nahestehenden Schichten als freiwillige Kämpfer, nicht bloß als widerwillige Hörige hinter sich hat. Es kann nicht das allgemeine Wahlrecht aufgeben, ohne diese Klassen aufzugeben; es kann unter dem allgemeinen Wahlrecht nicht gegen diese Klassen offen austreten, ohne zusammenzubrechen.

Darum jetzt die Kriegserklärung gegen das Zentrum von jenen Parteien, denen das allgemeine Wahlrecht (hier natürlich immer auch im Sinne des gleichen, geheimen, direkten genommen), ein Dorn im Auge ist.

Der Kampf gegen die Arbeiterklasse, gegen das allgemeine Wahlrecht als dasjenige politische Recht, das diese Klasse am meisten begünstigt; endlich der Kampf gegen jene Parteien, die Arbeiterwähler hinter sich haben und am allgemeinen Wahlrecht interessiert sind, das ist die Signatur der jetzigen Lage in Deutschland. Dieser Kampf ist nicht ein Ergebnis persönlicher Launen, er ist ein Produkt der zunehmenden Verschärfung der Klassengegensätze und der Herrschaft des junkerlichen Geistes – ein Ergebnis von Ursachen, die aus mächtigen ökonomischen Verhältnissen hervorgehen und stärker sind als jeder persönliche Einfluss; von Ursachen, die immer mehr an Kraft wachsen. Insofern ist der jetzige Konflikt ein den Verhältnissen notwendig entspringender und einer, der sich rasch verschärfen muss; er ist nur die Einleitung weit gewaltigerer Kämpfe. Aber ein eigenartiges Gepräge erhält dieser Konflikt durch persönliche Momente, die jedenfalls dem persönlichen Regime entspringen, wenn es auch für jemand, der nicht in der Lage ist, hinter die höfischen Kulissen zu gucken, unmöglich ist, den Anteil einzelner Personen an den Vorkommnissen der letzten Zeit ganz bestimmt abzugrenzen.

Persönlichen Momenten ist es vor allem zuzuschreiben, dass die Regierung dem Drängen nach einem Konflikt mit dem Zentrum nachgegeben hat. Sie hätte das nicht getan, wäre sie von weitsichtigen Staatsmännern geleitet. Wohl ist jeder Staatsmann, jeder Politiker abhängig von der Klasse, deren Interessen er verficht und aus deren Kraft er allein seine Macht schöpft. Aber das ist doch nicht so aufzufassen, als ob er ihre willenlose Puppe darstellte. Ein weitsichtiger Politiker wird sich über die Beschränktheit und Kurzsichtigkeit der von Augenblicksinteressen gelenkten Genossen seiner Partei erheben; ein großer Politiker aber ist man nur dann, wenn man nicht bloß weiter sieht als die Cliquen der Augenblickspolitiker, sondern wenn man auch die Gabe besitzt, die für seine Politik maßgebenden Faktoren von der Richtigkeit seiner Politik zu überzeugen, und wenn man Mut und Unbeugsamkeit genug hat, gegenüber kraftvollen Gegnern nicht nur aus den feindlichen Klassen und Parteien, sondern aus der eigenen Klasse und Partei seine Überzeugung energisch zu vertreten. Weitblick, Überredungsgabe, Mut und Unbeugsamkeit, das sind vereint die Kennzeichen des großen Politikers. Die zweite Eigenschaft allein bildet nur hohle Schwätzer.

Besäße die deutsche Regierung Weitblick und Unbeugsamkeit. dann hätte sie allem Drängen nach einem Bruch mit dem Zentrum entschiedenen Widerstand geleistet. Denn so unbequem dessen Rücksichten auf manche Volksschichten den Junkern und Scharfmachern sein mögen, ein weitblickender konservativer Staatsmann musste sich sagen, dass die Herrschaft des Junkertums und des Kapitalismus um so sicherer steht. je größere Schichten der arbeitenden Klassen im konservativen Sinne wirken, und dass keine Partei besser geeignet ist, das zu bewirken, als das Zentrum. Die vorübergehenden Unbequemlichkeiten der Zentrumsdemagogie werden durch ihre Verdummung und Einlullung der Massen für die herrschenden Klassen hundertfach aufgewogen.

Es ist aber auch Tatsache, dass Junker und Scharfmacher ohne Zentrum gar nicht mehr regieren können, das von denselben Klasseninteressen beherrscht wird, die von jenen ausgehen. Zentrum und Regierung werden sich immer wieder finden müssen. Um so unsinniger ein Konflikt, der dieses Sich-Wiederfinden so erschwert und der es unmöglich macht, dass die lieben Brüder sich aussöhnen, ohne dabei das Prestige, welches sie bei glaubensseligen Gemütern noch haben, aufs Tiefste zu erschüttern.

Hielt aber die Regierung trotzdem den Konflikt mit dem Zentrum für unvermeidlich, so war es reiner Wahnsinn, ihn bei der Gelegenheit des Hottentottenkriegs vom Zaune zu brechen; wegen einer geringfügigen Forderung, nachdem das Zentrum fast alles bewilligt; wegen eines Krieges, in dem es sich nicht um große materielle Interessen des Volkes, sondern nur um jenes lächerliche Phantom von „Waffenehre" handelt, die es erfordert, dass ein paar hundert armer nackter Landstreicher von einer mit allen Behelfen moderner Technik ausgerüsteten zwanzigfachen Übermacht zu Tode gehetzt werden; wegen eines Krieges, den die eigene Unfähigkeit und Brutalität heraufbeschworen; eines Krieges, der dem deutschen Volke nie irgendwelchen Vorteil bringen kann, der aber schon eine halbe Milliarde gekostet hat.

Um deswillen ein Konflikt mit dem Zentrum vom Zaune gebrochen und der Reichstag aufgelöst im Jahre der Fleischnot, unmittelbar nach der Skandalaffäre Tippelskirch-Podbielski, nach der Niederlage von Algeciras!

Aber alle diese Tollheiten genügen noch nicht dem jetzigen Kurse. Um das Zentrum zu depossedieren, will er den Freisinn zur Regierungspartei machen; er hofft die stärkste, widerstandsfähigste und zäheste der bürgerlichen Parteien Deutschlands durch die schwächste und haltloseste unter ihnen zu verdrängen, die nur noch dadurch existiert, dass alle Welt, Revolutionäre wie Reaktionäre, sie für das „kleinere Übel" hält, das heißt für unbedeutender und harmloser als jede andere Partei. Und er hofft, einen zuverlässigeren und willigeren Bundesgenossen des agrarischen Strebens nach Ausbeutung der städtischen Elemente zugunsten des Grundbesitzes in der städtischen Intelligenz zu finden, die noch dem Freisinn seinen Charakter gibt, als in den katholischen Bauern, die das Rückgrat des Zentrums ausmachen!

Freilich, die Sinnlosigkeit und Jämmerlichkeit dieser Rechnung war nicht größer als die des Freisinns, der sich allen Ernstes einbildete, seine Zeit sei nun gekommen. Sollte aber aus dieser beiderseitigen Sinnlosigkeit und Jämmerlichkeit wenigstens ein vorübergehendes harmonisches Zusammenwirken und eine Kräftigung dieses würdigen Brüderpaars erstehen, dann musste die Regierung doch alles aufbieten, das Prestige des neuen Bundesgenossen möglichst zu heben. Statt dessen sucht sie ihm durch einen Wahlaufruf unter die Arme zu greifen, in dem sie offen proklamiert, dass sie den Freisinn für verkommen und stupid genug hält, den Kurs der Fleischverteuerung, der kolonialen Abenteuer, der Schulverpfaffung, der Reaktion auf allen Gebieten ohne die geringste Gegenleistung, und sei es nur ein schäbiges Trinkgeld, begeistert zu unterstützen.

Fürst Bülow glaubt, die Gunst der Dame, um die er wirbt, am ehesten dadurch zu gewinnen und ihr Ansehen dadurch zu heben, dass er in alle Gassen hinausschreit, sie sei eine feile Dirne, die sich ohne Bedenken dem ersten besten hingebe, der ihr winkt.

Das ist eine Tollheit, in der auch der patriotischste Untertan keine Methode mehr entdecken wird.

Und dies Regime wagt es noch, mit dem Degen Bonapartes zu drohen. Vor dem Degen Bonapartes zitterte ganz Europa; dieser Degen hatte sein Vaterland aus den schlimmsten Gefahren errettet; er wurde geführt zur Verfechtung der Errungenschaften der großen Revolution für die große Masse und doch hätte es Bonaparte für eine Torheit gehalten, jemals mit diesem Degen zu drohen, seinen Staatsstreich vorher anzukündigen, damit zu prahlen. Einen Staatsstreich gegen das allgemeine Wahlrecht hat aber kein Bonaparte gemacht und gewagt, weder der erste noch der dritte. Der eine wie der andere stürzte ein bürgerliches Regime, das das allgemeine Wahlrecht abgeschafft und dadurch seine eigene Existenzfähigkeit untergraben hatte.

Auch der neue Kurs wusste bei seinem Beginn noch die Gefahren einen Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts zu ermessen, und er hinderte Bismarck wohlweislich an diesem halsbrecherischen Unternehmen. Heute stehen indes die Chancen eines solchen noch weit schlimmer als vor zwanzig Jahren. Damals entfielen auf die Sozialdemokratie ein Zehntel der abgegebenen Stimmen, bei der letzten Wahl ein Drittel. Das geringste Attentat auf das allgemeine Wahlrecht bringt heute die Mehrheit der Bevölkerung unter die Fahnen der Sozialdemokratie.

Gegen unsere Partei aber stand damals ein Politiker, der die Kriege siegreich geführt hatte und von der Masse des deutschen Volkes aufs Höchste verehrt wurde, weil sie in ihm den Mann sah, der das jahrhundertelange Sehnen der Nation erfüllte und sie in einem Staatswesen vereinigte, das als Schiedsrichter Europas auftreten durfte. Ein Politiker, der wusste, was er wollte und seinen Weg ging, unbeirrt durch höfische Intrigen und die Angriffe kurzsichtiger Parteigenossen. Heute droht uns mit dem Degen Bonapartes ein Regime, dessen kriegerische Trophäen in den Vorschusslorbeeren Waldersees und dem Strick des Hängepeters bestehen; das Deutschland in völlige Isolierung unter den Weltmächten versetzt und es ohne jeden Grund an den Rand eines Weltkrieges gebracht hatte. Das in der inneren Politik haltlos im Zickzack hin und her schwankt, jedem höfischen Windhauch gehorchend, groß in Worten und ohne jede Tat, ohne jedes andere Ergebnis, als wachsende Unzufriedenheit und Verwirrung selbst unter den eigenen Anhängern.

Bismarcks Macht brach vor den Parteien zusammen, die aus dem allgemeinen Wahlrecht ihre Kraft zogen, und doch war er ein Mann von Eisen, der ganz Europa imponierte. Heute wächst wieder die Gegnerschaft gegen das allgemeine Wahlrecht. Sie ist insofern ernster als vor zwanzig Jahren, als sie nicht mehr den Bedürfnissen eines einzelnen Mannes entspringt, sondern denen mächtiger Klassen. Aber unsere Gegner von heute werden nicht mehr von weitblickenden Kämpfern geleitet, sondern von Schwätzern und Höflingen. Noch nie standen wir vor ernsteren Konflikten wie jetzt. Aber auch noch nie wurden unsere Gegner erbärmlicher geführt wie diesmal. Die Kämpfe, denen wir entgegengehen, entspringen einer ehernen Notwendigkeit, sie sind unvermeidlich. Jedoch die zufälligen, persönlichen Momente, die der neue Kurs in sie einführt, geben uns die Gewähr, dass wir in diesen Kämpfen den Sieg rascher und mit geringeren Opfern werden erringen können, als uns sonst beschieden gewesen wäre.

Die erste Probe davon wird der 25. Januar geben.

1 In demselben Vortrag weist Professor Luschan auch auf die Unwissenheit vieler Kolonialbeamten hin, die überflüssige, ja dem kolonisierenden Lande selbst schädliche Misshandlungen der Eingeborenen herbeiführt. Sicher werden die durch die ökonomischen Gegensätze herbeigeführten Grausamkeiten der Kolonialpolitik durch Unwissenheit noch unnötig verschärft. Es heißt in dem Vortrag:

Was ich selbst seit Jahren schon immer und immer wieder von neuem hervorhebe, das wurde mir im persönlichen Verkehr von mehreren sehr hochgestellten britischen Kolonialbeamten als das Hauptergebnis ihrer vieljährigen Erfahrungen bezeichnet: dass alle europäischen Beamten in den Schutzgebieten früher oder später scheitern oder zu Fall kommen, wenn sie die Eingeborenen schlecht, das heißt roh, geringschätzig, grausam und ungerecht behandeln, während andererseits wirkliche Erfolge auf kolonialem Gebiet immer nur von denjenigen Europäern erzielt werden, die sich persönlich für den Eingeborenen interessieren, das heißt sich mehr oder weniger praktisch mit Völkerkunde beschäftigen.

Aber noch gehört in den meisten Kolonialstaaten die Völkerkunde nicht zu den offiziell anerkannten Disziplinen bei der Vorbereitung zum Tropendienst, und noch immer gibt es daher da und dort Europäer, die den ,Wilden' unterschätzen und ihn deshalb, wie traurige Erfahrungen immer wieder von neuem zeigen, in der denkbar brutalsten Weise misshandeln. Ich bitte deshalb um die Erlaubnis, hier … wörtlich eine Stelle auf einem Vortrag zitieren zu dürfen, den ich im Jahre 1899 auf dem siebenten internationalen Geographentag in Berlin gehalten habe:

Vor allem aber muss gefordert werden, dass der Völkerkunde wenigstens bei der Ausbildung von Kolonialbeamten die sichtende Stellung eingeräumt wird, die ihr von Rechts und Vernunfts wegen gebührt. Das ist eine Forderung nicht nur der Wissenschaft, sondern auch eine Forderung der Moral und des nationalen Wohlstandes.'

Ich stehe noch heute ganz auf diesem Standpunkt und bin vollkommen davon überzeugt, dass auch unser letzter Krieg in Südafrika leicht zu vermeiden gewesen wäre und dass er einfach nur eine Folge der Geringschätzung ist, welche in den damals leitenden Kreisen den Lehren der Völkerkunde gegenüber herrschte“ (a. a. O., S. 893)

So ein Professor an der Berliner Universität, dem niemand Gehässigkeit gegen die deutsche Regierung oder prinzipielle Ablehnung jeder kolonialen Betätigung zutrauen wird. Seiner Forderung aber hat man jetzt in der Weise entsprochen, dass man über die Assessoren und Offiziere, die in den Kolonien herrschen, nicht einen Ethnologen setzte, sondern einen Bankdirektor, dem die Ethnologie wie jede Wissenschaft ein böhmisches Dorf ist, der es aber freilich meisterhaft versteht, mit größter Sicherheit von Dingen zu reden, in denen er ebenso zu Hause ist wie auf dem Monde. Dafür erntet er auch den stürmischen Beifall der Blüte der bürgerlichen deutschen Wissenschaft.

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