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Karl Kautsky 19070327 Kannibalische Ethik

Karl Kautsky: Kannibalische Ethik

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 1. Band (1906-1907), Heft 26 (27. März 1907), S. 860-869]

Auf die Haupteinwände, die ich gegen die Kritik des Genossen Quessel an meiner Erwiderung erhob, geht dieser in seiner Replik nicht ein. Er spricht des Langen und Breiten über ein paar nebensächliche Bemerkungen, die ich über Schamgefühl, Ehre, Blutschande gemacht, bringt einen völlig neuen Gegenstand in die Debatte, den Kannibalismus, aber über die Hauptpunkte geht er schweigend hinweg.

Als den Grundfehler seines Standpunktes hatte ich die Auffassung bezeichnet, die in der Sittlichkeit nicht ein Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft sieht, sondern bloß eines zwischen Individuum und Individuum. Ich leite die Sittlichkeit aus der Bedeutung ab, die der gesellschaftliche Zusammenhang für die Existenz des Menschen hat, und suche die Keime der Sittlichkeit schon in der Tierwelt, weil in ihr schon die Keime gesellschaftlichen Lebens zu finden sind. Ich weise dann nach, dass Quessel zu seinen Behauptungen zum Teil durch ein Zusammenwerfen verschiedener Begriffe kommt, dass er die Amoralität, den Mangel an sittlichem Empfinden der Wilden, durch Tatsachen zu erweisen glaubt, die nur zeigen, dass die sittlichen Normen des Wilden andere sind als unsere, und endlich, dass er sich dabei auf das ganz falsche Bild stützt, das Bücher vom Wilden entworfen hat. Dass dieser keineswegs stumpfsinnig, jeglichen Interesses für die Genossen bar sei, dass Kindesmord und die Tötung von Alten und Kranken gar nicht die Bedeutung hätten, die Quessel ihnen zuschreibe.

Auf alles das erwidert dieser mit keiner Silbe. Er glaubt sich dadurch zu retten, dass er nicht etwa beweist, meine an Bücher geübte Kritik sei falsch, sondern dass er behauptet, das, was der liberale Professor sagt, lasse sich „zur Not" auch aus den Schriften von Darwin, Morgan und Engels nachweisen.

Aber auch von denen kann er keine Silbe dafür anführen, dass der Wilde keine Moral kenne. Sondern das Bild, das Bücher vom Wilden entworfen, soll durch Darwin, Morgan und Engels dadurch bestätigt werden, dass diese bei den Wilden Kannibalismus finden. Das ist richtig. Aber Genosse Quessel hätte sich dafür noch auf einen anderen Autor berufen können, der in dieser Frage genau dasselbe sagt wie Darwin, Morgan, Engels, nämlich den Verfasser der von ihm bekämpften Schrift. In meiner „Ethik", S. 98, sage ich vom Urmenschen, der vom waffenlosen, baumbewohnenden Affenmenschen zum bewehrten Jäger wird, dieser gewöhne sich daran, Blut zu vergießen, fremdes Leben zu nehmen.

Dazu kommt ein Umstand, auf den schon Engels hingewiesen hat. um die Menschenfresserei zu erklären, die in diesem Stadium häufig vorkommt: die Unsicherheit der Nahrungsquellen. … Da drängt die Not einen Stamm von Wilden leicht zu einem Kampfe auf Leben und Tod mit einem benachbarten Stamme, der einen guten Jagdgrund besetzt hat; da treiben ihn Kampfeswut und quälender Hunger schließlich sogar dahin, den Feind nicht bloß zu erschlagen, sondern auch zu verzehren.

Auf diese Weise entfesselt der technische Fortschritt Kämpfe, die dem Affenmenschen ganz ferne lagen, Kämpfe nicht mit Tieren anderer Art. sondern mit Gattungsgenossen selbst. … Nichts irrtümlicher als die Ansicht, dass die fortschreitende Kultur und steigendes Wissen notwendig auch höhere Humanität mit sich bringt. Man könnte vielmehr sagen, der Affe sei humaner, also menschlicher als der Mensch" (S. 98, 99).

Etwas anderes sagt auch Darwin nicht in dem von Quessel vorgebrachten Passus aus dem Schlusse seines Werkes, wo jener nicht etwa die Amoralität der Wilden beweisen, sondern zeigen will, dass für unser sittliches Empfinden der Gedanke der Abstammung vom Affen nicht abstoßender zu sein braucht als der der Abstammung vom Wilden.

Darwin ist weit entfernt davon, den Wilden jede Spur von sittlichem Empfinden abzusprechen. Er hat vielmehr überzeugend nachgewiesen, dass sie eine Moral haben, aber allerdings eine andere als wir. Er kennzeichnet das treffend mit den Worten: Soziale Tugenden werden von den Wilden allein geachtet. Tugenden, die das Individuum betreffen, werden erst auf späterer Entwicklungsstufe erlangt. In seinem Werke über die Abstammung des Menschen sagt er (1. Teil, 4. Kapitel):

Wir haben nun gesehen, dass Handlungen von Wilden für gut oder schlecht gehalten werden und wahrscheinlich auch vom Urmenschen so betrachtet wurden, nur insofern sie in einer auffallenden Weise die Wohlfahrt des Stammes, nicht die der Art, ebenso wenig die des Menschen als eines individuellen Mitglieds des Stammes betreffen. Diese Folgerung stimmt sehr gut mit dem Glauben überein, dass das sogenannte moralische Gefühl ursprünglich den sozialen Instinkten entstammte, denn beide beziehen sich zunächst ausschließlich auf die Gesellschaft. Die hauptsächlichsten Ursachen der niedrigeren Moralität Wilder, wenn sie nach unserem Maßstab beurteilt wird, sind erstens die Beschränkung der Sympathie auf denselben Stamm, zweitens unzureichendes Vermögen des Nachdenkens, so dass die Beziehungen vieler Tugenden, besonders der das Individuum betreffenden, zu der allgemeinen Wohlfahrt des Stammes nicht erkannt werden. So erkennen zum Beispiel Wilde die mannigfachen Übel nicht, welche einem Mangel an Keuschheit, Mäßigung usw. folgen. Und drittens ist als Ursache der niederen Moralität Wilder die schwache Entwicklung der Selbstbeherrschung zu nennen, denn dieses Vermögen ist noch nicht durch lange fortgesetzte, vielleicht ererbte Gewohnheit. durch Unterricht und Religion, gekräftigt worden.“

Über den letzteren Punkt wird man vielleicht anderer Ansicht sein können; wenn man bedenkt, wie gewissenhaft die Wilden ihre Eheverbote beobachten, wie standhaft sie Martern zu erdulden wissen, wird man ihre Selbstbeherrschung nicht gering anschlagen und den Unterschied zwischen uns und ihnen mehr in den Objekten sehen, denen gegenüber Selbstbeherrschung geübt wird. Mancher Akt von Selbstbeherrschung des Wilden erscheint uns als törichter Aberglaube, indessen der Wilde wieder manchen Akt von Selbstbeherrschung des zivilisierten Menschen, zum Beispiel die Achtung Hungernder vor den überflüssigen Nahrungsmitteln anderer, als völlig sinnlos betrachtet.

Aber wie dem auch sei, der Passus beweist deutlich, dass Darwin beim Wilden nicht das Fehlen jeglicher Moral, sondern nur eine andere Moral als die unsere feststellte.

Ebenso wenig wie Darwin sehen Morgan und Engels im Kannibalismus einen Beweis für die Moralitätslosigkeit des Urmenschen, sondern nur für die Unsicherheit ihrer Nahrungsquellen, worin ich ihnen hier folge.

Übrigens muss ich Engels dagegen in Schutz nehmen, dass er sich so komisch ausgedrückt habe, wie Quessel ihm unterschiebt. Dieser sagt:

Auch Friedrich Engels nimmt an, dass der Urmensch sich außerhalb der subtropischen Wälder nur erhalten konnte mittels der Menschenfresserei, da alle anderen Nahrungsquellen bei primitiver Kultur andauernde Unsicherheit aufweisen" (Engels, „Der Ursprung der Familie", S. 8).

Danach müsste man annehmen, Menschenfleisch sei eine regelmäßige und zwar die einzige regelmäßige Nahrung des Wilden gewesen, er habe sich nur durch sie erhalten können. Eine solche Praxis hätte natürlich nicht zur Erhaltung, sondern zur raschen Ausrottung des Menschengeschlechts geführt. Tatsächlich kommt bei den Wilden Menschenfresserei nur gelegentlich, oft ganz ausnahmsweise, unter günstigen Verhältnissen gar nicht vor.

Engels drückt sich denn auch viel vorsichtiger aus. Er sagt:

Infolge andauernder Unsicherheit der Nahrungsquellen scheint auf dieser Stufe die Menschenfresserei aufzukommen, die sich von jetzt an lange erhält."

Das ist alles. Man muss schon sehr salopp lesen oder denken, wenn man diesen Gedankengang mit den Worten ausdrückt. dass „sich der Urmensch außerhalb der subtropischen Wälder nur erhalten konnte durch Menschenfresserei". Friedrich Engels behauptet nichts derartiges.

Mit dieser Zitiermanier kann man natürlich alles mögliche beweisen. Immerhin reicht sie nicht aus, Darwin, Morgan, Engels direkt als Zeugen für die Amoralität der Wilden auftreten zu lassen. Dazu bedarf es noch einer Nachhilfe. Quessel behauptet frischweg, dass Menschenfresserei und Gewissen einander ausschließen. Nur aus der „bösartigsten, unsozialsten, mit den wildesten Raubtierinstinkten ausgestatteten menschenköpfigen Affenart" konnte der Urmensch abstammen, der nur um den Preis der Menschenfresserei die ihm von der Natur gezogenen Grenzen seiner Ausbreitung zu überschreiten vermochte. Und diese Affenart „soll bereits mit einem Gewissen ausgestattet gewesen sein? Das glaube, wer's kann!"

Ich bin so frei, dies zu glauben, denn sittliche Entrüstung ist kein Beweis. Sicher hatte der Urmensch kein Gewissen der Art. wie es der zivilisierte Mensch hat, aber es heißt doch vorschnell urteilen, wenn man ihm jedes Gewissen abspricht. Wer über Fragen der Ethik urteilen will, muss sich vor allem von der ethischen Borniertheit befreien, die den meisten Menschen innewohnt, den Maßstab der eigenen Ethik für den aller Ethik zu halten, an den eigenen ethischen Anschauungen die aller Zeiten und Länder zu messen.

Das Gewissen setzt Quessel selbst dem Pflichtgefühl gleich. Nun klingt es wohl schon etwas anders, wenn man behauptet. Kannibalen könnten kein Pflichtgefühl haben, könnten keine gesellschaftlichen Pflichten anerkennen. wer das sagen wollte, würde auf Schritt und Tritt Lügen gestraft. Quessel selbst weist in seinem Artikel an anderer Stelle auf die Eheverbote hin, die von den Wilden sorgfältig beachtet würden. Wie wäre das möglich ohne Pflichtgefühl oder Gewissen! Die Gebote ihrer Gesellschaft befolgen die Wilden ebenso gewissenhaft wie wir die der unsrigen, ja gewissenhafter, weil sie noch keine Klassengegensätze und keine rasche gesellschaftliche Entwicklung kennen. Es heißt ebenso vorschnell wie einseitig urteilen, wenn man ihnen Gewissenlosigkeit vorwirft. weil ihr Gewissen die Gebote unserer Gesellschaft nicht kennt. Wenn Quessel dies tut, verfällt er wieder in den Fehler, den ich schon an seinem ersten Artikel rügte, dass er einzelne sittliche Normen mit der Grundlage aller Sittlichkeit verwechselt.

Aber selbst am Maßstab unserer zivilisierten Gesellschaft gemessen braucht der Kannibalismus nicht Unsittlichkeit zu bedeuten.

Man kann zwei Arten von Kannibalismus unterscheiden: einmal die Verzehrung eines Menschen, der aus irgend einem Grunde, aber nicht zu dem Zwecke der Verzehrung getötet wurde. Und dann das Schlachten eines Menschen zu dem Zwecke der Verzehrung.

Was in dem ersteren Falle unser sittliches Gefühl empören kann, ist die Tötung des Menschen. Aber dass man das Totschlagen von Menschen billigt, die der Gesellschaft schädlich sind, ist nichts, was das Stadium der Wildheit kennzeichnete. Wir finden es noch in unserer Zivilisation, und manche Fälle solcher Tötungen wurden sogar von sehr edlen Geistern gepriesen. Wir erinnern an Schillers Verherrlichung des Tellschusses.

Also in dem bloßen Töten eines Menschen, der die eigene Gesellschaft bedroht, zum Beispiel im Kriege, kann die Gewissenlosigkeit nicht liegen. Wenn nun aber die Wilden einen derart Getöteten vor sich liegen sahen, der Hunger sie quälte, andere Nahrung fehlte, sollte die Gewissenlosigkeit darin liegen, dass sie zur Stillung ihres Hungers den Leichnam benutzten, statt ihn den Wölfen und Aasgeiern zu überlassen? Das ist sicher nicht eine Frage des Gewissens, sondern der Appetitlichkeit. Der Wilde ist aber in seiner Kost nicht wählerisch und darf es nicht sein bei der Unsicherheit seiner Nahrungsquellen. Mit Behagen verzehrt er Tiere, deren bloßer Anblick schon manchem zivilisierten Menschen Ekel erregt, Schlangen, Frösche, Eidechsen, Raupen, Würmer. Da wird es ihn keine übermäßige Überwindung gekostet haben, in Zeiten der Not erschlagene Feinde oder wegen Alters oder Krankheit lebensunfähig gewordene Stammesgenossen, denen der Gnadenstoß versetzt werden musste, zu verzehren. Sogar in unserer zivilisierten Gesellschaft kommen zum Beispiel unter Schiffbrüchigen Fälle von Kannibalismus vor, wenn dem Hungertod auf andere Weise nicht zu entgehen ist, und doch ist dem Kulturmenschen seit vielen Tausenden von Jahren ein ganz anderer Ekel vor dem menschlichen Leichnam eingeimpft worden als dem Wilden.

Unter einen anderen Gesichtspunkt der Sittlichkeit als das bloße Verzehren von Leichen, das bloß widerlich, aber selbst am modernen Maßstab gemessen nicht unsittlich ist, fällt das Schlachten von Menschen eigens zu dem Zwecke der Verzehrung, namentlich wenn man diese Opfer eine Zeit vorher schon zu diesem Zwecke bestimmt, sie dazu gefangen setzt und füttert. Das ist allerdings für das moderne sittliche Empfinden ein entsetzlicher Gräuel. Aber mir ist nicht bekannt, dass gerade in der letzteren, für uns abscheulichsten Form die Menschenfresserei irgendwo bei Wilden vorkäme. Dort fehlen auch alle Vorbedingungen dazu. Sie verzehren Leichen aus Nahrungsmangel, und sie sollten Gesungene füttern, sollten Arbeitskräfte brach legen, um die dem Tode Geweihten zu bewachen und Lebensmittel für sie zu suchen? Das ist doch schwer anzunehmen.

Dagegen ist eines sicher: gerade diese, die für uns abscheulichste Form des Kannibalismus, die nach Quesselschem Maßstab am wenigsten Gewissen verrät, sie findet sich bei Barbaren, bei sehr hochstehenden Barbaren, wie den Irokesen, den Mexikanern, den Maoris. Derselbe Quessel aber, der wegen des Kannibalismus den Wilden jedes Gewissen abspricht, er preist auch in seinem jüngsten Artikel wieder die Barbaren als „sittlich hochstehende" Leute. Dem will ich durchaus nicht widersprechen. Aber das beweist doch deutlich, dass Kannibalismus und Sittlichkeit, sogar hochgradige Sittlichkeit, sehr wohl Hand in Hand miteinander gehen können. Also auch der Kannibalismus bietet keinen Beweis für den von Quessel so sehnsüchtig gesuchten Mangel an Moral bei den Wilden.

Nun soll ich freilich mich der Sünde schuldig gemacht haben, Wilde und Barbaren miteinander zu verwechseln und die Sittlichkeit der auf der Stufe der Barbarei befindlichen Indianer, die auch Quessel anerkennt, gegen ihn ausspielen. Aber diese Kugel geht auf den Schützen zurück. Nicht ich, sondern sein Gewährsmann Bücher hat für sein Bild des Urmenschen sich das Material wahllos aus den Kreisen der Wilden und der Barbaren geholt. Er war es, der sich ausdrücklich auf die Indianer berief, ich hatte daher das Recht, dem gegenüber das Zeugnis unbefangener Beobachter über die Indianer vorzuführen. In gewissem Sinne durfte aber freilich Bücher sich auf die Indianer und andere Barbaren berufen. Wie verschieden die Barbaren von den Wilden auch sein mögen, in ihrer sittlichen Eigenart sind sie nicht sehr verschieden, unterscheiden sie sich voneinander viel weniger als von zivilisierten Menschen. Ja, man kann sagen, dass vieles, was uns beim Wilden sittlich abstößt, beim Barbaren noch stärker entwickelt ist. Wie die Sittlichkeit des Wilden, so unterscheidet sich auch die des Barbaren von der der Zivilisation dadurch, dass sie sich, um mit Darwin zu sprechen, auf den Stamm, das Gemeinwesen, und nicht auf die Art und das Individuum bezieht. Will man mit Quessel die Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit und dem Menschenleben zum Maßstab der Sittlichkeit machen, so muss man den Barbaren oft noch für weniger sittlich erklären als den Wilden. Wir finden bei ihm nicht bloß ebenso wie bei den Wilden Kindesmord und die Tötung Alter und Kranker, sondern obendrein einen für unser Empfinden scheußlicheren Kannibalismus als bei den Wilden, ohne jede Not, die dazu drängt, und dazu Menschenopfer der grässlichsten Art, die bei den Wilden unbekannt sind. Und trotzdem hat Quessel recht, den Barbaren eine hoch sittliche Persönlichkeit zu nennen, denn die Gesellschaft ist ihm alles, für sie opfert er freudig Weib und Kind und sich selbst, wenn es das Wohl des Gemeinwesens erheischst. Seine Moral ist der Art nach die gleiche wie die des Wilden, aber der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem er lebt, ist ein ungleich stärkerer, durch die Gemeinsamkeit der Arbeit, des Besitzes an entscheidenden Produktionsmitteln, durch die Entwicklung der Waffentechnik, die die Kriege blutiger und das Zusammenwirken im Kampfe notwendiger macht, durch die Entwicklung des Reichtums, die die Anlässe zu Kriegen vermehrt. In keinem Zeitalter ist die Moral so sehr die des Kriegers, ist sie so blutrünstig, ist die gesellschaftliche Disziplin so sehr die des Feldlagers wie in dem der Barbarei.

Jene Charaktereigenschaften des Wilden, die Quessel für Zeichen seiner Morallosigkeit hält, finden sich beim Barbaren noch verstärkt. Und doch erklärt er diesen für eine hoch sittliche Persönlichkeit!

Ungleich weniger wichtig als diese Frage sind für unsere Kontroverse die breiten Exkurse Quessels über Schamgefühl und Ehre. Selbst wenn er hier mir gegenüber Recht hätte, bewiese das bloß einen Irrtum in einem nebensächlichen Detail, ließe dagegen meinen Standpunkt völlig unerschüttert. Aber er hat hier nicht Recht. denn er polemisiert gegen etwas, was ich nie gesagt habe.

Quessel hatte mir gegenüber erklärt, dass die für die Grundlegung der Ethik entscheidende Frage die sei, ob der Abscheu vor Raub und Mord, vor der Blutschande, die erhabene Stimme des Mitleids, der Menschlichkeit, ob Scham und Ehre Produkte der Tierwelt seien oder der Kultur.

Darauf entgegnete ich, dass Quessel hier eine Konfusion anrichte; dass ich die Grundlage der sittlichen Empfindungen schon in der Tierwelt suche, aber selbstverständlich der Ansicht sei, die einzelnen sittlichen Normen und Gefühle seien Produkte der Kultur und nicht der Tierwelt.

Das ist aber Quessel auch nicht recht, denn ich erklärte weiter:

Ich fasse das Geltungsgebiet mancher dieser sittlichen Gefühle nicht nur nicht weiter, sondern sogar noch viel enger als Genosse Quessel, denn sie sind zum Teil nicht einmal der ganzen Kulturmenschheit eigen, sondern sehr jungen Datums und heute noch auf sehr kleine Kreise beschränkt, zum anderen Teil Gefühle, die unter verschiedensten Umständen das Entgegengesetzteste bedeuten.''

Was tut Quessel? Frischt fromm, fröhlich, frei deutet er diesen Satz dahin, als hätte ich erklärt, Scham und Ehre seien sehr jungen Datums und heute noch auf sehr kleine Kreise beschrankt, worauf er dann mit gebührender sittlicher Entrüstung mir das Gegenteil nachweist. Hätte er weniger Entrüstung und ein bisschen mehr Gewissenhaftigkeit aufgeboten und weiter gelesen, dann hätte er gefunden, dass ich nicht Scham und Ehre zu jenen sittlichen Gefühlen rechne, die sehr jung und auf sehr kleine Kreise beschränkt sind, sondern den prinzipiellen Abscheu vor Raub und Mord, der „heute, im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht und der Kolonialpolitik noch immer nicht weit her ist". Von Scham und Ehre dagegen sagte ich ausdrücklich, dass ich sie zu jenen sittlichen Gefühlen rechne, „unter denen verschiedene Völker und Klassen etwas sehr Verschiedenes verstehen".

Wenn nun Quessel glaubt, mich dadurch zu widerlegen, dass er mir einen Vortrag über die so verschiedenartigen Formen des Schamgefühls bei den verschiedenen Völkern hält, so brauchte mich das nur zu amüsieren, als ein Beweis dafür, wie liederlich und verständnislos mein Kritiker die Schriften liest, die er kritisiert. Aber die Sache hört auf, amüsant zu sein und humoristisch zu wirken, wenn aus dieser Liederlichkeit und Verständnislosigkeit Behauptungen entspringen, die ich als schwere Ehrenkränkung empfinde.

Quessel bringt es fertig, zu behaupten:

Die Geringschätzung, mit der Kautsky von der Ehre als einer jungen und wenig verbreiteten Anschauung spricht, macht es auch begreiflich, dass er ihre gewaltige Bedeutung im proletarischen Emanzipationskampf nicht recht zu würdigen weiß, was allerdings seine Abstammung aus einem bourgeoisen Milieu erklärlich macht."

Werter Herr Doktor, der Sie mir, dem seit einem Menschenalter den Klassenkampf des Proletariats Mitkämpfenden die Abstammung ans dem Milieu der Lassalle, Engels, Marx, Robert Owen usw. vorhalten, ich fordere Sie auf, mir zu sagen, wo ich jemals das Ehrgefühl des Proletariers geringschätzig aufgefasst habe! Können Sie das nicht beweisen, dann müssen Sie schon den Vorwurf einstecken, dass Sie aus Flüchtigkeit oder Verständnislosigkeit einem Parteigenossen in leichtfertigster Weise die Ehre abgeschnitten haben. Es steht Ihnen in der Tat wohl an, so salbungsvoll, wie Sie es getan, mir „sittliche Selbstzucht" bei „wissenschaftlicher Polemik" zu predigen!

Indes darf ich mich nicht allzu sehr beschweren. Macht es doch Quessel mit anderen Leuten nicht besser. In den Dialogen Huttens, in denen dieser dem Papsttum den Krieg ansagte, energischer und kühner als gleichzeitig Luther, in denen er die deutsche Zucht rühmend der päpstlichen Korruption entgegenhielt, findet Quessel einen „Beitrag zur Geschichte der Pornographie"! Das geht schon über die Lex Heinze!

Nun vom Persönlichen wieder zum Sachlichen.

Quessel wendet sich gegen meine Auffassung, dass die Brandmarkung der Blutschande sich nur durch das gesellschaftliche Interesse erklären lasse, dadurch, dass die Inzucht die Rasse zu verschlechtern drohe.

Das bestreitet Quessel. Der Intellekt des Wilden sei nicht genug entwickelt, um ihn die Schäden der Inzucht erkennen zu lassen, die nicht offen zutage liegen und erst nach Generationen merkbar werden. Das war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren ebenfalls meine Auffassung, aber ich habe keine andere Erklärung der Verpönung der Blutschande gefunden, die mich befriedigt hätte. Und jene, die Quessel von Forel übernimmt, vermag das auch nicht.

Forel meint. die Tatsache, dass ein Mann und ein Weib von frühester Jugend auf zusammenwohnen, stoße sie geschlechtlich voneinander ab. Sie empfänden einen Widerwillen gegeneinander. Daher suchten Leute, die zusammen aufwachsen, und das sind meistens Blutsverwandte, nach Ehegenossen außerhalb ihres Kreises. Diese Sitte und damit die Vermeidung der Blutschande wurde schließlich durch die Gewohnheit geheiligt und zu einem Gebot der Sittlichkeit.

Die Beobachtung, dass von Natur aus zwei Leute verschiedenen Geschlechtes, die zusammen aufwachsen, einen Widerwillen gegeneinander empfinden, scheint mir doch recht wenig sicher zu sein. Bei den Affen ist etwas derartiges nicht merkbar, aber auch in der Menschheit ist die Verwandtschaftsehe das Ursprüngliche und existieren zu viele Stämme der verschiedensten Kulturstufen, bei denen die Geschwisterehe geübt wird, ohne jedes Widerstreben, als etwas Selbstverständliches, als dass man annehmen könnte, es sei ein „natürlicher Trieb" und nicht eine aus besonderen gesellschaftlichen Bedingungen entspringende Anschauung, die in der Verpönung der Blutschande zum Ausdruck komme. Aber selbst wenn wir uns über dieses Bedenken hinwegsetzten, so ist es doch sonderbar, dass gerade etwas, was angeblich einem starken „natürlichen Triebe" entspringt, noch besonders durch sittliche Gebote so streng eingeschärft wird, wie die Vermeidung der Blutschande. Gewöhnlich richten sich die sittlichen Gebote gegen „natürliche" Triebe, sie entspringen eben dem Widerspruch zwischen den Bedürfnissen der Gesellschaft und den Bedürfnissen und Trieben des Individuums. Die Befolgung der „natürlichen" Triebe zu gewährleisten sind keine Sittengebote erforderlich. Endlich aber, und das ist das Entscheidende, trifft das sittliche Verbot durchaus nicht etwa, wie man annehmen müsste, die geschlechtliche Verbindung von Leuten, die zusammen auswachsen. Der Sohn des Herrn, der mit einer Sklavin oder Magd aufwächst, wird nicht im Mindesten durch Sitte und Sittlichkeit gehindert, sich mit ihr zu vergnügen, was auch trotz des angeblichen „angeborenen Widerwillens" dagegen häufig genug passiert. Dagegen ist ihm der geschlechtliche Verkehr mit Mädchen, die durch Blutbande mit ihm verbunden sind, aufs Strengste untersagt, mögen sie auch ganz fern von ihm aufgewachsen sein. Wie mannigfach auch die Eheverbote der verschiedenen Völker sind, nie und nimmer richten sie sich gegen die geschlechtliche Vereinigung von Leuten, die zusammen aufwuchsen, sondern stets nur gegen solche, die in bestimmten, genau bezeichneten Graden der Blutsverwandtschaft zueinander stehen. Nicht die Hausgenossenschaft, sondern die Ahnenreihe ist bei allen diesen Eheverboten das Entscheidende.

Das sind denn doch gewichtige Gründe, die Quessel so „sehr einfach und klar" erscheinende Erklärung des Verbots der Blutverwandtschaftsehe durch ein angebliches Gesetz der „festesten Psychologie" abzulehnen.

Damit ist natürlich noch nicht bewiesen, dass die Erklärung dieses Verbots durch die Nachteile der Inzucht besser begründet ist. Der Einwand, dass das beschränkte Denken der Wilden ganz außerstande sei, die Ursachen dieser Nachteile zu erkennen, ist sicher sehr gewichtig, wenigstens so lange, als nicht die Möglichkeit einer Situation gezeigt ist, die auch einem sehr beschränkten Geiste die Erkenntnis der Nachteile der Inzucht nahelegt.

Solche Situationen gibt es aber. Sie sind nicht bloß möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich.

Sicher treten die Nachteile der Inzucht nicht stets ein, und wenn sie zutage treten, dann in der Regel erst nach mehreren Generationen. Schon Darwin hat uns aber in seinem Buche über das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation daraus hingewiesen, dass die „guten Wirkungen, die fast unausbleiblich einer Kreuzung folgen, von Anfang an augenfällig sind". Diese Wirkungen kann auch ein Wilder sofort entdecken, und es braucht nur eine Situation einzutreten, in der die Folgen von Inzucht und die von Kreuzung nebeneinander merkbar werden, um ihn den Vorzug dieser vor jener zu lehren.

Nehmen wir nun den Fall einer kleinen Horde, die seit Generationen stets nur unter sich heiratet, unter Umständen, die die Nachteile der Inzucht stark hervortreten lassen. Die Frauen werden immer unfruchtbarer, unter den wenigen Kindern, die sie gebären, sind immer mehr schwächliche und missgestaltete zu finden. Dass die Wilden die Ursache davon in der Inzucht sehen werden, ist kaum anzunehmen. Sie werden dies einem besonderen Pech, dem Zorn irgend eines missgünstigen Dämons oder Gottes zuschreiben.

Nun kommt aber diese Horde plötzlich dazu, etwa infolge einer Stammesfehde, eine Anzahl Frauen eines anderen Stammes zu erbeuten und sie den Mitgliedern der Horde als Gattinnen beizugesellen. Diese neuen Ehen geben nun ein ganz anderes Resultat als die herkömmlichen: die fremden Gattinnen erweisen sich als fruchtbar, ihre Kinder als lebenskräftig und wohlgebildet. Natürlich werden die Wilden auch da nicht so naturwissenschaftlich denken und die günstigen Resultate der Kreuzung zuschreiben, sondern dem Wohlgefallen geheimnisvoller, übermenschlicher Mächte. Aber die Folgerung liegt nun für sie naht. dass die Verwandtschaftsehe, die Ehe mit Blutsverwandten vom Zorne der Götter verfolgt werde, dass diese dagegen die Ehe mit Stammesfremden segneten, dass es daher sittliche Pflicht im Interesse des Stammes sei, die erstere Art Ehen zu meiden, die letztere Art dagegen zu pflegen. Das ist ein Gedankengang, der die Denkkraft der Wilden nicht übersteigt; und die Tatsachen, die ihm zugrunde liegen, können sie sehr leicht erkennen, denn sie sind scharfe Beobachter. Es können Tausende von Jahren vergehen, eine ganze Reihe von Stämmen aussterben infolge steter Inzucht, ohne dass deren Schädlichkeit erkannt wird. Andererseits werden auch Tausende von Jahren hindurch durch Inzucht heruntergekommene Stämme durch gelegentliche Beimischung fremden Blutes wieder aufgefrischt worden sein, ohne dass die Vorteile der Kreuzung den Wilden zum Bewusstsein kamen. Aber es genügt, dass unter besonders günstigen Umständen diese Erkenntnis einmal gewonnen wird, um nach und nach immer mehr Horden von Wilden die Notwendigkeit der Einschränkung oder des Verbots von Verwandtschaftsehen zu lehren. Die günstigen Erfolge der einen Horde werden Nachbarn, die auch unter der Inzucht leiden, zur Nachahmung reizen; geschieht dies nicht, dann verfallen sie dem Schicksal, von anderen Horden, die durch Kreuzung mit Stammesfremden gestärkt sind, vernichtet oder verjagt zu werden.

So muss sich nach und nach das Verbot der Blutverwandtschaftsehe immer weiter verbreiten und immer tiefer einwurzeln, bis es schließlich fast die Stärke eines Triebes erhält. der der „sexuellen Psychologie" als ein „natürlicher" erscheint. Da aber die Inzucht nicht unter allen Umständen schädliche Folgen haben muss, unter bestimmten Lebensbedingungen sehr lange ohne Schaden betrieben werden kann, so erhalten sich Verwandtschaftsehen und selbst Geschwisterehen bei manchen Stämmen noch lange Zeit. Aber schließlich siegt überall früher oder später die Verwerfung der Blutverwandtschaftsehe, die als „Blutschande" geächtet wird.

Dieser Gang der Entwicklung scheint mir der einzige zu sein, der eine plausible Erklärung des Abscheus vor der Blutschande und ihrer strengen Bestrafung gibt.

Damit wären wir mit Quessels Einwänden gegen meine Kritik zu Ende. Die Hauptsache, die Erklärung seiner eigenen Begründung der Sittlichkeit durch die „moderne Gehirnwissenschaft" verspricht er uns erst später zu geben. Nur flüchtig überschüttet er meine Bedenken gegen diese Begründung am Schlusse mit vernichtendem Hohne. Ich hatte seine Behauptung, dass das Pflichtgefühl oder Gewissen ein Ergebnis einer reichlicheren Ernährung des Gehirns sei, sehr komisch gefunden und gemeint, demnach stamme die Stimme des Gewissens aus dem Magen. Aber Quessel erklärt. dieser Spott treffe nicht bloß ihn, sondern auch Leute wie Haeckel, Morgan und Engels. Denn Haeckel habe erklärt, unsere Stimmungen und Gefühle seien anders, wenn wir hungrig, und anders, wenn wir gesättigt seien; die Art der Nahrung beeinflusse den Charakter. Nach Engels und Morgan aber stamme „der größte sittliche Fortschritt der Menschheit, die Überwindung des Kannibalismus, direkt aus dem Magen".

Es ist freilich Engels und, soweit ich sehe, auch Morgan nicht eingefallen, die „Überwindung des Kannibalismus" aus der besseren Ernährung des Gehirns abzuleiten und als den „größten sittlichen Fortschritt" zu preisen, sie hätten damit eine sehr anzweifelbare Behauptung aufgestellt, denn das von unserem Standpunkt aus Unsittliche am Kannibalismus, das Menschentöten und Menschenopfern, blieb nach Überwindung der Wildheit bestehen, bloß der Speisezettel der Menschen änderte sich, an Stelle von Menschenleichen traten Rinder- und Schafsleichen; der Mensch erlangte so reichliche Nahrungsquellen, dass er wie auf Schlangen und Raupen auch auf Menschenleichen als Nahrung verzichten und sich den Luxus erlauben durfte, die letzteren zu verbrennen oder pietätvoll verwesen zu lassen. Morgan führt denn auch das Verschwinden des Kannibalismus bloß als „eindringlichen" Beweis für die „Bedeutung an, die eine dauernde Vermehrung der Nahrungsmittel für die Verbesserung des Zustandes (condition) der Menschheit hat".

Indes auch Haeckel spricht nirgends von einem sittlichen Fortschritt infolge besserer Ernährung des Gehirns, das gerade aber ist es, was Quessel zu beweisen hat, und nicht im Allgemeinen, dass unsere Stimmungen und Neigungen von der Art und Weise unserer Ernährung beeinflusst werden, was niemand bestreiten wird und was eine uralte Erkenntnis ist.

Nicht uralt, sondern ganz funkelnagelneu ist dagegen die Behauptung, der Urmensch stamme von der bösartigsten, unsozialsten, mit den wildesten Raubtierinstinkten ausgestatteten Affenart ab, und diese bestialischste aller Bestien sei dann durch reichliche Fütterung in eine hoch sittliche Persönlichkeit verwandelt worden. Das ist aber die Behauptung Quessels.

Nehmen wir indes an, sie sei richtig. Was folgt daraus? Nach Quessel war die Periode der Überwindung der Menschenfresserei auch die der Geburt des sittlichen Menschen. Von wem konnte aber in jener Periode, ist der die Kannibalen an der Spitze der Zivilisation marschierten und die höchstentwickelten Geschöpfe der Erde waren, jener wie jeder andere Fortschritt ausgehen als von ihnen selbst? Der Kannibalismus konnte nur von den Kannibalen überwunden werden. Die Kannibalen also waren es, von denen, nach Quessel, „der größte sittliche Fortschritt der Menschheit" vollzogen wurde.

Ihre einzige sichere Nahrungsquelle bildete aber nach Quessel die Menschenfresserei. Ihr verdanken sie also jene reichliche Ernährung, die das Gewissen, das Pflichtgefühl schuf. Aus der Menschenfresserei ist die sittliche Persönlichkeit entsprungen.

Dies ist die logische Konsequenz Quesselscher Gehirnwissenschaft.

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