I. 5. A. Smiths Ansichten über Produktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtproduktes in der kapitalistischen Gesellschaft und die Kritik dieser Ansichten durch Marx

5. A. Smiths Ansichten über Produktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtproduktes in der kapitalistischen Gesellschaft und die Kritik dieser Ansichten durch Marx

Um die Lehre von der Realisierung zu erfassen, müssen wir bei Adam Smith beginnen, der den Grund zu der fehlerhaften Theorie gelegt hat, die in der politischen Ökonomie bis Marx unangefochten herrschte. A. Smith teilte den Preis der Ware nur in zwei Teile: in variables Kapital (in seiner Terminologie Arbeitslohn) und Mehrwert („Profit" und „Rente" sind bei ihm nicht vereinigt, so dass er eigentlich drei Teile zählteA). Genau so teilte er auch die Gesamtheit der Waren, das gesamte Jahresprodukt der Gesellschaft in die nämlichen Teile ein und wies sie unmittelbar dem „Einkommen" zweier Gesellschaftsklassen: der Lohnarbeiter und der Kapitalisten (bei Smith der Unternehmer und der Grundbesitzer) zu.B

Wie kam Adam Smith dazu, den dritten Wertbestandteil – das konstante Kapital – wegzulassen? Übersehen konnte er ihn nicht, doch meinte er, dass er sich ebenfalls auf Arbeitslohn und Mehrwert reduzieren lasse. Er führte hierüber Folgendes aus:

Im Preis des Korns z. B. zahlt ein Teil die Rente des Grundbesitzers, ein anderer Teil zahlt den Lohn und den Unterhalt der Arbeiter und des Arbeitsviehs, die in seiner Produktion beschäftigt waren, und der dritte Teil zahlt den Profit des Pächters. Diese drei Teile scheinen entweder unmittelbar oder in letzter Instanz den ganzen Preis des Korns auszumachen. Ein vierter Teil mag notwendig scheinen, um das Kapital des Pächters zu ersetzen oder um den Verschleiß seines Arbeitsviehs und seiner andern Ackergeräte zu ersetzen. Aber es muss in Betracht gezogen werden, dass der Preis irgendwelchen Ackergeräts, z. B. eines Arbeitspferdes, selbst wieder aus obigen drei Teilen sich zusammensetzt" (Rente, Profit und Arbeitslohn). „Obwohl daher der Preis des Korns sowohl den Preis wie die Unterhaltungskosten des Pferdes ersetzen mag, so löst sich doch der ganze Preis immer noch, unmittelbar oder in letzter Instanz, auf in dieselben drei Teile: Bodenrente, Arbeit und Profit (ebenda, S. 75 u. 76).

Marx erscheint diese Theorie Smiths „erstaunlich" („Kapital", Bd. II, S. 347). „Sein Beweis besteht einfach in der Wiederholung derselben Behauptung." (Ebenda.) Smith schickt uns „von Pontius zu Pilatus" (Bd. I, S. 525).

Wenn Smith sagt, dass der Preis der Ackergeräte selbst wieder in die nämlichen drei Teile zerfalle, vergisst er hinzuzufügen: und in den Preis der Produktionsmittel, die bei der Herstellung dieser Geräte benutzt wurden. Das fehlerhafte Auslassen des konstanten Kapitalteils aus dem Produktenpreise steht bei A. Smith (und den ihm folgenden Ökonomen) im Zusammenhang mit der irrigen Auffassung der Akkumulation in der kapitalistischen Wirtschaft, d. h. der Erweiterung der Produktion durch Umwandlung von Mehrwert in Kapital. A. Smith ließ auch hier das konstante Kapital in dem Glauben weg, dass der akkumulierte und in Kapital verwandelte Teil des Mehrwertes gänzlich von den produzierenden Arbeitern verbraucht werde, d. h. gänzlich in den Arbeitslohn eingehe, während in Wirklichkeit der akkumulierte Teil des Mehrwertes für konstantes Kapital (Produktionsmittel, Roh- und Hilfsstoffe) plus Arbeitslohn verausgabt wird. Im ersten Bande des „Kapital" (VII. Abschn.: „Der Akkumulationsprozess des Kapitals", 22. Kapitel, „Verwandlung von Mehrwert in Kapital": § 2 „Irrige Auffassung der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter seitens der politischen Ökonomie") verweist Marx bei der Kritik dieser Smithschen, von Ricardo, Mill1 u. a. geteilten Auffassung auf den II. Band seines „Kapital":

es wird sich dort zeigen, dass A. Smiths auf alle seine Nachfolger vererbtes Dogma die politische Ökonomie verhindert hat, auch nur den Elementarmechanismus des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zu begreifen" (Bd. I, S. 526).

Adam Smith verfiel in diesen Fehler deshalb, weil er den Wert des Produktes mit dem neugeschaffenen Wert verwechselte: dieser zerfällt in der Tat in variables Kapital und Mehrwert, während jener außerdem noch das konstante Kapital enthält. Marx hat diesen Fehler schon gelegentlich der Wertanalyse aufgedeckt; er unterscheidet dort zwischen der abstrakten, neuen Wert schaffenden Arbeit und der konkreten, nützlichen Arbeit, die einen schon früher vorhandenen Wert in der neuen Form eines Gebrauchswertes reproduziert.

Die Klärung des Problems, wie die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals verläuft, ist für die Lösung des Problems des nationalen Einkommens in der kapitalistischen Gesellschaft ganz besonders notwendig. Außerordentlich interessant ist es, dass A. Smith bei der Besprechung dieser Frage seine fehlerhafte Theorie, die das konstante Kapital aus dem Gesamtprodukt eines Landes ausschließt, nicht mehr aufrechterhalten konnte.

Das Bruttoeinkommen (gross revenue) sämtlicher Einwohner eines großen Landes begreift in sich das gesamte Jahresprodukt ihres Bodens und ihrer Arbeit; das Nettoeinkommen (net revenue) den Teil, der ihnen zur Verfügung bleibt nach Abzug der Erhaltungskosten erstens ihres fixen und zweitens ihres flüssigen Kapitals; oder den Teil, den sie, ohne ihr Kapital anzugreifen, in ihren Konsumtionsvorrat (stock) stellen oder zu ihrem Unterhalt, Komfort und Vergnügen verausgaben können" (A. Smith, 2. Buch: „Wesen, Aufhäufung und Verwendung des Vorrats (Kapital)", Kap. 2, Bd. II, S. 18).

Also: zum Gesamtprodukt eines Landes rechnet A. Smith das Kapital nicht, und zwar mit der Begründung, dass sich dieses Gesamtprodukt in Arbeitslohn, Profit und Rente, d. h. in (Netto) Einkommen auflöse; zum Brutto-Einkommen der Gesellschaft dagegen rechnet er es, indem er es von den Konsumtionsmitteln (Netto-Einkommen) unterscheidet. An diesem Widerspruch nagelt Marx A. Smith fest: wie kann das Kapital im Einkommen enthalten sein, wenn das Kapital nicht im Produkt enthalten war? (siehe „Das Kapital", II, S. 337). Unbewusst erkennt hier Adam Smith die drei Wertbestandteile des Gesamtproduktes: nicht nur variables Kapital und Mehrwert, sondern auch konstantes Kapital. In der weiteren Untersuchung stößt A. Smith noch auf eine andere höchst wichtige Unterscheidung, der für die Theorie der Realisierung enorme Bedeutung zukommt. Er sagt:

Die ganze Auslage für Erhaltung des fixen Kapitals muss offenbar von der Netto-Revenue der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Weder die Rohstoffe, mit denen die nützlichen Maschinen und Industriewerkzeuge, die Gebäude usw. in Stand gehalten werden müssen, noch das Produkt der zur Umwandlung dieser Rohstoffe in die verlangte Gestalt erforderlichen Arbeit können je einen Teil dieser Revenue bilden. Der Preis dieser Arbeit kann allerdings einen Teil jener Revenue bilden, da die so beschäftigten Arbeiter den ganzen Wert ihres Lohnes in ihrem unmittelbaren Konsumtionsvorrat anlegen können. Aber bei anderen Arten Arbeit geht sowohl der Preis wie das Produkt in diesen Konsumtionsvorrat ein; der Preis" (der Arbeit) „in den der Arbeiter, das Produkt" (der Arbeit) „in den andrer Leute" (A. Smith, ebenda).

Smith war hier nahe daran, die Notwendigkeit, zwei Arten von Arbeit zu unterscheiden, einzusehen: eine Arbeit, die Konsumtionsmittel liefert, die in das „Netto"-Einkommen eingehen können; und eine zweite Arbeit, die „nützliche Maschinen und Industriewerkzeuge, Gebäude usw.", d. h. solche Gegenstände liefert, die niemals in den persönlichen Konsum eingehen können. Von hier aus ist nur ein Schritt bis zur Anerkennung der Tatsache, dass man für die Erklärung der Realisierung unbedingt zwei Konsumtionsarten unterscheiden muss; individuelle Konsumtion und produktive (in der Produktion erfolgende) Konsumtion. Die Verbesserung der zwei erwähnten Smithschen Fehler (das Weglassen des konstanten Kapitals aus dem Produktenwert und die Vermengimg der individuellen und der produktiven Konsumtion) machte es Marx erst möglich, seine bemerkenswerte Theorie der Realisierung des gesellschaftlichen Produktes in der kapitalistischen Gesellschaft aufzustellen.

Was nun die übrigen Ökonomen zwischen Adam Smith und Marx betrifft, so wiederholten sie alle den Fehler Adam SmithsC und kamen deshalb keinen Schritt weiter. Auf das Chaos, das infolgedessen in den Auffassungen über das Einkommen herrscht, kommen wir weiter unten noch zurück. In dem Streit über die Möglichkeit einer allgemeinen Warenüberproduktion, den Ricardo, Say, Mill u. a. auf der einen Seite, Malthus, Sismondi, Chalmers, Kirchmann u. a. auf der andern Seite führten, stützten sich beide Parteien auf die fehlerhafte Theorie Smiths, und so konnte dieser Streit nach dem treffenden Urteil von S. Bulgakow „bei der Unrichtigkeit der Ausgangspunkte und der falschen Problemstellung zu nichts anderem als zu hohlen und scholastischen Wortgefechten führen" (a. a. O., S. 21; siehe die Darstellung dieser Wortgefechte bei Tugan-Baranowski, „Die Industriekrisen usw.", Petersburg 1894, S. 377–404).

A Adam Smith, „An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations", 4. Aufl., 1801, vol. I, p. 75 („Untersuchung über Wesen und Ursachen des Volkswohlstandes); Buch I: „Die Ursachen der Vervollkommnung der Produktivkräfte der Arbeit und die Ordnung, nach welcher ihr Produkt sich naturgemäß unter die verschiedenen Volksklassen verteilt", Kap. 6: „Die Bestandteile des Warenpreises".

B a. a. O., Bd. I, S. 78.

1 Gemeint ist John Stuart Mill; siehe Fußnote von Marx im ersten Band des „Kapital", S. 525

C Ricardo z. B. behauptet: „Das ganze Produkt des Bodens und der Arbeit jedes Landes zerfällt in drei Teile: der eine macht den Arbeitslohn aus, der zweite den Profit, der dritte die Rente." (Werke, Übers. v. Sieber, S. 221.)

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