III. 5. Die Stellung der Narodniki zu dem Problem

5. Die Stellung der Narodniki zu dem Problem

Der Satz, dass das System der Abarbeit ein bloßes Überbleibsel der Fronwirtschaft ist, wird auch von den Narodniki nicht bestritten. Er wird sogar, allerdings ohne die nötige Verallgemeinerung, von N.-on (Skizzen, § 9) ebenso wie von W. W. (besonders in „Unsere Bauernwirtschaft und die Agronomie", Otjetschestwennyje Sapiski, 1882, Nr. 8 u. 9) ausdrücklich anerkannt. Um so auffälliger ist die Scheu der Narodniki vor der Anerkennung der offensichtlichen Tatsache, dass die heutige Gutswirtschaft eine Verquickung des Systems der Abarbeit mit dem kapitalistischen System darstellt, und dass folglich dort, wo das eine stärker entwickelt ist, das andere in seiner Entwicklung zurückbleibt; und ebenso geflissentlich vermeiden die Narodniki, die Bedeutung beider Systeme für die Arbeitsproduktivität, die Arbeitslöhne und die russische Wirtschaft nach der Reform usw. zu analysieren. Stellt man die Frage so, geht man von der Tatsache der wirklich erfolgenden „Ablösung" aus, so muss man die Unvermeidlichkeit der Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus und die fortschrittliche Bedeutung dieses Vorgangs einräumen. Um dieser Schlussfolgerung zu entgehen, scheuten die Narodniki selbst vor einer Idealisierung des Systems der Abarbeit nicht zurück. Diese ungeheuerliche Idealisierung ist der Grundzug der Narodniki-Ansichten von der Entwicklung der Gutswirtschaft. W. W. versteigt sich sogar zu der Phrase, dass „das Volk im Kampf um die Form der Landwirtschaft Sieger bleibt, obschon dieser Sieg sein Elend noch vergrößert" („Schicksale des Kapitalismus", S. 288). Das Eingeständnis eines solchen „Sieges" bedeutet mehr als die Feststellung einer Niederlage! N.-on sieht in der Zuteilung von Land an die Bauern innerhalb der Fron- und Abarbeitswirtschaft das „Prinzip der Vereinigung des Produzenten mit den Produktionsmitteln", wobei ihm nur die eine Kleinigkeit entgeht, dass der Zweck dieser Landzuteilung in der Versorgung des Gutsbesitzers mit Arbeitskräften besteht. Wie schon gezeigt, bietet Marx bei der Beschreibung der vorkapitalistischen Landwirtschaftssysteme eine Analyse aller jener ökonomischen Formen, die sich in Russland vorfinden; ganz ausdrücklich hebt er dabei hervor, dass Arbeits-, Natural- und Geldrente Kleinproduktion und Bindung des Bauern an die Scholle voraussetzen. Wäre es ihm aber je eingefallen, die Zuteilung von Land an den abhängigen Bauer zum „Prinzip" einer immerwährenden Verbindung des Produzenten mit den Produktionsmitteln zu erheben? Vergisst er auch nur für einen Augenblick, dass diese Verbindung des Produzenten mit den Produktionsmitteln Ausgangspunkt und Bedingung der mittelalterlichen Ausbeutung mit ihrem technischen und gesellschaftlichen Stillstand und ihren mannigfaltigen Formen „außerökonomischen Zwangs" bildete?

Die Herren Orlow und Kablukow idealisieren in den „Sammlungen" der Moskauer Semstwostatistik Abarbeit und Schuldarbeit auf ganz dieselbe Weise; in Bd. V, Lief. 1, S. 175 u. 176 und Bd. II, S. 59–62, Teil II, wird von ihnen die Wirtschaft einer Frau Kostinskaja im Kreise Podolsk als mustergültig hingestellt.1 Nach Meinung von Kablukow beweist diese Wirtschaft

die Möglichkeit einer Wirtschaftsführung, die diesen Gegensatz" (den Interessengegensatz zwischen Bauern- und Gutswirtschaft) „ausschließt (sic!) und dazu verhilft, dass sich sowohl die bäuerliche wie die private Wirtschaft in blühendem" (sic!) „Zustand befindet" (Bd. V, Lief. 1, S. 175 u. 176).

Die blühende Lage der Bauernwirtschaft besteht also in Abarbeit und Schuldarbeit. Da die Bauern weder Weideland noch Viehtrift besitzen (Bd. II, S. 61) – nichtsdestoweniger bezeichnen die Herren Narodniki sie als „regelrechte“- Landwirte –, müssen sie diese Nutzungsrechte gegen Arbeitsverpflichtung bei der Grundbesitzerin pachten, wobei sie „alle Gutsarbeiten ordentlich, rechtzeitig und schnell" ausführen.A

Weiter kann man die Idealisierung eines Systems, das ein direktes Fortbestehen der Fron darstellt, wirklich nicht mehr treiben!

Die Methoden aller dieser Narodniki-Erörterungen sind einfach genug; man braucht nur zu vergessen, dass die Zuteilung von Land an den Bauer eine Vorbedingung der Fron und der Abarbeit ist; man braucht nur davon zu abstrahieren, dass dieser „quasi-selbständige" Ackerbauer zur Leistung einer Arbeits-, Natural- oder Geldrente verpflichtet ist, und man gewinnt die „reine" Idee der „Verbindung des Produzenten mit den Produktionsmitteln". Das wirkliche Verhältnis des Kapitalismus zu den vorkapitalistischen Formen der Ausbeutung wird jedoch durch eine einfache Abstraktion von diesen Formen in keiner Weise betroffen.B

Gehen wir noch in Kürze auf eine weitere, recht interessante Überlegung Kablukows ein. Wir haben gesehen, dass er die Abarbeit idealisiert; aber dort, wo er als Statistiker die wirklichen rein kapitalistischen Wirtschaftstypen des Moskauer Gouvernements schildert, spiegeln sich in seinen Ausführungen, gegen seinen Willen und in entstellter Form, die Tatsachen wider, die für die Fortschrittlichkeit des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft sprechen. Wir bitten den Leser um Aufmerksamkeit und um Verzeihung, wenn wir im Nachstehenden ein wenig ausführlicher zitieren werden.

Außer den schon länger bestehenden Wirtschaftstypen mit freier Lohnarbeit besteht im Moskauer Gouvernement ein

neuer, unlängst entstandener Typus, der mit jeglicher Tradition bricht und die Landwirtschaft ganz einfach als einen Produktionszweig betrachtet, der wie alle anderen, als Einkommensquelle dienen soll. In der Landwirtschaft sieht man nicht mehr einen herrschaftlichen Zeitvertreib, eine Beschäftigung für jedermann … Nein, es werden Spezialkenntnisse als erforderlich betrachtet… Die Kalkulationsgrundlagen" (für die Organisation der Produktion) „unterscheiden sich in keiner Weise von den Verhältnissen in den übrigen Produktionszweigen" („Samml. stat. Daten f. Gouv. Moskau", Bd. V, Lief. 1, S. 185).

Kablukow bemerkt nicht einmal, dass diese Charakteristik des neuen, erst „unlängst", in den siebziger Jahren entstandenen Wirtschaftstypus die Fortschrittlichkeit der kapitalistischen Landwirt scharf aufzeigt. Es ist der Kapitalismus, der die Landwirtschaft aus einem „herrschaftlichen Zeitvertreib" in ein normales Gewerbe verwandelte, der die Sache „ganz einfach zu betrachten" lehrte, der den „Bruch mit.der Tradition" und die Aneignung von „Spezialkenntnissen" erzwang. Vor der Epoche des Kapitalismus war dies weder erforderlich noch möglich, da die einzelnen Güter, die Gemeinden, die bäuerlichen Familien „sich selbst genügten", von den übrigen Wirtschaften unabhängig waren und keine Kraft sie aus ihrem jahrtausendelangen Stillstand herausreißen konnte. Erst der Kapitalismus war diese Kraft, die (mittels des Marktes) eine gesellschaftliche Produktionskontrolle der einzelnen Produzenten einführte und sie zwang, sich nach der gesellschaftlichen Entwicklung zu richten. Gerade darin besteht die fortschrittliche Rolle des Kapitalismus in der Landwirtschaft aller europäischen Länder.

Hören wir weiter, wie Kablukow unsere rein kapitalistischen Wirtschaften schildert:

Dann erst wird die Arbeitskraft als ein notwendiger Faktor der Einwirkung auf die Natur erkannt, ohne den eine Gutsorganisation nichts erreichen kann. So wird aber dieser Faktor bei aller Erkenntnis seiner ganzen Bedeutung doch nicht als selbständige Einkommensquelle betrachtet, wie dies unter der Leibeigenschaft üblich war und wie es auch jetzt noch dann geschieht, wenn der Rentabilität des Gutsbetriebes nicht das Produkt der Arbeit, dessen Gewinnung als direkter Zweck ihrer Anwendung erscheint, nicht das Streben, diese Arbeit in der Produktion wertvollerer Erzeugnisse anzuwenden und auf diesem Wege ihr Ergebnis zu genießen, zugrunde gelegt wird, sondern die Sucht, den Anteil des Arbeiters am Produkt herabzudrücken, die Arbeitskosten für den Gutsherrn möglichst auf Null zu reduzieren" (S. 186).

Weiter wird von der Verpachtung der abgeschnittenen Ländereien (Otreski) gegen Abarbeit als Form der Wirtschaftsführung gesprochen.

Um unter diesen Umständen Einnahmen zu erzielen, werden vom Gutsbesitzer weder Kenntnisse noch besondere Fähigkeiten gefordert. Das ganze Produkt dieser Arbeitsweise bildet Reineinkommen des Grundbesitzers; jedenfalls ist Betriebskapital kaum erforderlich. Natürlich kann eine solche Wirtschaft keine günstigen Resultate zeitigen und verdient auch im strengen Sinne des Wortes ebenso wenig die Bezeichnung Wirtschaft, wie die Verpachtung der gesamten Ländereien: hier fehlt jede Wirtschaftsorganisation" (S. 186).

Und nachdem der Autor noch Beispiele für die Verpachtung der Otreski gegen Abarbeit angeführt hat, schließt er:

Der Schwerpunkt der Wirtschaft, die Methode der Einkommenserzielung aus dem Boden, wurzelt in der Einwirkung auf den Arbeiter, nicht in der Einwirkung auf die Materie und ihre Kräfte" (S. 189).

Diese Erörterung ist ein Schulbeispiel für die Entstellung, die richtig beobachtete Tatsachen bei falscher theoretischer Betrachtungsweise erfahren. Kablukow vermengt Produktion und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse. In jeder Gesellschaftsordnung besteht die Produktion in der „Einwirkung" des Arbeiters auf die Materie und ihre Kräfte. In jeder Gesellschaftsordnung kann nur das Mehrprodukt „Einkommensquelle" für den Grundbesitzer bilden. Entgegen Kablukow gleicht die Abarbeit in beiden Beziehungen völlig dem kapitalistischen System. Der tatsächliche Unterschied besteht darin, dass die Abarbeit eine äußerst niedrige Produktivität voraussetzt und deswegen keine Möglichkeit besteht, das Einkommen durch die Menge des Mehrprodukts zu steigern; es gibt hierfür nur ein Mittel: Anwendung der verschiedenen Formen der Schuldarbeit. Umgekehrt müssen bei rein kapitalistischer Wirtschaft diese Knechtschaftsformen der Dingung wegfallen, da der nicht an die Scholle gebundene Proletarier ein untaugliches Objekt für sie bildet; die Steigerung der Arbeitsproduktivität wird nicht nur zur Möglichkeit, sondern sogar zur Notwendigkeit, da sie das einzige Mittel ist, das Einkommen zu steigern und sich gegenüber der erbitterten Konkurrenz zu behaupten. So bestätigt die Darstellung unserer rein kapitalistischen Wirtschaften – durch denselben Kablukow, der so eifrig bemüht war, die Abarbeit zu idealisieren – vollauf die Tatsache, dass der russische Kapitalismus gesellschaftliche Verhältnisse erzeugt, die die Rationalisierung der Landwirtschaft und den Wegfall der Schuldarbeit fordern, während umgekehrt die Abarbeit eine Rationalisierung der Landwirtschaft ausschließt, den technischen Stillstand und die Hörigkeit der Produzenten verewigt. Nichts ist leichtfertiger als das übliche Frohlocken der Narodniki über die Schwäche des Kapitalismus in unserer Landwirtschaft. Um so schlimmer, wenn er schwach ist, denn das bedeutet nichts anderes als die Herrschaft vorkapitalistischer Ausbeutungsformen, die für den Produzenten unvergleichlich drückender sind.

1 Das, was die Verfasser des zweiten Bandes der „Sammlung statistischer Daten für das Gouvernement Moskau" so in Begeisterung versetzte, war eine gewisse Philanthropie, die für sie selbst sehr einträglich war. Dies vermerkten auch die Verfasser der erwähnten Sammlung (W. I. Orlow und N. A. Kablukow): „Die ordentliche Wirtschaft (der Bauern) ist für Frau Kostinskaja sehr vorteilhaft", „die gute Behandlung der Bauern durch die Gutsherrin hat zur Folge, dass die Bauern die Interessen der Gutsherrin gewissenhaft wahrten"; „dank den Pleschtschejewsker Bauern hat die Besitzerin selbst die Möglichkeit, ihre Wirtschaft tadellos zu führen" usw. (Sammlung, Bd. II, S. 61 u. 62).

A Vgl. Wolgin in genanntem Werke (S. 280 u. 281).

B „Es heißt, dass die Arbeitspacht gegenüber der Geldpacht einen Rückschritt bedeute. Aber behaupten wir etwa, dass diese Erscheinung wünschenswert oder vorteilhaft sei? Niemals haben wir sie als fortschrittlich bezeichnet'' – erklärt Tschuprow im Namen aller Autoren des Werkes „Einfluss der Ernten usw." (Siehe den stenographischen Bericht über die Debatten in der Freien Ökonomischen Gesellschaft, 1. und 2. März 1897, S. 38). {Der stenographische Bericht über die Debatten vom 1. und 2. März 1897 wurde in den „Arbeiten der Freien Ökonomischen Gesellschaft", 1897, Nr. 4, veröffentlicht.} Diese Behauptung ist sogar formell unzutreffend, da Karyschew, wie wir bereits wissen, die Abarbeit eine „Hilfe" für die Landbevölkerung genannt hat. Tatsächlich widerspricht diese Erklärung allen Narodniki-Theorien mit ihrer Idealisierung der Abarbeit. Wenn Tugan-Baranowski und Struve bei der Untersuchung der niedrigen Getreidepreise (1897) als Kriterium die Frage betrachten, ob diese niedrigen Preise die Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus fördern oder nicht, so haben sie sich damit durch die richtige Fragestellung ein großes Verdienst erworben. Unsere Antwort auf diese Frage, die offensichtlich an Hand der Tatsachen zu entscheiden ist, weicht jedoch von der dieser beiden Schriftsteller ab. Nach den im Text behandelten Angaben (siehe insbesondere § 7 dieses Kapitels und Kapitel IV) halten wir es für möglich und sogar wahrscheinlich, dass die Periode der niedrigen Getreidepreise durch eine keineswegs geringere, wenn nicht gar stärkere Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus gekennzeichnet sein wird als die vorangegangene historische Periode mit ihren hohen Getreidepreisen.

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