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Wladimir I. Lenin 19011100 Innerpolitische Rundschau

Wladimir I. Lenin: Innerpolitische Rundschau

[Geschrieben Ende Oktober bis Anfang November 1901 Zum ersten Mal veröffentlicht im Dezember 1901 in der Zeitschrift „Sarja" Nr. 2/3 Gez. T. Ch. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 29-85]

I. Die Hungersnot

Wieder Hungersnot! Was im letzten Jahrzehnt mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit vor sich ging, ist kein bloßer Ruin mehr, sondern ein direktes Aussterben der russischen Bauernschaft, und kein noch so langwieriger und erbitterter Krieg hätte wahrscheinlich eine so ungeheure Menge an Opfern gefordert. Die gewaltigsten Kräfte der Gegenwart haben sich gegen den Bauer verbunden: der sich immer rascher entwickelnde Weltkapitalismus, der die Überseekonkurrenz geschaffen und eine kleine Minderheit von Grundherren, die sich im erbittertsten Kampf ums Dasein zu behaupten wissen, mit den modernsten Produktionsmethoden und Produktionsmitteln ausgerüstet hat; der Militärstaat, der in seinen Kolonialbesitzungen im Fernen Osten und in Mittelasien eine Abenteuerpolitik treibt, der die ungeheuren Lasten dieser, enorme Geldsummen verschlingenden Politik auf die Arbeitermassen abwälzt und dabei noch die immer neu entstehenden Einrichtungen zur polizeilichen „Bändigung" und „Unterdrückung" der wachsenden Unzufriedenheit und Empörung dieser Massen mit dem Gelde des Volkes bezahlt.

Nachdem die Hungersnot bei uns zu einer üblichen Erscheinung geworden war, war es selbstverständlich zu erwarten, dass die Regierung sich bemühen würde, ihre ebenfalls übliche Ernährungspolitik auszubauen und zu festigen. Wenn die Regierung in den Jahren 1891/92 überrumpelt wurde und zunächst ziemlich ratlos dastand, so verfügt sie jetzt bereits über eine reiche Erfahrung, und sie weiß wohin (und wie) der Weg führt.

In diesem Moment“ – schrieb die „Iskra" im Juli (Nr. 6) – „zieht sich eine finstere Wolke des Volkselends über dem Lande zusammen, und die Regierung bereitet sich von Neuem darauf vor, die schmachvolle Rolle einer herzlosen Gewalt zu spielen, die der hungernden Bevölkerung den Bissen Brot vorenthält, die jede, den Plänen der vorgesetzten Behörden nicht entsprechende Hilfeleistung für die Hungernden bestraft."1

Die Vorbereitungen der Regierung gingen in sehr raschem Tempo und sehr entschieden vor sich. In welchem Geiste diese Vorbereitungen durchgeführt wurden, hat die Geschichte in Elisabethgrad genügend klar gezeigt. Fürst Obolenski, der Chef des Gouvernements Cherson, eröffnete sofort einen Krieg gegen alle, die sich die Kühnheit herausnahmen, über die Hungersnot in Elisabethgrad zu schreiben und zu sprechen, die Öffentlichkeit zur Unterstützung der Hungernden aufzufordern, private Zirkel zu organisieren und Privatpersonen zur Organisierung dieser Hilfsarbeit einzuladen. Die Semstwo-Ärzte schrieben in den Zeitungen, dass im Kreise Hungersnot herrsche, dass das Volk von Krankheiten heimgesucht werde und aussterbe, dass das „Brot", das es zu seiner Ernährung verwende, etwas Ungeheuerliches sei und den Namen Brot überhaupt nicht verdiene. Der Gouverneur begann eine Polemik gegen die Semstwo-Ärzte und veröffentlichte offizielle Dementis. Wer die allgemeinen Verhältnisse unserer Presse auch nur einigermaßen kennt, wer sich die Mühe nimmt, an jene wütende Hetze zu denken, der in letzter Zeit sehr gemäßigte Organe und noch viel gemäßigtere Schriftsteller ausgesetzt waren, der wird verstehen, was diese „Polemik" des Gouverneurs gegen irgendwelche Semstwo-Ärzte, die nicht einmal im Staatsdienst stehen, bedeutet! Das war eine einfache Mundtotmachung, die ganz offene und unverfrorene Erklärung, dass die Regierung die Wahrheit über die Hungersnot nicht dulden werde. Aber was heißt Erklärung! Man kann wohl jeder anderen, aber kaum der russischen Regierung den Vorwurf machen, dass sie sich auf Erklärungen beschränke, wo die Möglichkeit besteht, „Gewalt anzuwenden". Und Fürst Obolenski zögerte nicht, Gewalt anzuwenden, als er auf dem Schauplatz des Krieges gegen die Hungernden und gegen diejenigen, die, ohne den Auftrag irgendeiner Behörde zu haben, Hungernden wirklich helfen wollten, persönlich erschien – verschiedenen, schon während der Hungersnot eingetroffenen Privatpersonen (darunter auch der Frau Uspenskaja) die Errichtung von Speisehallen verbot. Gleich Julius Cäsar kam, sah und siegte Fürst Obolenski, – und sofort verkündeten Telegramme dem ganzen lesenden Russland die Kunde von diesem Sieg. Erstaunlich ist nur eins: dass dieser Sieg diese freche Herausforderung aller Russen, die noch eine Spur von Anständigkeit, von Bürgermut besaßen, in den, wenn man so sagen kann, meist-interessierten Kreisen auf keinen Widerstand gestoßen ist. Im Gouvernement Cherson waren und sind zweifellos sehr viele genau informiert über die Ursachen dieses Totschweigens der Hungersnot, über die Ursachen des Kampfes gegen Unterstützung der Hungernden, aber weder eine Darstellung dieser lehrreichen Geschichte noch die sie betreffenden Dokumente oder auch nur eine einfache Aufforderung zum Protest gegen das ungeheuerliche Verbot der Einrichtung von Speisehallen wurde von irgend jemanden veröffentlicht. Die Arbeiter organisieren einen Streik, wenn die Regierung ihre Drohung, alle, die am 1. Mai „gebummelt" haben, zu entlassen, ausführt; die Intelligenz schweigt, wenn man ihren Vertretern verbietet den Hungernden zu Hilfe zu kommen. Gewissermaßen ermutigt durch den Erfolg dieses ersten Scharmützels mit den „Aufrührern", die es wagen, den Hungernden zu helfen, ging die Regierung bald zum Angriff auf der ganzen Linie über. Die tapfere Tat des Fürsten Obolenski wird i leitenden Prinzip, zum Gesetz erhoben, nach dem von nun das Verhältnis der Administratoren zu allen am Verpflegungswesen beteiligten Personen geregelt wird (das Wort „beteiligt" im Grunde genommen ein kriminalistischer Fachausdruck, sich besonders unser Strafgesetzbuch zu eigen gemacht hat, aber wir haben bereits gesehen und werden auch weiter unten sehen, dass die verbotene Hilfsaktion für die Hungernden vollkommen zum Begriff des Kriminellen gehört). Ein solches Gesetz wurde denn auch erlassen – diesmal in der vereinfachten Form eines „Zirkulars des Innenministers an die Chefs der von der Missernte im Jahre 1901 betroffenen Gouvernements" (17. August 1901, Nr. 20).

Dieses Zirkular wird – das muss man annehmen – auf lange Zeit hinaus ein denkwürdiger Beweis dafür bleiben, dass die Polizei zu wahren Herkulesleistungen greifen muss aus Angst vor dem drohenden Volkselend, vor der Annäherung zwischen den Hungernden und den ihnen zu Hilfe kommenden „Intellektuellen", und wenn sie beseelt ist von der festen Absicht, jeden „Lärm" über die Hungersnot zu unterdrücken und die Hilfsaktion auf ein ganz minimales Ausmaß zu beschränken. Man kann nur bedauern, dass der übermäßige Umfang dieses Zirkulars und die Schwerfälligkeit des Kanzleistils, in dem es abgefasst ist, es wohl verhindern werden, dass die breiteste Öffentlichkeit davon Kenntnis nimmt.

Bekanntlich hat das Gesetz vom 12. Juni 1900 das Verpflegungswesen der Kompetenz der Semstwos entzogen und in die Hände der Bezirks-Hauptleute und Kreistage gelegt. Was könnte, so schien es, zuverlässiger sein: das gewählte Element ist ausgeschaltet, Leute, die von den Behörden halbwegs unabhängig sind, werden nichts zu sagen haben, und so wird es jetzt kein Geschrei mehr geben. Aber nach dem Feldzug des Fürsten Obolenski schien das alles noch zu wenig zu sein: die ganze Sache musste dem Ministerium und den die Anordnungen des Ministeriums unmittelbar ausführenden Beamten untergeordnet, die Möglichkeit jeglicher Übertreibungen endgültig unterbunden werden. Darum wird von nun ab ausschließlich das Ministerium, in dem offenbar der Generalstab für die militärischen Aktionen gegen die Hungernden seinen Sitz aufschlagen wird, zu entscheiden haben, welche Kreise als „von der Missernte betroffen" zu gelten habenA. Und durch die Herren Gouverneure wird dieser Generalstab die Tätigkeit der Personen leiten (hauptsächlich der Kreis-Adelsmarschäille), in deren Händen die „Kreis-Zentralstelle für das Verpflegungswesen" konzentriert sein wird. Der Initiator der militärischen Aktionen gegen die Hungernden, Fürst Obolenski, musste selbst an Ort und Stelle reisen, um zu bändigen, zu zügeln, einzuschränken. Jetzt ist alles „geregelt", und ein einfacher Austausch von Telegrammen (um so mehr, als ja für Kanzleiausgaben tausend Rubel pro Kreis assigniert worden sind) zwischen den „Kreis-Zentralstellen" und der Petersburger Zentralverwaltung wird genügen, um „Anordnungen zu treffen". Der Turgenjewsche zivilisierte Gutsbesitzer ging nicht nur nicht selbst in den Pferdestall, sondern begnügte sich mit einer halblaut hingeworfenen Bemerkung an den Lakaien in Frack und weißen Handschuhen: „in Bezug auf Fedor… Anordnungen treffen". Ebenso wird man jetzt bei uns „ohne Lärm", auf stille, vornehme Art, „Anordnungen treffen" über die Zügelung des übermäßigen Appetits der hungernden Bevölkerung.

Dass Herr Sipjagin vom übermäßigen Appetit des hungernden Bauern überzeugt ist, das sieht man an der Beharrlichkeit, mit der das Zirkular nicht nur vor „Übertreibungen" warnt, sondern direkt immer neue Bestimmungen festsetzt, die jede Möglichkeit von Übertreibungen beseitigen. Mit der Aufstellung von Listen der Notleidenden hat es keine Eile: das würde in der Bevölkerung nur „übertriebene Hoffnungen" wecken – erklärt der Minister offen, und er schreibt vor, dass die Listen nur unmittelbar vor der Verteilung des Getreides aufgestellt werden sollen. Das Zirkular hält es ferner für überflüssig, zu sagen, wann ein Kreis als „von der Missernte betroffen" anzusehen sei, dafür aber setzt es mit aller Genauigkeit fest, wann ein Kreis nicht als notleidend gelten dürfe (z. B., wenn nicht mehr als ein Drittel der Amtsbezirke gelitten habe, wenn die gewöhnlichen Verdienstmöglichkeiten vorhanden seien usw.). Schließlich diktiert der Minister in Bezug auf die Höhe der Unterstützung für die Hungernden Bestimmungen, die mit aller Klarheit zeigen, dass die Regierung diese Unterstützung um jeden Preis aufs Äußerste reduzieren und sich auf Almosen beschränken will, die die Bevölkerung keineswegs vor dem Verhungern schützen können. In der Tat, die Norm beträgt 48 Pud Getreide auf jede Familie (nach der Höhe der Durchschnittsernte in der betreffenden Gegend); wer nicht weniger als dieses Quantum hat, der ist nicht in Not. Auf welche Weise man diese Zahl erhalten hat, ist unbekannt. Bekannt ist nur, dass sogar die ärmsten Bauern in einem Jahr, das kein Misserntejahr ist, die doppelte Getreidemenge verbrauchen (siehe die statistischen Untersuchungen der Semstwos über die Bauernbudgets). Sich nicht satt essen gilt also auf Grund der Anordnungen des Herrn Ministers als normale Erscheinung. Aber auch diese Norm wird herabgesetzt, erstens, um die Hälfte, damit die Arbeiter, die ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, keine Darlehen erhalten, zweitens noch einmal um ein Drittel – ein Fünftel – ein Zehntel „unter Berücksichtigung der annähernden Zahl der wohlhabenden Landwirte, die noch vom vergangenen Jahr her Vorräte oder irgendwelche (ja, so heißt es wörtlich ,oder irgendwelche'!!) materiellen Werte besitzen". Daraus kann man ersehen, dass die Regierung nur einen ganz verschwindenden Bruchteil des der Bevölkerung tatsächlich mangelnden Getreides herzugeben beabsichtigt. Und nachdem Herr Sipjagin dieses ungeheuerliche System der Beschränkung der Unterstützungen auseinandergesetzt hat, erklärt er, als freute er sich seiner eigenen Frechheit, dass diese annähernde Berechnung sich „kaum je als irgendwie übertrieben" erweise. Kommentare sind da wohl überflüssig.

Wenn die offiziellen Mitteilungen der russischen Regierung außer den nackten Vorschriften noch irgendwelche Versuche enthalten, diese Vorschriften zu erläutern, so findet man in ihnen fast immer – das ist eine Art Gesetz, viel stabiler als die meisten Unserer Gesetze – zwei Hauptmotive oder zwei Haupttypen von Motiven. Einerseits enthalten sie unbedingt einige allgemeine Phrasen, die in schwülstiger Form die Fürsorge der Behörden, dem Bestreben, den Forderungen der Zeit und den Wünschen der öffentlichen Meinung Rechnung zu tragen, zum Ausdruck bringen. So z. B. ist die Rede von der „wichtigen Aufgabe, die Nahrungsmittelnot von der Landbevölkerung abzuwenden", von der „moralischen Verantwortung für den Wohlstand der örtlichen Bevölkerung" usw. Es versteht sich von selbst, dass diese Geneinplätze im Grunde genommen nichts bedeuten und zu nichts Positivem verpflichten. Dafür aber gleichen sie, wie ein Tropfen Wasser dem andern, den unsterblichen Reden des unsterblichen Juduschka Golowlew2, der den von ihm übers Ohr gehauenen Bauern Belehrungen erteilt. Beiläufig bemerkt, werden diese Gemeinplätze stets (teils aus Naivität, teils aus „Dienstpflicht") von der unter der Zensur stehenden liberalen Presse verwendet, die eine prinzipielle Solidarität der Regierung mit ihrem Standpunkt konstruieren will. Prüft man aber mit Aufmerksamkeit die anderen, nicht so allgemeinen und nicht so offenkundig hohl klingenden Beweggründe der Regierungsbefehle, so wird man stets konkrete Erläuterungen finden, die die üblichen Argumente der reaktionärsten Organe unserer Presse (z. B. der „Moskowskije Wjedomosti") von Anfang bis Ende wiederholen. Unseres Erachtens wäre es keine nutzlose (und auch legalen Politikern nicht unzugängliche) Arbeit, in jedem einzelnen Falle die Solidarität der Regierung mit den „Moskowskije Wjedomosti" zu verfolgen und festzustellen. In dem von uns behandelten Zirkular B. finden wir eine Wiederholung der schamlosesten, von den »barbarischsten Gutsbesitzern ausgehenden Beschuldigungen", dass die vorzeitige Aufstellung von Listen der Notleidenden „gewisse wohlhabende Hofbesitzer dazu verleite, durch den Verkauf der Vorräte und Überschüsse und des Inventars ihren Wirtschaften das Aussehen von verarmten zu geben". Der Minister erklärt, das „habe die Erfahrung der früheren Ernährungskampagnen bewiesen". Folglich? Folglich schöpft der Minister seine politische Erfahrung aus den erbaulichen Reden der eingefleischtesten Fronherren, die in den früheren Hungerjahren so viel Lärm gemacht haben und auch jetzt so sehr lärmen über die Betrügereien der Bauern, und die so empört sind über den „Lärm" aus Anlass der Hungertyphus-Epidemien.

Von diesen Fronherren hat Herr Sipjagin es gelernt, von Demoralisierung zu reden.

Sehr wichtig ist es – schreibt er –, dass … die lokalen Institutionen … das sparsame Umgehen mit den assignierten Mitteln fördern, die Hauptsache (sic!!) aber ist, dass sie die schädlichen und einen demoralisierenden Einfluss ausübenden Fälle von unbegründeter Gewährung der Regierungsunterstützung an materiell sichergestellte Personen zu verhüten suchen."

Und diese schamlose Vorschrift, das sparsame Umgehen mit den Mitteln zu fördern, wird durch folgenden prinzipiellen Satz bekräftigt:

„… Die weitgehende Verteilung von Lebensmitteln an Familien, die ohne diese auskommen können" (die mit 24 Pud Getreide pro Familie im Jahr auskommen können?) „hat, abgesehen von der unproduktiven (!) Verausgabung der Staatsgelder in solchen Fällen in Bezug auf die verhängnisvollen Folgen dieses Systems für die Zukunft eine nicht minder schädliche Bedeutung vom Standpunkte des Nutzens und der Nöte des Staates als der Verzicht auf die Unterstützung der wirklich Notleidenden."

Einstmals erklärten sentimental gewordene Monarchen: „Lieber zehn Schuldige freisprechen, als einen Schuldigen verurteilen". Jetzt aber erklärt der nächste Gehilfe des Zaren: es ist nicht weniger schädlich, eine Familie, die auch mit 24 Pud Getreide im Jahr auskommen kann, zu unterstützen, als „wirklich" Notleidende ohne Unterstützung zu lassen. Wie schade, dass dieser, in seiner Aufrichtigkeit so herrliche „Standpunkt" „des Nutzens und der Nöte" des Staates durch ein überaus langes und langweiliges Zirkular vor dem breiten Publikum verborgen wird! Eine Hoffnung besteht: vielleicht wird die sozialdemokratische Presse und die sozialdemokratische mündliche Agitation das Volk mit dem Inhalt des ministeriellen Zirkulars näher bekannt machen.

Mit besonderer Energie greift aber das Zirkular die privaten Wohltäter an: es geht aus allem hervor, dass die Verwaltungsbehörden, die gegen die Hungernden Krieg führen, die privaten Hilfszirkel, die privaten Speisehallen usw. als die wichtigste Position des „Feindes" betrachten. Herr Sipjagin erklärt mit einer Offenheit, die alle Anerkennung verdient, warum diese private Wohltätigkeit seit langem schon dem Innenministerium schlaflose Nächte bereitet.

Seit der Missernte von 1891 und 1892 und bei allen späteren ähnlichen Katastrophen“ – heißt es im Zirkular – „erwies es sich oft, dass manche Wohltäter neben der materiellen Hilfeleistung für die Bewohner der notleidenden Gegenden bemüht waren, in ihnen Unzufriedenheit mit dem bestehenden Regime zu wecken und sie zu veranlassen, Forderungen, die durch nichts gerechtfertigt waren, an die Regierung zu richten. Dabei wird durch die nicht ausreichende Linderung der Not, durch die unvermeidlichen Krankheiten und die Zerrüttung der Wirtschaft ein sehr günstiger Boden für eine regierungsfeindliche Agitation geschaffen, und das machen sich politisch unzuverlässige Leute unter dem Deckmantel der Nächstenliebe für ihre verbrecherischen Zwecke zunutze. Gewöhnlich ist es so, dass bei den ersten Nachrichten von einer großen Missernte von überall her Leute mit nicht einwandfreier politischer Vergangenheit in die notleidende Gegend hin strömen, dass sie versuchen, mit den aus den Hauptstädten eintreffenden Bevollmächtigten der Wohltätigkeitsgesellschaften und der verschiedenen Institutionen in Verbindung zu treten, und von diesen aus Unkenntnis als Mitarbeiter aufgenommen werden, wodurch nicht geringe Schwierigkeiten für die Interessen der Ordnung und Verwaltung entstehen."

Doch der russischen Regierung wird es zu eng auf der russischen Erde. Es gab eine Zeit, wo nur die studierende Jugend als des besonderen Schutzes bedürftig galt: sie wurde streng überwacht, Beziehungen irgendwelcher Personen mit nicht einwandfreier politischer Vergangenheit zu dieser Jugend wurden als schwere Schuld betrachtet, alle Zirkel und Vereinigungen, auch wenn sie sich nur materielle Unterstützungsaktionen zur Aufgabe teilten, wurden regierungsfeindlicher Ziele verdächtigt usw. Zu jener Zeit – und sie liegt noch nicht so weit hinter uns – gab es keine andere Schicht, und noch viel weniger eine Klasse der Bevölkerung, die in den Augen der Regierung einen „sehr günstigen Boden für die regierungsfeindliche Agitation" darstellte. Aber seit Mitte der neunziger Jahre findet man bereits in den offiziellen Regierungsmitteilungen Hinweise auf eine andere, unvergleichlich zahlreichere Klasse der Bevölkerung, die eine besondere Überwachung erfordert: die Fabrikarbeiter. Das Anwachsen der Arbeiterbewegung zwang zur Schaffung eines ganzen Systems von Institutionen für die Überwachung des neuen ungestümen Elements; in der Liste der Orte, die Leuten von zweifelhaftem politischen Ruf als Wohnort verboten wurden, begannen neben den Haupt- und Universitätsstädten auch Fabrikzentren und Arbeitersiedlungen, Kreise und ganze Gouvernements zu figurieren.B Zwei Drittel des europäischen Russlands erwiesen sich als des besonderen Schutzes vor unzuverlässigen Elementen bedürftig, während das übrige Drittel derart von der Masse von „Personen mit nicht einwandfreier politischer Vergangenheit" überfüllt ist, dass sogar die abgelegenste Provinz unruhig wird.C Jetzt stellt sich heraus, dass – nach der autoritativen Ansicht eines so kompetenten Mannes, wie es der Herr Innenminister ist – auch das abgelegenste Dorf einen „günstigen Boden" für die regierungsfeindliche Agitation bietet, wenn dort Fälle von nicht vollkommen gelinderter Not, Fälle von Krankheiten und von Zerrüttung der Wirtschaft vorkommen. Gibt es aber viele Dörfer in Russland, wo solche „Fälle" nicht eine ständige Erscheinung sind? Und müssen wir russische Sozialdemokraten uns nicht sofort diese lehrreichen Hinweise des Herrn Sipjagin auf den „günstigen" Boden zunutze machen? Einerseits interessiert sich gerade jetzt das Dorf für die hie und da auftauchenden Gerüchte über Februar- und Märzzusammenstöße des Stadtproletariats und intellektuellen Jugend mit den Prätorianergarden der Regierung. Liefert aber nicht anderseits jede solche Phrase, wie die von den Forderungen des Bauern, „die durch nichts gerechtfertigt sind" usw., ein reiches Material für eine Agitation in allergrößtem Umfange?

Den nützlichen Hinweis des Herrn Sipjagin müssen wir verwerten, über seine Naivität aber können wir nur lachen. Es zeugt wirklich von einer köstlichen Naivität, wenn man glaubt, dass die Unterordnung der privaten Wohltätigkeit unter die Aufsicht und Kontrolle des Gouverneurs die Möglichkeit einer Beeinflussung des Dorfes durch „unzuverlässige" Personen erschweren werde. Wirkliche Wohltäter haben sich nie politische Ziele gesetzt, so dass also die neuen Beschränkungs- und Bändigungsmaßnahmen sich vor allem gegen jene richten werden, die der Regierung am wenigsten gefährlich sind. Leute, die den Bauern die Augen öffnen wollen über die Bedeutung der neuen Maßnahmen und über das Verhältnis der Regierung zur Hungersnot überhaupt, werden es sicher nicht mehr nötig haben, mit den Bevollmächtigten des Roten Kreuzes in Verbindung zu treten oder den Herren Gouverneuren vorzustellen. Hat es sich doch einmal erwiesen, dass die Fabrikarbeiter ein „günstiger Boden" sind, wer sich aber diesen Kreisen nähern wollte, ist nicht mit den Fabrikdirektoren in Verbindung getreten, um über Zustände in den Fabriken Erkundigungen einzuziehen, er hat sich nicht den Herren Fabrikinspektoren vorgestellt, um von ihnen die Erlaubnis zur Veranstaltung von Arbeiterversammlungen zu erhalten. Wir vergessen natürlich keineswegs, dass politische Agitation in der Bauernschaft gewaltige Schwierigkeiten bietet, um so mehr, als es unmöglich und unzweckmäßig wäre, hierfür die revolutionären Kräfte aus den Städten herauszuziehen, doch dürfen wir nicht außer acht lassen, dass solche Heldentaten der Regierung, wie die Beschränkung der privaten Wohltätigkeit, die gute Hälfte dieser Schwierigkeiten beseitigen uns die Hälfte der Arbeit abnehmen.

Wir wollen uns nicht mit einer im Verhältnis zu dem besprochenen Zirkular so „geringfügigen" Angelegenheit befassen, wie es das Zirkular desselben Ministers über die Verschärfung der Überwachung der Wohltätigkeitskonzerte, Wohltätigkeitsveranstaltungen usw. ist (siehe „Iskra" Nr. 9, „Neue Barrieren").

Prüfen wir, in welchem Verhältnis jetzt die nach den neuen Bestimmungen festgesetzte Hilfsaktion der Regierung für die notleidende Bevölkerung zu dem wirklichen Umfang der Not steht. Die Daten hierüber sind allerdings äußerst spärlich. Die Presse ist heute geknebelt, wie nie zuvor, die Stimmen der privaten Organisatoren von Speisehallen verstummten, als das „Verbot" ihrer Tätigkeit kam, und zur Information des durch die neuen Repressalien in Schrecken versetzten russischen Publikums dienen nur offiziöse Polizeimeldungen über den befriedigenden Verlauf der Unterstützungskampagne, ferner kleine Artikel im selben Geiste, die die „Moskowskije Wjedomosti" bringen, und hier und da wiedergegebene Unterhaltungen eines müßigen Reporters mit diesem oder jenem Pompadour3, der in überaus wichtigem Tone seine „Gedanken über die einmütige Auffassung der Stadthauptmannschaft und über die Konzentrierung der Machtbefugnis in den Händen der Stadthauptmannschaft usw. usw."4 darlegt. So z. B. berichtet die Zeitung „Nowoje Wremja" in Nr. 9195, dass der Gouverneur von Saratow, A. P. Engelhardt (ehemals Gouverneur von Archangelsk) einen Mitarbeiter der lokalen Zeitung empfangen und ihm u. a. erklärt halbe, dass er, der Gouverneur, persönlich eine Konferenz der Adelsmarschälle, der Vertreter der Semstwoämter, der Bezirkshauptleute und der Vertreter des Roten Kreuzes veranstaltet und die „Funktionen verteilt" habe.

Skorbuterkrankungen – sagte A. P. Engelhardt – in der Form, wie ich sie im Gouvernement Archangelsk beobachtet habe, gibt es hier nicht: dort darf man sich dem Kranken nicht auf fünf Schritte nähern; dort ist es wirklich eine „faule" Krankheit, – hier dagegen ist sie meist die Folge starker Blutarmut, die sich wiederum als Folge der furchtbaren Verhältnisse des häuslichen Lebens entwickelt. Fast die einzigen Merkmale der Skorbuterkrankungen sind hier – weiße Lippen, weißes Zahnfleisch …, ein solcher Kranker wird bei richtiger Ernährung im Laufe einer Woche wieder gesund. Diese richtige Ernährung ist jetzt eingeleitet worden. Es werden insgesamt tausend Portionen täglich ausgegeben, obwohl nicht mehr als 400 Fälle äußerster Not registriert worden sind.

Außer den Skorbuterkrankungen sind in der ganzen Gegend nur drei Fälle von Typhus festgestellt worden. Es ist zu hoffen, dass die Krankheit sich nicht weiter ausdehnt, da bereits überall öffentliche Arbeiten in Angriff genommen und der Bevölkerung Verdienstmöglichkeiten gesichert sind."5

So gut steht es: im ganzen Kreis Chwalynsk (von dem der Herr Pompadour spricht) gibt es nur 400 Fälle äußerster Not (die übrigen Leute können wahrscheinlich, nach Meinung der Herren Sipjagin und Engelhardt, mit 24 Pud Getreide pro Familie im Jahr „auskommen"!), die Bevölkerung ist bereits versorgt, und die Kranken gesunden nach einer Woche. Wie sollte man nach all dem den „Moskowskije Wjedomosti" nicht Glauben schenken, die in einem besonderen Leitartikel (in Nr. 258) uns zu überzeugen suchen, dass

auf Grund der letzten Nachrichten aus den zwölf Gouvernements, die von der Missernte betroffen sind, die Verwaltungsbehörden die regste Tätigkeit zur Organisierung der Hilfeleistung entfalten. In vielen Kreisen hat man bereits Untersuchungen angestellt, um festzustellen, ob es in ihnen an Lebensmitteln mangelt, es werden Kreisleiter für das Verpflegungswesen ernannt usw. Offenbar tun die Regierungsbeamten alles, um rechtzeitig und ausreichend Hilfe zu leisten."6

„… entfalten die regste Tätigkeit" und … „es sind nur 400 Fälle äußerster Not registriert worden" Im Kreise Chwalynsk haben wir eine Landbevölkerung von 165.000, aber nur 1000 Portionen werden ausgegeben. Im gesamten südöstlichen Gebiet (das Gouvernement Saratow mit inbegriffen) beträgt der fehlende Ertrag der Roggenernte 34 Prozent. Im Gouvernement Saratow sind von der gesamten Anbaufläche der Bauernländereien (anderthalb Millionen Desjatinen) – nach Angaben des Semstwoamtes des Gouvernements – 15 Prozent von einer totalen Missernte, 75 Prozent von einer schlechten Ernte betroffen worden, der Kreis Chwalynsk aber und der Kreis Kamyschin gehören zu den meist betroffenen Kreisen des Gouvernements Saratow. Folglich beträgt der gesamte fehlende Ernteertrag der Bauern des Kreises Chwalynsk mindestens 30 Prozent. Nehmen wir an, dass die Hälfte dieses Minderertrages auf die wohlhabende Bauernschaft entfällt, die dadurch noch nicht zum Hungern verurteilt ist (obwohl eine solche Annahme mehr als gewagt ist, denn die wohlhabende Bauernschaft besitzt besseren Boden und bearbeitet ihn besser, so dass sie unter einer Missernte stets weniger zu leiden hat als die armen Bauern). Aber selbst bei einer solchen Annahme erweist es sich, dass es 15 Prozent, also etwa 25.000 Hungernde geben muss. Man will uns aber damit trösten, dass der Skorbut im Kreise Chwalynsk bei weitem nicht so schlimm sei wie im Gouvernement Archangelsk, dass angeblich nur drei Fälle von Typhus vorgekommen sind (wollte man doch wenigstens klüger schwindeln!), und dass 1000 Portionen (berechnet und bemessen wahrscheinlich nach dem Sipjaginschen System des Kampfes … gegen Übertreibungen) ausgegeben werden.

Was die besonderen „Verdienste" betrifft, die Herr Sipjagin in seinem Rundschreiben dreimal in Rechnung zu stellen bemüht war, um Übertreibungen zu vermeiden (einmal – indem er vorschreibt, die Kreise, in denen es die üblichen Verdienstmöglichkeiten gibt, nicht als notleidend anzusehen; das zweite Mal – indem er vorschreibt, die Norm von 48 Pud auf die Hälfte herabzusetzen, denn 50 Prozent der Arbeiterbevölkerung „müssen" verdienen; und das dritte Mal – indem er vorschreibt, auch diese letzte Zahl je nach den örtlichen Verhältnissen um ein Drittel bis ein Zehntel herabzusetzen), – was also diese Verdienste betrifft, so muss festgestellt werden, dass im Gouvernement Saratow nicht nur der Verdienst der in der Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerung gesunken ist, sondern auch der Verdienst der nicht in der Landwirtschaft Beschäftigten. „Die Folgen der Missernte – teilt uns der obenerwähnte Bericht des Semstwoamtes mit – haben auch auf das bäuerliche Heimgewerbe ihre Wirkung ausgeübt, weil der Absatz ihrer Erzeugnisse gesunken ist. Infolgedessen sind in den Kreisen mit stark entwickeltem Heimgewerbe Krisen zu beobachten. Zu diesen Kreisen gehört aber auch der am meisten betroffene Kreis Kamyschin, in dem übrigens viele Tausende armer Bauern in den berühmten Sarpin-Webereien7 beschäftigt sind. Auch zu gewöhnlichen Zeiten waren die Verhältnisse in diesem, in den abgelegensten Bauerngegenden betriebenen Gewerbe im höchsten Maße unerträglich: so arbeiteten z. B. Kinder von 6 bis 7 Jahren für 7 bis 8 Kopeken den Tag. Man kann sich vorstellen, wie es dort in einem Jahr der schlimmsten Missernte und einer besonderen Krise des Heimgewerbes zugeht.

Die Missernte im Gouvernement Saratow ist (wie selbstverständlich in allen von der Missernte betroffenen Gouvernements) von einem Mangel an Futtermitteln begleitet. In den letzten Monaten (d. h. bereits in der zweiten Hälfte des Sommers!) war eine außerordentlich starke Verbreitung von allerhand Viehseuchen zu verzeichnen, die die Sterblichkeit des Viehs erhöhten. „Nach der Mitteilung des Tierarztes aus dem Kreise Chwalynsk (wir entnehmen diese Nachricht der gleichen Zeitung8, die den Inhalt des erwähnten Berichts des Gouvernement-Semstwoamtes brachte) fand man bei der Obduktion der verreckten Tiere nichts als Erde in ihrem Magen."

In der „Mitteilung der Semstwoabteilung des Innenministeriums"9 über die Fortsetzung der Verpflegungskampagne wurde u. a. erklärt, dass von den als notleidend geltenden Kreisen

nur im Kreise Chwalynsk seit Juli in zwei Dörfern eine Reihe von epidemischen Skorbuterkrankungen vorgekommen sind, zu deren Bekämpfung die dortigen Ärzte alle Anstrengungen machten; zur Unterstützung des örtlichen medizinischen Personals sind vom Roten Kreuz zwei Trupps abkommandiert worden, die, wie der Bericht des Gouverneurs lautet" (desselben A. P. Engelhardt, dessen Bekanntschaft wir bereits gemacht haben), „mit großem Erfolge tätig sind. In allen übrigen Kreisen, die in Bezug auf das Verpflegungswesen als notleidend gelten, hat es, nach den im Ministerium am 12. September vorliegenden Nachrichten, keine Fälle von unbefriedigter, akuter Lebensmittelnot gegeben, und eine Ausbreitung der Krankheiten infolge ungenügender Ernährung ist nicht zu verzeichnen."

Um zu zeigen, wie weit man Vertrauen haben darf zu der Behauptung, es habe keine Fälle unbefriedigter akuter Not gegeben (eine chronische Not aber hat es gegeben?) und eine Ausbreitung der Krankheit sei nicht zu verzeichnen, wollen wir uns darauf beschränken, noch die Angaben von zwei anderen Gouvernements miteinander zu vergleichen.

Im Gouvernement Ufa sind die Kreise Menselinsk und Belebej als von der Missernte betroffen erklärt worden, und die Semstwoabteilung des Innenministeriums teilt mit, dass „speziell für Ernährungszwecke" auf Grund einer Mitteilung des Gouverneurs ein Darlehn der Regierung in der Höhe von 800.000 Pud notwendig sein werde. Die außerordentliche Semstwoversammlung des Gouvernements Ufa hingegen, die für den 27. August einberufen war, um über die Frage der Unterstützung der von der Missernte Betroffenen zu beraten, schätzte den Bedarf dieser Kreise an Nahrungsmitteln auf 2,2 Millionen Pud Getreide, wozu noch eine Million für die übrigen Kreise hinzukommt, und zwar unabhängig von den Krediten für Aussaat (3,2 Millionen Pud für das Gouvernement) und für Viehfutter (600.000 Pud). Die vom Ministerium festgesetzten Nahrungsmitteldarlehn betragen also den vierten Teil der vom Semstwo geschätzten Summe.

Ein anderes Beispiel: Im Gouvernement Wjatka gab es zu der Zeit, als die Semstwoabteilung ihre Mitteilung veröffentlichte, keine Kreise, die für notleidend erklärt wurden, aber doch wurde der Bedarf an Lebensmittelkrediten auf 782.000 Pud festgesetzt. Das ist dieselbe Summe, die, wie die Mitteilungen der Zeitungen lauten, das Ernährungsamt des Gouvernements Wjatka bereits in seiner Sitzung vom 28. August berechnet hatte (und zwar auf Grund der Beschlüsse der Kreistage vom 18.–25. August). Auf denselben Tagungen wurde, ungefähr am 12. August, die Höhe der Darlehn anders festgelegt, und zwar: 1,1 Millionen Pud Nahrungsmittel und 1,4 Millionen Pud Saatgut. Woher dieser Unterschied? Was ist zwischen dem 12. und dem 28. August geschehen? Es ist das Zirkular des Herrn Sipjagin vom 17. August über den Kampf gegen die Hungernden erschienen. Das Zirkular hatte also eine sofortige Wirkung, und die kleine Summe von 230.000 Pud Getreide wurde aus der Berechnung gestrichen, die – das darf man nicht außer acht lassen – von den Kreistagen, d. h. von Institutionen aufgestellt worden war, die (auf Grund des Gesetzes vom 12. Juni 1900) das unzuverlässige Semstwo zu ersetzen hatten, von Institutionen, die aus Beamten im Allgemeinen und im Besonderen aus Bezirkshauptleuten bestand… Werden wir es tatsächlich noch erleben, dass man auch die Bezirkshauptleute des Liberalismus beschuldigt? Auch das wäre zu erwarten. In den „Moskowskije Wjedomosti" wenigstens haben wir vor kurzem gelesen, dass einem Herrn Om. ein Verweis erteilt wurde, weil er es gewagt hatte, im „Priasowski Kraj" den Vorschlag zu machen, dass man die Protokolle der Sitzungen der Gouvernementsämter für die Angelegenheiten der Städte in den Zeitungen veröffentliche (wo doch schon die Vertreter der Presse zu diesen Sitzungen nicht zugelassen werden dürfen):

Der Zweck ist zu durchsichtig: der russische Beamte hat oft Angst, als nicht liberal zu gelten, und die Öffentlichkeit der Verhandlung kann ihn, mitunter sogar gegen sein Gewissen, zwingen, irgendein liberal-phantastisches Unternehmen einer Stadt oder eines Semstwos zu unterstützen. Eine nicht ganz fehlerhafte Überlegung."10

Müsste man nicht eine besondere Überwachung der Bezirkshauptleute des Gouvernements Wjatka anordnen, die – offenbar aus Angst, für nicht liberal angesehen zu werden – einen unverzeihlichen Leichtsinn bei der „Übertreibung" der Nahrungsmittelnot an den Tag legten.D

Das Semstwo von Wjatka wäre übrigens (wenn die weise russische Regierung es nicht von der Leitung des Verpflegungswesens entfernt hätte) in seinem „liberal-phantastischen Unternehmen" so weit gegangen, dass es den Umfang der Not noch viel hoher eingeschätzt hätte. Die außerordentliche Gouvernements-Semstwoversammlung, die vom 30. August bis zum 2. September tagte, stellte wenigstens fest, dass der Ertrag an Getreide um 17 Prozent, der an Futtermitteln um 15 Prozent geringer ist als die benötigte Menge beträgt. Die benötigte Menge aber beträgt 105 Millionen Pud (der Durchschnittsertrag ist 134 Millionen Pud in diesem Jahre aber - 84 Millionen Pud). Das fehlende Quantum beträgt also 2 1 Millionen Pud. „Die Gesamtzahl der Amtsbezirke des Gouvernements, die in diesem Jahre durch die Ernte nicht versorgt sind, beträgt 158 von 310. Die Bevölkerung dieser Amtsbezirke zählt 1.566.000 Menschen beiderlei Geschlechts." Ja, zweifellos „entfalten die Verwaltungsbehörden die regste Tätigkeit" – um den wirklichen Umfang der Not zu verkleinern und die ganze Unterstützung der Hungernden zu einem Akrobatenkunststück der Bettelpfennig-Wohltätigkeit zu machen.

Übrigens wäre die Bezeichnung „Akrobaten der Wohltätigkeit" noch viel zu schmeichelhaft für die unter der Flagge des Sipjaginschen Zirkulars fest zusammenhaltenden Verwaltungsbeamten. Was sie mit den Akrobaten der Wohltätigkeit verbindet, ist die Jämmerlichkeit ihrer Unterstützung und das Bestreben, ihren Umfang zu übertreiben. Aber die Akrobaten der Wohltätigkeit betrachten die Menschen, denen sie Wohltaten erweisen, im schlimmsten Falle als ein Spielzeug, das ihre Eigenliebe angenehm kitzelt, während die Sipjaginschen Verwaltungsbehörden sie als Feinde betrachten, als Leute, die gesetzwidrig etwas verlangen („durch nichts gerechtfertigte Forderungen an die Regierung") und darum gebändigt werden müssen. In aller Deutlichkeit kommt diese Auffassung in den bemerkenswerten „provisorischen Bestimmungen" zum Ausdruck, die am 15. September 1901 allerhöchst bestätigt wurden.

Das ist ein ganzes Gesetz, das aus 20 Paragraphen besteht und soviel Bemerkenswertes enthält, dass wir keinen Augenblick zögern würden, es zu den wichtigsten gesetzgeberischen Akten des Anfangs des XX. Jahrhunderts zu zählen. Fangen wir mit der Bezeichnung an: „Provisorische Bestimmungen über die Beteiligung der Bevölkerung der von der Missernte betroffenen Gebiete an den auf Anordnung der Ministerien für Verkehrswesen, für Landwirtschaft und für Staatsdomänen vorzunehmenden Arbeiten". Wahrscheinlich sind diese Arbeiten derart gespickt mit Vergünstigungen, dass die „Beteiligung" an ihnen eine besondere Gnade ist? Wahrscheinlich, sonst würde der erste Paragraph des neuen Gesetzes nicht wiederholen: „Der Landbevölkerung der von der Missernte betroffenen Gebiete wird die Beteiligung an der Ausführung der Arbeiten gestattet" usw.

Doch von diesen „Vergünstigungen" spricht das Gesetz erst in seiner zweiten Hälfte, während zunächst die Organisation der ganzen Sache festgelegt wird. Die betreffenden Ämter „setzen die zweckmäßigsten Arbeiten fest" (Art. 2), und zwar „entsprechend der im Gesetz vorgesehenen Ordnung" (Art. 3, den man entsprechend den Kapitelüberschriften einiger Romane von Dickens etwa bezeichnen könnte als „den Artikel des neuen Gesetzes, in dem von der Notwendigkeit gesprochen wird, sich an die alten Gesetze anzupassen"). Für die Durchführung der Arbeiten werden entweder Mittel aus dem Staatshaushalt oder besondere Kredite verwendet, wobei die allgemeine Leitung der Arbeiten dem Innenminister untersteht, der besondere Bevollmächtigte ernennen kann und eine besondere „Kommission für das Verpflegungswesen" aus Vertretern der verschiedenen Ministerien unter dem Vorsitz eines Unterstaatssekretärs zu bilden hat. Die Aufgaben dieser Kommission sind: a) Zulassung von Abweichungen von der festgesetzten Ordnung; b) Prüfung von Voranschlägen für die Verwendung der Gelder; c) Festsetzung der Höchstnormen für die Bezahlung der Arbeiter, ferner Festsetzung der übrigen Bedingungen für die Beteiligung der Bevölkerung an den Arbeiten; d) Verteilung der Arbeiterkolonnen auf die einzelnen Arbeitsbezirke; e) Leitung des Transports dieser Arbeiterkolonnen nach den Arbeitsstätten. Die Gutachten der Kommission bestätigt der Innenminister, in „entsprechenden Fällen" auch die Minister anderer Ressorts. Weiter wird die Zuweisung der Arbeiten und die Feststellung der Zahl der notleidenden Bevölkerung den Bezirkshauptleuten übertragen, die alle diese Angaben den Gouverneuren mitteilen; die Gouverneure aber übermitteln sie mit ihrem Gutachten dem Innenministerium, und auf Anweisung des Innenministeriums treffen sie durch die Bezirkshauptleute Anordnungen über die Beförderung der Arbeiter an die Arbeitsstellen …

Uff! Endlich haben wir die ganze „Organisation" der neuen Sache bewältigt! Jetzt fragt es sich, wie viel Schmieröl notwendig sein wird, um alle Räder dieser schwerfälligen, echt russischen Verwaltungsmaschine in Bewegung zu setzen? Man versuche nur, sich die Sache konkret vorzustellen: unmittelbar neben den Hungernden befindet sich ein Bezirkshauptmann. Er hat also Initiative zu entfalten. Er schreibt einen Zettel – an wen? An den Gouverneur, lautet ein Artikel der provisorischen Bestimmungen vom 15. September. Aber auf Grund des Zirkulars vom 17. August ist ja eine besondere „Kreis-Zentralstelle für das Verpflegungswesen" geschaffen worden, deren Aufgabe darin besteht, „die Leitung des gesamten Verpflegungswesens des Kreises in den Händen eines Beamten zu konzentrieren" (Zirkular vom 17. August – dieser Beamte soll möglichst der Kreis-Adelsmarschall sein). Es entstehen „Reibungen", die natürlich rasch beigelegt werden auf Grund der außerordentlich klaren und einfachen „Grundsätze", die in den sechs Punkten des Artikels 175 der „Gouvernements-Verwaltungsordnung" dargelegt sind und „die Beilegung von Reibungen … zwischen den Behörden und den Beamten" regeln. Schließlich gelangt das Schriftstück dennoch in die Kanzlei des Gouverneurs, wo nun das „Gutachten" ausgearbeitet wird. Dann geht alles nach Petersburg, um von der Sonderkommission geprüft zu werden. Aber der Vertreter des Verkehrsministeriums in der Kommission ist nicht imstande, die Frage der Zweckmäßigkeit einer solchen Arbeit, wie z. B. die Ausbesserung der Wege im Kreise Buguruslan, zu beurteilen, – und ein neues Papierchen wandert von Petersburg nach der Provinz und zurück. Und wenn schließlich die Frage der Zweckmäßigkeit der Arbeit usw. usw. prinzipiell entschieden ist, dann beschäftigt sich die Petersburger Kommission mit der „Verteilung der Arbeiterkolonnen" zwischen dem Kreis Busuluk und Buguruslan.

Wozu ist nun eine solche Maschine geschaffen worden? Etwa weil die Sache neu ist? Absolut nicht. Die öffentlichen Arbeiten konnten vor dem Erlass der provisorischen Bestimmungen vom 15. September viel einfacher „auf Grund der bestehenden Gesetze" organisiert werden, und gerade das Zirkular vom 17. August, das sich mit den öffentlichen Arbeiten beschäftigt, die von den Semstwos, den Kuratorien der Arbeitshäuser und den Gouvernementsbehörden vorgenommen werden, sieht nicht die Notwendigkeit irgendeiner besonderen Organisation vor. Die „Verpflegungskampagne" der Regierung besteht also darin, dass die Petersburger Departements einen ganzen Monat hindurch (vom 17 August bis zum 15. September) überlegten und schließlich Dinge ausfindig machten, die zu einer endlosen Verschleppung führen mussten. Dafür aber wird die Petersburger Kommission sicherlich nicht Gefahr laufen, in Übertreibungen zu verfallen, eine Gefahr, vor der die Beamten der Provinz, die „sich fürchten, als nicht liberal zu gelten", nicht geschützt sind.

Aber das Hauptstück der neuen „provisorischen Bestimmungen" sind die Bestimmungen über die Einstellung der „Landbewohner" zur Arbeit. Wenn die Arbeiten „außerhalb ihres Wohnbezirks" vor sich gehen, so bilden die Arbeiter erstens besondere Artels „unter Aufsicht des Bezirkshauptmanns", der auch einen Ältesten zur Aufrechterhaltung der Ordnung zu bestimmen hat; zweitens wird eine besondere Liste der Arbeiter, die einem solchen Artel angehören, aufgestellt; diese Liste „ersetzt für die in ihr (in „selbiger", wie es im Gesetz heißt) eingetragenen Arbeiter – wenn sie den Aufenthaltsort ändern und für die Zeit ihrer Beteiligung an den Arbeiten – die vom Gesetz erforderten Aufenthaltsausweise und wird, bis die Arbeiter am Bestimmungsort angelangt sind, von dem Beamten aufbewahrt, der die Arbeiter auf der Fahrt begleitet hat oder, in seiner Abwesenheit, von dem Artel-Ältesten und später von demjenigen, der die Durchführung der Arbeiten leitet.

Warum war es notwendig, die gewöhnlichen Pässe, die jeder Bauer, der seinen Wohnort verlassen will, kostenlos zu erhalten berechtigt ist, durch eine besondere Liste zu ersetzen? Für den Arbeiter ist das zweifellos eine Beschränkung seiner Freiheit, denn wenn er seinen eigenen Pass hat, so ist er viel freier, sowohl in der Wahl seiner Wohnung als auch in der Einteilung seiner Zeit, er kann seine Arbeit aufgeben, um eine andere anzunehmen, die für ihn vorteilhafter oder bequemer ist. Wir werden weiter sehen, dass man das zweifellos absichtlich getan hat, und nicht nur aus Neigung zum Bürokratismus, sondern gerade um die Arbeiter in ihrer Freiheit zu beschränken und sie Leibeigenen gleichzusetzen, die man mit einem „Begleitschein", gewissermaßen mit einer „Arrestantenliste" zu transportieren pflegte. Es zeigt sich, dass z. B. die Sorge um die „Aufrechterhaltung der notwendigen Ordnung während des Transports und die Ablieferung (sic!) der beförderten Arbeiterkolonnen an die Leiter der Arbeiten Beamten anvertraut wird, die vom Innenminister speziell dazu bestimmt sind". Je tiefer in den Wald, um so dichter die Bäume. Das Ersetzen der Pässe durch Listen führt zum Ersetzen der Freizügigkeit durch „Beförderung und Ablieferung der Kolonnen". Spricht man hier etwa von Zuchthäuslerkolonnen? Sind denn bereits (vielleicht zur Strafe für die „Übertreibung" der Hungersnot?) alle Gesetze aufgehoben, die besagen, dass der Bauer, der einen Pass besitzt, reisen darf, wohin und wie es ihm beliebt? Ist denn die Übernahme der Beförderungskosten durch die Staatskasse ein genügender Grund, um die Bürgerrechte aufzuheben?

Weiter. Es stellt sich heraus, dass die Leute, die über die Verteilung der Arbeiter, die Auszahlung des Arbeitslohnes usw. zu verfügen haben, und die anderen bei den Notstandsarbeiten beschäftigten Beamten „einen Teil des Arbeitslohnes zur Überweisung an die Familien der Arbeiter einbehalten, wenn die Gouvernementsbehörden der Gegenden, in denen die Familien zurückgeblieben sind, das für nötig halten". Das ist eine weitere Entrechtung. Wie können es die Beamten wagen, den Arbeitslohn zurückzubehalten? Wie können sie es wagen, sich in die Familienangelegenheiten der Arbeiter einzumischen und an deren Stelle, als handelte es sich um Leibeigene, zu bestimmen, wen und in welchem Ausmaße sie zu unterstützen haben? Werden denn die Arbeiter überhaupt damit einverstanden sein, dass man ohne sie zu fragen, das von ihnen verdiente Geld zurückbehält? Diese Frage beschäftigte wahrscheinlich auch die Verfasser der neuen „Zuchthausbestimmungen", denn der Gesetzesparagraph, der auf den von uns angeführten unmittelbar folgt, lautet:

Für die Aufrechterhaltung der notwendigen Ordnung durch die Arbeiter an den Orten, wo Notstandsarbeiten ausgeführt werden, haben gemäß der Bestimmung des Innenministers die Bezirkshauptleute, die Offiziere der besonderen Gendarmeriekorps, die Polizeibeamten oder besonders dazu bestimmte Personen Sorge zu tragen."

Wirklich, es handelt sich hier um eine Bestrafung der Bauern durch ihre Entrechtung für die „Übertreibung" der Hungersnot und für die „durch nichts gerechtfertigten Forderungen an die Regierung". Es genügt noch nicht, dass alle russischen Arbeiter sowohl von der allgemeinen Polizei als auch von der Fabrikpolizei und der politischen Polizei überwacht werden, – hier wird noch eine besondere Überwachung angeordnet. Man könnte meinen, die Regierung habe aus Angst vor diesen mit tausend Vorsichtsmaßnahmen beförderten und abgelieferten Kolonnen hungernder Bauern vollkommen den Kopf verloren. Weiter.

In Fällen der Verletzung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, des offenbar fahrlässigen Verhaltens gegenüber der Arbeit oder der Nichtdurchführung gesetzlicher Anordnungen der Beamten, die die Durchführung der Arbeiten leiten oder für die Aufrechterhaltung der Ordnung Sorge zu tragen haben, können die schuldigen Arbeiter ohne besonderes Gerichtsverfahren auf Anordnung der in Paragraph 16 (den wir eben angeführt haben) erwähnten Beamten mit Haft bis zu drei Tagen bestraft werden. In Fällen hartnäckiger Verweigerung der Arbeit können sie auf Anordnung derselben Beamten per Schub an den Ort ihres ständigen Wohnsitzes zurück transportiert werden."

Muss man nach alledem die provisorischen Bestimmungen vom 15. September nicht als provisorische Zuchthausbestimmungen bezeichnen? Bestrafung ohne Gericht, Abtransport per Schub … Groß, sehr groß ist die Unwissenheit und die Niedergedrücktheit der russischen Bauern, aber alles hat doch seine Grenze. Auch die unaufhörliche Hungersnot und die endlosen Ausweisungen der Arbeiter aus den Städten konnten nicht spurlos vorübergehen. Und unsere Regierung, die einen solchen Gefällen daran gefunden hat, mit Hilfe provisorischer BestimmungenE zu regieren, wird es noch erleben, dass sie sich dabei die Zähne ausbeißt.

Mögen die „provisorischen Bestimmungen" vom 15. September für uns ein Anlass sein zur Entfaltung einer breiten Agitation in den Arbeiterzirkeln und in der Bauernschaft. Lasst uns den Text dieser Verordnung mit einer Erläuterung in Flugblättern verbreiten. Veranstalten wir Versammlungen, in denen wir das Gesetz verlesen und seinen Inhalt im Zusammenhang mit der gesamten „Ernährungspolitik" der Regierung erläutern. Sorgen wir dafür, dass jeder halbwegs klassenbewusste Arbeiter, der auf diese jene Weise ins Dorf gerät, eine klare Vorstellung von den „provisorischen Zuchthausbestimmungen" hat und imstande ist, allen und jedem zu erzählen, worum es sich hier handelt und was zu tun ist, um sich aus dem Zuchthaus des Hungers, der Willkür und der Rechtlosigkeit zu befreien.

Aber jenen schöngeistigen russischen Intellektuellen, die sich mit allerlei Artels und ähnlichen von der Regierung geduldeten der geförderten legalen Vereinigungen abgeben, mögen diese provisorischen Bestimmungen über die Arbeiterartels eine ständige Mahnung und ernste Warnung sein: eine Mahnung wegen der Naivität, mit der sie an die Aufrichtigkeit der Duldung der der Förderung durch die Regierung glaubten, ohne den Niederträchtigen, leibeigenschaftlichen Kern hinter dem Schild der „Entwicklung der Volksarbeit" usw. zu sehen. Eine Warnung – damit sie in Zukunft, wenn sie von Artels und sonstigen von den Herren Sipjagin geduldeten Vereinigungen reden, nie vergessen, die ganze Wahrheit über die Arbeiterartels und die provisorischen Bestimmungen vom 15. September zu sagen oder aber, wenn sie von diesen Artels nicht reden können, dass sie dann lieber ganz schweigen.

II.

Das Verhalten zur Krise und zur Hungersnot

Neben der neuen Hungersnot haben wir noch immer die alte, bereits chronisch gewordene Krise in Industrie und Handel, die Zehntausende von Arbeitern, die keine Arbeit finden, auf die Straße geworfen hat. Die Not dieser Arbeiter ist ungeheuer groß, und um so auffallender ist es, wie ganz verschieden sich sowohl die Regierung als auch die gebildete „Gesellschaft" zu dieser Not und zu der Not der Bauern verhält. Weder die öffentlichen Institutionen noch die Presse machen auch nur den geringsten Versuch, die Zahl der notleidenden Arbeiter und den Grad der Not zum mindesten ebenso annähernd zu bestimmen, wie das bei den Bauern geschieht. Es werden keine systematischen Maßnahmen ergriffen, um eine Hilfsaktion für die hungernden Arbeiter zu organisieren.

Worauf ist dieser Unterschied zurückzuführen? Wir meinen, am wenigsten darauf, dass die Not der Arbeiter gewissermaßen weniger nach außen in Erscheinung tritt, in weniger scharfen Formen zum Ausdruck kommt. Allerdings weiß die nicht zum Proletariat gehörende städtische Bevölkerung wenig davon, wie die Fabrikarbeiter sich jetzt abquälen, wie sie sich in Kellern, Dachstuben und Hundelöchern noch mehr zusammendrängen müssen, wie sie noch weniger zu essen haben als sonst und den Wucherern die letzten Reste ihres Hausrates zu verkaufen gezwungen sind; allerdings lenkt das Anwachsen der Zahl der Vagabunden und Bettler, der Besucher der Asyle für Obdachlose und der Gefängnis- und Krankenhausinsassen keine besondere Aufmerksamkeit auf sich, weil „alle" ja so sehr daran gewöhnt sind, dass in der Großstadt die Nachtasyle und sonstigen Zufluchtsstätten der entsetzlichsten Armut überfüllt sein müssen; allerdings sind die arbeitslosen Arbeiter keineswegs an den Ort gebunden, wie die Bauern, und gehen entweder in die verschiedensten Gegenden des Landes, um sich Arbeit zu suchen, oder sie werden von den Verwaltungsbehörden, die sich vor einer Anhäufung von Arbeitslosen fürchten, „in die Heimat" ausgewiesen. Aber trotz alledem sieht jeder, der mit dem industriellen Leben in Berührung kommt, mit eigenen Augen, und jeder, der das öffentliche Leben verfolgt, weiß aus den Zeitungen, dass die Arbeitslosigkeit immer mehr anwächst.

Nein, die Ursachen für dieses unterschiedliche Verhalten liegen tiefer; man muss sie darin suchen, dass die Hungersnot auf dem flachen Lande und die Arbeitslosigkeit in den Städten zu ganz verschiedenen Kategorien des wirtschaftlichen Lebens des Landes gehören, durch ganz verschiedene Wechselbeziehungen der Ausbeuterklasse und der Klasse der Ausgebeuteten bedingt sind. Auf dem flachen Lande sind die Beziehungen zwischen diesen beiden Klassen überhaupt außerordentlich verworren, sie werden kompliziert durch eine Menge von Übergangsformen, wo die Landwirtschaft bald mit den Wucherern bald mit der Lohnarbeit usw. in Verbindung tritt. Und es hungern dabei nicht die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, deren Interessen den Interessen der Gutsbesitzer und reichen Bauern entgegengesetzt sind, was allen und zum großen Teil auch den Arbeitern klar ist, sondern es hungern die kleinen Bauern, die man für selbständige Landwirte zu halten pflegt (und die sich selbst dafür halten) und die nur zufällig manchmal in diese oder jene „vorübergehende" Abhängigkeit geraten. Die nächstliegende Ursache der Hungersnot – die Missernte – ist in den Augen der Masse eine Naturkatastrophe, eine durch Gottes Walten hervorgerufene Erscheinung. Da aber diese Missernten, die von Hungersnöten begleitet sind, seit unausdenklichen Zeiten immer wieder vorkommen, so ist auch die Gesetzgebung seit langem gezwungen, ihnen Rechnung zu tragen. Seit langem bestehen bereits (hauptsächlich auf dem Papier) ganze Satzungen über die Verpflegung des Volkes, die ein ganzes System von „Maßnahmen" vorschreiben. Und wie wenig auch diese Maßnahmen, die zum großen Teil aus der Zeit der Leibeigenschaft und des Überwiegens der patriarchalischen Naturalwirtschaft entlehnt sind, den Bedürfnissen der gegenwärtigen Epoche entsprechen mögen, so bringt dennoch jede Hungersnot den ganzen Mechanismus der Verwaltungsbehörden und der Semstwos in Bewegung. Diesem Mechanismus aber fällt es trotz aller Anstrengungen der Machthaber schwer, ja es ist für ihn fast unmöglich, ohne die allseitige Hilfe der so verhassten „dritten Personen", der Intellektuellen, auszukommen, die nur danach trachten, „Lärm" zu schlagen. Anderseits führt der Zusammenhang der Hungersnot mit der Missernte und die Unwissenheit des Bauern, der es nicht begreift (oder nur höchst unklar begreift), dass nur der immer stärker werdende Druck des Kapitals und die räuberische Politik der Regierung und der Gutsbesitzer ihn in den Zustand eines solchen Elends gebracht haben, – dazu, dass die Hungernden sich völlig hilflos fühlen und nicht nur keine übermäßigen, sondern überhaupt keine Ansprüche stellen.

Je niedriger aber in der unterdrückten Klasse das Niveau des Bewusstseins ihrer Unterdrücktheit und je geringer ihre Ansprüche an die Unterdrücker sind, um so mehr Leute gibt es in den besitzenden Klassen, die zur Wohltätigkeit neigen, und um so geringer ist verhältnismäßig der Widerstand gegen diese Wohltätigkeit von Seiten der am Elend der Bauern unmittelbar interessierten lokalen Gutsbesitzer. Wenn man diese außer Zweifel stehende Tatsache berücksichtigt, so zeigt es sich, dass der stärkere Widerstand der Gutsbesitzer, das immer lauter werdende Geschrei über die „Demoralisierung" des Bauern und schließlich die von diesem Geiste beseelten rein militärischen Maßnahmen der Regierung gegen die Hungernden und gegen die Wohltäter, – dass alles das ein deutlicher Beweis ist für den völligen Verfall und die Zersetzung dieser uralten, patriarchalischen, durch Jahrhunderte geheiligten und angeblich unerschütterlichen Lebensformen auf dem Lande, für die sich die leidenschaftlichsten Slawophilen, die zielbewusstesten Reaktionäre und die naivsten „Volkstümler" vom alten Typus so sehr begeisterten. Wir Sozialdemokraten wurden von den Volkstümlern stets beschuldigt, den Begriff des Klassenkampfes künstlich dort hinein zu tragen, wo er überhaupt nicht anwendbar ist. Die Reaktionäre beschuldigten uns, dass wir den Klassenhass entzünden und „einen Teil der Bevölkerung gegen den anderen" aufhetzen. Ohne die Antwort auf diese Beschuldigung, die wir bereits Dutzende von Malen erteilt haben, zu wiederholen, wollen wir nur bemerken, dass die russische Regierung uns allen voraus ist in der Beurteilung der Schärfe des Klassenkampfes und in der Energie der Maßnahmen, die sich aus einem solchen Urteil ergeben. Jeder, der in dieser oder jener Weise mit den Leuten in Berührung gekommen ist, die sich in den Hungerjahren aufmachten, um die Bauern zu „speisen" – und wer von uns ist mit ihnen nicht in Berührung gekommen? –, weiß, dass es das einfache menschliche Mitgefühl, das Gefühl des Mitleids war, das sie dazu bewog, dass irgendwelche „politische" Absichten ihnen vollkommen fern lagen, dass die Propaganda der Idee des Klassenkampfes diese Leute ganz kalt ließ, dass die Argumente der Marxisten in ihrem erbitterten Kampfe gegen die Ansichten der Volkstümler diese Leute nicht überzeugten. Was hat das mit Klassenkampf zu tun? – sagten sie. Die Bauern hungern, und man muss ihnen helfen.

Aber wen die Argumente der Marxisten nicht überzeugt haben, den werden vielleicht die „Argumente" des Herrn Innenministers überzeugen. „Nein, sie hungern nicht einfach" – verkündet er den Wohltätern – und ohne Erlaubnis der vorgesetzten Behörden darf man nicht „einfach" helfen, denn das begünstigt die Demoralisierung und die durch nichts begründeten Ansprüche. Sich in die Verpflegungskampagne einmischen, heißt sich in die Pläne Gottes und der Polizei einmischen, die die Herren Gutsbesitzer mit Arbeitern versorgen, die fast umsonst zu arbeiten bereit sind, der Staatskasse aber Einnahmen sichern, die durch das Eintreiben der Steuern erzielt werden. Und wer das Zirkular Sipjagins aufmerksam prüft, der muss sich sagen: jawohl, in unserem Dorf geht ein sozialer Krieg vor sich, und wie in jedem Kriege, kann das Recht der kämpfenden Parteien nicht angezweifelt werden, die Ladungen des Schiffes zu prüfen, die, wenn auch unter neutraler Flagge, in die Häfen des Feindes steuern! Von anderen Kriegen unterscheidet sich dieser nur dadurch, dass hier die eine Partei, die verpflichtet ist, ewig zu arbeiten und ewig zu hungern, überhaupt nicht kämpft, sondern nur bekämpft wird … vorläufig.

Auf dem Gebiet der Industrie steht die Tatsache des Vorhandenseins eines solches Krieges seit langem außer Zweifel, und der „neutrale" Wohltäter hat es nicht nötig, durch Zirkulare darüber aufgeklärt zu werden, dass Vorsicht besser ist als Nachsicht (d. h. dass man vorher die Erlaubnis der vorgesetzten Behörde und der Herren Fabrikbesitzer einholen muss). Bereits im Jahre 1885, als von einer irgendwie bemerkbaren sozialistischen Agitation unter den Arbeitern noch nicht die Rede sein konnte, auch nicht in Zentralrussland, wo die Arbeiter der Bauernschaft näher stehen als in der Hauptstadt, war infolge der Krise in der Industrie die Fabrikatmosphäre derart mit Elektrizität geladen, dass ständig, bald hier bald dort Explosionen erfolgten. Die Wohltätigkeit ist bei einer solchen Lage der Dinge von vornherein zur Ohnmacht verurteilt, und sie bleibt darum eine zufällige und rein individuelle Angelegenheit dieser oder jener Personen und gewinnt keine Spur von öffentlicher Bedeutung.

Wir wollen noch eine Besonderheit in Bezug auf das Verhältnis der Gesellschaft zur Hungersnot hervorheben. Bis zur letzten Zeit war bei uns, das kann man ohne Übertreibung sagen, die Ansicht vorherrschend, dass die ganze wirtschaftliche, ja selbst die staatliche Ordnung Russlands sich nur auf die Masse der Bauern stütze, die Boden besitzen und auf diesem selbständig wirtschaften. Wie weit diese Auffassung sogar in die Kreise fortschrittlich gesinnter Menschen eingedrungen war, die am wenigsten dazu neigen, auf die offiziellen Lobgesänge hereinzufallen, das hat mit besonderer Deutlichkeit das Notizbuch Nikolai-ons" gezeigt, das nach der Hungersnot des Jahres 1891/92 erschienen ist. Den Ruin einer ungeheuren Zahl von Bauernwirtschaften hielten alle für ein solches Absurdum, für einen so unmöglichen Sprung ins Nichts, dass die Notwendigkeit einer großzügigen Hilfsaktion, die wirklich imstande wäre, die „Wunden zu heilen", fast zur allgemeinen Losung wurde. Und wiederum nahm sich kein anderer als Herr Sipjagin die Mühe, auch die letzten Illusionen zu zerstreuen. Worauf stützt sich denn „Russland", wovon lebt die Landwirtschaft, wovon Industrie und Handel, wenn nicht vom Ruin und Elend des Volkes? Den Versuch zu machen, diese „Wunde" nicht nur auf dem Papier zu heilen, ist ein Staatsverbrechen!

Herr Sipjagin wird zweifellos die Verbreitung und Einhämmerung der Wahrheit fördern, dass es außer dem Klassenkampf des revolutionären Proletariats gegen die ganze kapitalistische Gesellschaftsordnung kein Mittel gibt und geben kann, weder gegen die Arbeitslosigkeit und die Krisen noch gegen jene asiatisch-barbarischen und grausamen Formen der Enteignung des Kleinproduzenten, die dieser Prozess bei uns angenommen hat. Die Massenopfer der Hungersnot und der Krise interessieren die Herren des kapitalistischen Staates ebenso wenig, wie etwa eine Lokomotive sich dafür interessiert, wen sie auf ihrem Wege zermalmt. Tote Körper sind den Rädern im Wege, der Zug bleibt stehen, er kann sogar (wenn die Lokomotivführer allzu energisch sind) entgleisen, aber er setzt auf jeden Fall nach einiger Unterbrechung seine Fahrt fort. Man hört von dem Hungertod und dem Ruin von Zehntausenden und Hunderttausenden kleiner Landwirte, aber gleichzeitig hört man auch von dem Fortschritt der einheimischen Landwirtschaft, von der erfolgreichen Eroberung des Auslandsmarktes durch die russischen Gutsbesitzer, die Delegation von russischen Landwirten nach England entsandt haben, von der Erweiterung des Absatzes verbesserter Werktage und von der Verbreitung des Grasfutterbaues usw. Für die Herren der russischen Landwirtschaft ist (ebenso wie für alle Kapitalisten) die Verschärfung des Ruins und der Hungersnot nicht mehr als eine kleine vorübergehende Störung, die sie fast gar nicht beachten, wenn die Hungernden sie nicht dazu zwingen. Alles geht seinen Weg, – sogar die Bodenspekulation jenes Teiles der Landwirte, die zu den reichen Bauern gehören.

So z. B. ist der Kreis Buguruslan im Gouvernement Samara als „von der Missernte betroffen" erklärt worden. Der Ruin der Bauernmassen und die Hungersnot haben also hier den höchsten Grad erreicht. Aber das Elend der Massen behindert keineswegs, es fördert sogar die Festigung der wirtschaftlichen Lage der bürgerlichen Minderheit der Bauernschaft. Darüber lesen wir in der September-Korrespondenz der „Russkije Wjedomosti" (Nr. 244) folgendes:

Kreis Buguruslan, Gouvernement Samara, Die Tagesfrage ist bei uns das allgemeine rasche Anwachsen der Bodenpreise und die ungeheure Bodenspekulation, die durch dieses Anwachsen der Preise hervorgerufen wird. Vor etwa 15 bis 20 Jahren zahlte man für ausgezeichnetes Talland 10 bis 15 Rubel pro Desjatine; es gab von der Eisenbahn weit entfernte Gegenden, in denen vor drei Jahren noch ein Preis von 35 Rubel pro Desjatine als hoch galt, und nur für das allerbeste Land mit ausgezeichneten Wirtschaftsgebäuden und guter Marktlage wurden einmal 60 Rubel pro Desjatine bezahlt. Jetzt zahlt man für den schlechtesten Boden 50 bis 60 Rubel, für den besten Boden aber sind die Preise bis auf 80 und sogar auf 100 Rubel pro Desjatine gestiegen. Die Spekulation, die durch dieses Steigen der Bodenpreise hervorgerufen wurde, ist von zweierlei Art: erstens besteht sie im Ankauf von Land zum sofortigen Weiterverkauf (es gibt Fälle, wo Boden zu 40 Rubel pro Desjatine gekauft und nach einem Jahre an die ortsansässigen Bauern zu 55 Rubel weiterverkauft wurde; es verkaufen gewöhnlich die Gutsbesitzer, die keine Lust oder keine Zeit mehr haben, sich mit den langwierigen und umständlichen Formalitäten abzugeben, wie sie beim Verkauf des Bodens an die Bauern durch die Bauernbank üblich sind; es kaufen aber den Boden Kapitalisten, die ihn an dieselben Bauern weiterverkaufen. Zweitens befassen sich zahlreiche Vermittler verschiedener Art damit, den Bauern aus weit entfernten (vorwiegend kleinrussischen) Gouvernements allen möglichen ungeeigneten Boden anzudrehen, wofür sie von den Gutsbesitzern ganz hübsche Prozente (1 oder 2 Rubel pro Desjatine) erhalten. Aus dem Gesagten ist bereits ersichtlich, dass das Hauptobjekt der Bodenspekulation der Bauer ist, und auf seinem Landhunger beruht dieses ganze unbegreifliche und aus ökonomischen Ursachen nicht zu erklärende sprunghafte Anwachsen der Bodenpreise; gewiss haben auch die Eisenbahnen eine Rolle gespielt, doch war diese Rolle nicht so groß, denn der Hauptkäufer des Bodens bleibt bei uns die Bauernschaft, für die die Eisenbahn bei weitem nicht der wichtigste Faktor ist."11

Diese zähen „wirtschaftstüchtigen Bäuerlein", die so gierig ihre „Ersparnisse" (und was sie zusammen gestohlen haben) zum Ankauf von Land benutzen, werden unvermeidlich auch jene landarmen Bauern endgültig zugrunde richten, die die jetzige Hungersnot noch überstanden haben.

Wenn für die bürgerliche Gesellschaft der Ankauf von Land durch die reichen Bauern ein Mittel ist gegen den Ruin und die Hungersnot der armen Bauern, so ist die Suche nach neuen Märkten ein Mittel gegen die Krise, gegen die Überfüllung des Marktes mit Industrieprodukten. Die auf dem Bauche kriechende Presse („Nowoje Wremja" Nr. 918812) ist begeistert von den Erfolgen des neuen Handels mit Persien; die Handelsaussichten in Mittelasien und insbesondere in der Mandschurei werden lebhaft erörtert. Die Eisenindustriellen und sonstigen Industriemagnaten reiben sich freudig die Hände, wenn sie von der Belebung des Eisenbahnbaues hören. Es ist beschlossen worden, große Eisenbahnlinien zu bauen: Petersburg–Wjatka, Bologoje–Siedlec, Orenburg–Taschkent. Die Regierung hat den Eisenbahngesellschaften der Moskau-Kasaner, der Lodzer und der Südost-Linien Eisenbahnanleihen in der Höhe von 37 Millionen garantiert. Folgende Linien sind geplant: Moskau–Kischtym, Kamyschin– Astrachan und die Küstenbahn am Schwarzen Meer. Die hungernden Bauern und die arbeitslosen Arbeiter können sich trösten: Geld des Staates (wenn die Staatskasse noch Geld herbeischafft) wird selbstverständlich nicht „unproduktiv" (siehe das Zirkular Sipjagins) für Unterstützungen ausgegeben werden, nein, es wird in die Taschen der Ingenieure und Bauunternehmer fließen – ebensolcher Virtuosen im Bestehlen der Staatskasse, wie es jene waren, die in Nischni-Nowgorod beim Bau des Dammes Sormowo jahraus jahrein den Staat bestohlen haben und erst jetzt (ausnahmsweise) vom Moskauer Obersten Gerichtshof in Nischni-Nowgorod verurteilt worden sind.F

III. Das dritte Element

Der Ausdruck „drittes Element" oder „dritte Personen" stammt, wenn wir nicht irren, vom Vizegouverneur von Samara, Herrn Kondoidy, der ihn in seiner Rede13 bei der Eröffnung der Semstwoversammlung des Gouvernements Samara im Jahre 1900 gebrauchte, um damit Personen zu bezeichnen, „die weder zu den Verwaltungsbehörden noch zu den Vertretern der Stände gehörten". Das Anwachsen der Zahl und des Einflusses der Personen, die im Semstwo als Ärzte, Techniker, Statistiker, Agronomen, Pädagogen usw. tätig sind, lenkt bereits seit langem die Aufmerksamkeit unserer Reaktionäre auf sich, die diese verhassten „dritten Personen" auch „Semstwobürokratie" nennen.

Es muss überhaupt gesagt werden, dass unsere Reaktionäre – die gesamte höhere Bürokratie mit inbegriffen – einen guten politischen Instinkt an den Tag legen. Sie haben eine so vielseitige Erfahrung im Kampfe gegen die Opposition, gegen „Volksrevolten", gegen Sektierer, Aufstände, Revolutionäre, dass sie ständig „auf der Hut" sind und viel besser als alle möglichen Gimpel und „ehrlichen" Kerle die Unvereinbarkeit der Selbstherrschaft mit jeder Selbständigkeit, Ehrlichkeit, Unabhängigkeit der Überzeugungen und mit dem Stolz auf wirkliches Wissen begreifen. Diese Reaktionäre, die den Geist der Kriecherei und des formalen Verhaltens zu den Dingen, der in der gesamten Hierarchie der russischen Beamtenschaft herrscht, sich aufgesogen haben, sind misstrauisch gegen alles, was nicht dem Gogolschen Akaki Akakijewitsch oder, um einen zeitgemäßeren Vergleich zu gebrauchen, einem Menschen im Futteral ähnlich sieht.14

Und in der Tat, wenn man Leute, die diese oder jene öffentlichen Funktionen ausüben, nicht nach ihrer Dienststellung, sondern nach ihrem Wissen und ihren Verdiensten beurteilen wollte – würde das nicht mit eiserner Logik zur Freiheit der öffentlichen Meinung und der öffentlichen Kontrolle führen, die über dieses Wissen und diese Verdienste ihr Urteil zu fällen hätten? Würde das nicht die Privilegien des Standes und Ranges von Grund auf untergraben, auf die das Russland des Absolutismus sich ausschließlich stützt?

Man höre, womit derselbe Herr Kondoidy seine Unzufriedenheit begründet:

Es kommt vor – sagt er –, dass die Vertreter der Stände ohne eingehende Prüfung auf das Wort der Intellektuellen hören, auch wenn es einfache Angestellte des Semstwo-Amtes sind, nur weil diese sich auf die Wissenschaft oder auf Belehrungen der Zeitungs- und Zeitschriftenschreiber berufen."

Was? Einfache „Angestellte", und wollen die „Vertreter der Stände" belehren! Übrigens: die Semstwovertreter, von denen der Vizegouverneur spricht, sind in der Tat Mitglieder einer Körperschaft, die keinen ständischen Charakter trägt; da aber bei uns alles vom ständischen Geist durchdrungen ist, da auch die Semstwos auf Grund der neuen Bestimmungen zum großen Teil ihren nichtständischen Charakter verloren haben, so kann man der Kürze halber wirklich sagen, dass es in Russland zwei herrschende „Klassen" gibt: 1. Die Verwaltungsbehörden und 2. die Vertreter der Stände. Für das dritte Element ist in der Ständemonarchie kein Platz. Wenn aber die nicht gefügige wirtschaftliche Entwicklung immer mehr schon durch das Wachstum des Kapitalismus allein die ständischen Grundlagen untergräbt und den Bedarf an „Intellektuellen" zur Folge hat, deren Zahl immer mehr wächst, so muss man unvermeidlich erwarten, dass das dritte Element versuchen wird, die beengenden Grenzen zu erweitern.

Die Träumereien der Leute, die weder zu den Verwaltungsbehörden noch zu den Vertretern der Stände im Semstwo gehören – sagt derselbe Herr Kondoidy – haben einen ausschließlich phantastischen Charakter, können aber, wenn man politische Tendenzen als Grundlage zulässt, auch eine schädliche Seite haben."

Das Zulassen von „politischen Tendenzen" ist nur ein diplomatischer Ausdruck für die Überzeugung, dass solche Tendenzen vorhanden sind. Als „Träumereien" werden hier gewissermaßen alle Bestrebungen bezeichnet, die sich für den Arzt im Interesse der Medizin, für den Statistiker im Interesse der Statistik ergeben und die keine Rücksicht nehmen auf die Interessen der herrschenden Stände. An und für sich seien das phantastische Träumereien, aber sie seien, heißt es, ein Nährboden für die politische Unzufriedenheit.

Dann haben wir weiter den Versuch eines andern Verwaltungsbeamten, des Chefs eines zentralrussischen Gouvernements, eine andere Begründung für die Unzufriedenheit mit dem dritten Element zu geben. Nach seinen Worten zu urteilen, entfernt sich die Tätigkeit des Semstwos des ihm anvertrauten Gouvernements „mit jedem Jahr immer mehr und mehr von den Grundlagen, auf denen das Gesetz über die Semstwoinstitutionen fußt". Auf Grund dieses Gesetzes ist die örtliche Bevölkerung dazu berufen, sich mit den lokalen Nöten und Bedürfnissen zu befassen; aber infolge des gleichgültigen Verhaltens der Mehrheit der Landwirte zu dem ihnen eingeräumten Recht „sind die Semstwoversammlungen zu einer bloßen Formalität geworden, während alle Angelegenheiten von den Semstwoämtern erledigt werden, deren Charakter sehr viel zu wünschen übrig lässt".

Das „führte zur Entstehung großer Kanzleien in den Semstwoämtern und zur Heranziehung von Fachleuten zur Arbeit im Semstwo – Statistikern, Agronomen, Pädagogen, Ärzten usw., die sich hinsichtlich ihrer Bildung und mitunter auch in geistiger Beziehung den Semstwovertretern überlegen fühlten und eine immer größere Selbständigkeit an den Tag zu legen begannen, was besonders gefördert wird durch die Abhaltung verschiedener Tagungen im Gouvernement und durch die Bildung von Räten in den Semstwoämtern. Infolgedessen geriet die ganze Semstwowirtschaft in die Hände von Leuten, die mit der örtlichen Bevölkerung nichts gemein haben." Obwohl es „unter diesen Leuten sehr viele gibt, die vollkommen zuverlässig sind und jede Achtung »erdienen, so können sie doch ihren Dienst nicht anders betrachten, denn als Mittel zu ihrer Existenz, die örtlichen Bedürfnisse und Nöte aber interessieren sie nur soweit, wie ihr persönliches Wohlbefinden von ihnen abhängt." „In den Semstwos kann, nach Ansicht des Gouverneurs, der Lohnempfänger den Eigentümer nicht ersetzen."

Diese Motivierung kann entweder als verschlagener oder auch als offener bezeichnet werden, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man sie betrachtet. Sie ist verschlagener, weil sie die politischen Tendenzen mit Schweigen übergeht und den Versuch macht, ihr Urteil ausschließlich auf die Interessen der örtlichen Bedürfnisse und Nöte zurückzuführen, sie ist offener, denn sie stellt den „Lohnempfänger" in einen direkten Gegensatz zum Eigentümer. Das ist der alte Standpunkt der russischen Kit Kititsche, die bei der Anstellung irgendeines Schulmeisters sich in erster Linie und am meisten für den Marktpreis interessieren, der für die betreffende Art beruflicher Leistungen üblich ist. Die wirklichen Herren des Ganzen sind die Eigentümer, verkündete der Vertreter desselben Lagers, aus dem ständig die Lobgesänge auf Russland ertönen, auf Russland mit seiner starken, von niemand abhängigen und über den Klassen stehenden Regierung, die, Gott sei Dank, frei sei von jener Herrschaft der egoistischen Interessen über das Volksleben, wie wir sie in den durch den Parlamentarismus demoralisierten westeuropäischen Ländern beobachten können. Ist aber der Eigentümer der Herr, so muss er auch der Herr der Medizin, der Statistik, des Bildungswesens sein. Unser Pompadour geniert sich nicht, diesen Schluss zu ziehen, der die direkte Anerkennung der politischen Hegemonie der besitzenden Klassen in sich schließt. Ja noch mehr: er geniert sich nicht – und das ist besonders kurios – anzuerkennen, dass diese „Fachleute" sich in Hinsicht auf ihre Bildung und mitunter auch in geistiger Beziehung den Semstwovertretern überlegen fühlen. Nun, gegen geistige Überlegenheit gibt es selbstverständlich kein anderes Mittel als strenge Maßnahmen … Vor kurzem bot sich unserer reaktionären Presse eine besonders günstige Gelegenheit, von Neuem zu solchen strengen Maßnahmen aufzufordern. Da die Intellektuellen es nicht erlaubten, dass man sie als einfache Lohnempfänger, als Verkäufer von Arbeitskraft behandelt (und nicht als Bürger, die bestimmte gesellschaftliche Funktionen ausüben), so kam es stets von Zeit zu Zeit zu Konflikten zwischen den Häuptern der Semstwoämter und den Ärzten, die kollektiv ihre Entlassung forderten, oder den Technikern usw. In der letzten Zeit haben z. B. die Konflikte der Semstwoämter mit den Statistikern einen geradezu epidemischen Charakter angenommen.

In der „Iskra" wurde bereits im Mai (Nr. 4) darauf hingewiesen, dass die lokalen Behörden (in Jaroslawl) bereits seit langem die Statistik scheel ansehen. Nach den Märzereignissen in St. Petersburg wurde tatsächlich eine „Säuberung" des Büros vorgenommen und dem Büroleiter anheimgestellt, „von nun ab Studenten nur nach strenger Auswahl einzustellen, damit es nicht vorkommt, dass sie sich als unzuverlässig erweisen".15 In der Korrespondenz „Revolutionäre Umtriebe in Wladimir an der Klasjma" („Iskra" Nr. 5, Juni) wurde die allgemeine Lage der verdächtig gewordenen Statistik und die Ursachen des feindseligen Verhaltens des Gouverneurs, der Fabrikanten und Gutsbesitzer ihr gegenüber geschildert. Die Entlassung der Statistiker in Wladimir, weil sie ein Sympathietelegramm an Annenski (der am 4. März auf dem Kasaner Platz verprügelt worden war) abgesandt hatten, führte faktisch zur Schließung der Büros, und da auswärtige Statistiker es ablehnten, in einem Semstwo zu arbeiten, das die Interessen seiner Angestellten nicht zu wahren versteht, so musste die Ortsgendarmerie die Rolle eines Vermittlers zwischen den entlassenen Statistikern und dem Gouverneur spielen. „Ein Gendarm suchte mehrere Statistiker in ihren Wohnungen auf und machte ihnen den Vorschlag, dem Büro ein neues Gesuch um Anstellung einzureichen", aber seine Mission hatte absolut keinen Erfolg. Schließlich brachte die Augustnummer der „Iskra" (Nr. 7) eine Schilderung des „Zwischenfalls im Semstwo von Jekaterinoslaw", wo der „Pascha", Herr Rodsjanko (Vorsitzender des Gouvernementssemstwoamtes), Statistiker entließ, weil sie seine „Vorschrift", ein Tagebuch zu führen, nicht ausgeführt hatten. Diese Entlassung führte dazu, dass alle übrigen Mitglieder des Büros ihren Abschied einreichten und die Statistiker von Charkow Protestbriefe schrieben (in der gleichen Nummer der „Iskra" veröffentlicht). Je tiefer in den Wald, um so dichter die Bäume! Der Pascha von Charkow, Herr Gordejenko (ebenfalls Vorsitzender eines Gouvernementssemstwoamtes) mischte sich ein und erklärte den Statistikern „seines" Semstwos, dass er „in den Räumen des Amtes keine Konferenzen der Angestellten über Fragen, die mit den dienstlichen Obliegenheiten nichts zu tun haben, dulden werde". Die Statistiker von Charkow hatten kaum ihre Absicht ausgeführt und die Entlassung eines unter ihnen weilenden Spitzels (Antonowitsch) gefordert, als das Semstwoamt den Leiter des statistischen Büros entließ und dadurch wiederum das Ausscheiden aller Statistiker aus dem Dienst hervorrief.

Bis zu welchem Grade diese Ereignisse die gesamte Masse der Semstwostatistiker erregten, geht z. B. aus dem Schreiben der Statistiker von Wjatka hervor, die ausführlich zu begründen versuchten, warum sie sich der Bewegung nicht anschließen wollten, wofür sie mit Recht in der „Iskra" (Nr. 9) als „Streikbrecher von Wjatka" bezeichnet wurden. Die „Iskra" hat natürlich nur einige Fälle vermerkt, lange nicht alle Konflikte, die nach den Meldungen der legalen Zeitungen auch in den Gouvernements Petersburg, Olonetz, Nischni-Nowgorod, Taurien, Samara vorgekommen sind (zu den Konflikten rechnen wir auch die Fälle, wo gleichzeitig mehrere Statistiker entlassen wurden, weil solche Fälle stets starke Unzufriedenheit und Gärung hervorriefen). Wie weit überhaupt die Gouvernementsbehörden in ihrem Misstrauen und ihrer Schamlosigkeit gingen, ist z. B. aus folgendem ersichtlich:

Der Leiter des taurischen Büros, S. M. Bleklow, erzählt in seinem dem Semstwoamt vorgelegten Bericht über die Inspektion des Dnjepr-Kreises während der Monate Mai und Juni 1901, dass die Arbeiten in diesem Kreise unter noch nie dagewesenen Bedingungen vor sich gingen: obwohl die Statistiker zur Durchführung ihrer Arbeiten die Genehmigung des Gouverneurs erhalten hatten, obwohl sie die entsprechenden Dokumente besaßen und auf Grund der Anordnung der Gouvernementsbehörden das Recht hatten, die Unterstützung der lokalen Behörden in Anspruch zu nehmen, waren sie von dem größten Argwohn der Kreispolizei umgeben, die ihnen überall auf den Fersen war, ihr Misstrauen in der gröbsten Form zum Ausdruck brachte und soweit ging, dass, wie ein Bauer mitteilte, ein Polizist den Statistikern auf dem Fuße folgte und die Bauern ausfragte, ,ob die Statistiker nicht schädliche Ideen gegen den Staat und gegen das Vaterland propagieren'. Die Statistiker ,stießen – wie Herr Bleklow sagt – auf verschiedene Hindernisse und Schwierigkeiten, die nicht nur die Arbeit behinderten, sondern auch das Ehrgefühl aufs tiefste verletzten Oft befanden sich diese Statistiker in der Lage von Leuten, gegen die eine Untersuchung eingeleitet ist, über die geheime Auskünfte eingezogen werden und vor denen man alle zu warnen für notwendig hält. Daraus kann jeder ersehen, in welch unerträglichem moralischen Zustand sie sich oft befanden'."

Keine üble Illustration zur Geschichte der Konflikte mit den Semstwostatistikern und zur Charakterisierung der Überwachung des „dritten Elements" überhaupt!

Kein Wunder, dass die reaktionäre Presse sich auf die neuen „Aufrührer" stürzte. Die „Moskowskije Wjedomosti" brachten einen scharfen Leitartikel „Der Streik der Semstwostatistiker" (Nr. 263 vom 24. September) und einen speziellen Artikel „Das dritte Element" von Herrn N. A. Snamenski (Nr. 279 vom 10. Oktober). Das „dritte Element" „nimmt sich allzu viel heraus" – schrieb die Zeitung –, die Versuche, die „notwendige Arbeitsdisziplin" einzuführen, beantwortet es mit „systematischer Opposition und mit Streik". Schuld an allem seien die Semstwo-Liberalen, die den Angestellten zu viel Freiheiten gäben.

Es besteht kein Zweifel, dass die nüchternsten und vernünftigsten Semstwoführer, die in den ihnen unterstellten Semstwoämtern selbst unter liberal-oppositioneller Flagge keine Demoralisierung dulden wollten, eine gewisse Ordnung in die statistischen und Taxierungsarbeiten hineingebracht haben. Sowohl die Opposition als auch die Streiks müssen ihnen endlich die Augen darüber öffnen, wer jenes intellektuelle Proletariat ist, das aus einem Gouvernement ins andere bummelt und sich bald mit statistischen Untersuchungen bald mit der Aufklärung der örtlichen Jugend in sozialdemokratischem Geiste befasst."

Auf jeden Fall erhält der vernünftige Teil der Semstwoleute durch die ,Konflikte mit den Semstwostatistikern' eine nützliche Lehre. Wir glauben, dass sie jetzt ganz klar erkennen werden, welche Schlange die Semstwo-Institutionen im ,dritten Element' an ihrer Brust genährt haben."G

Auch wir zweifeln nicht daran, dass dieses Geheul und Gewinsel des treuen Wachhundes des Absolutismus (bekanntlich hat sich Katkow, der es verstanden hat, die „Moskowskije Wjedomosti" auf lange Zeit mit seinem Geiste zu „laden", „selber" diesen Namen gegeben) vielen „die Augen öffnen wird", die noch immer nicht begriffen haben, dass der Absolutismus absolut unvereinbar ist mit den Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung, mit den Interessen der Intelligenz überhaupt, mit den Interessen einer jeden wirklich öffentlichen Angelegenheit, die nicht in Plünderungen der Staatskasse und im Verrat besteht.

Uns Sozialdemokraten muss dieses kleine Bild des Feldzuges gegen das „dritte Element" und die „Konflikte mit den Semstwostatistikern" eine wichtige Lehre sein. Es muss uns mit neuem Glauben an die Allmacht der von uns geführten Arbeiterbewegung erfüllen, wenn wir sehen, dass die Erregung innerhalb der fortgeschrittensten revolutionären Klasse auch auf andere Klassen und Schichten der Gesellschaft übergreift, dass sie bereits nicht nur zu einem nie dagewesenen Aufschwung des revolutionären Geistes in der Studentenschaft geführt hatH, sondern auch zum beginnenden Erwachen des Dorfes, zur Stärkung des Glaubens an die eigene Kraft und zur Kampfbereitschaft in solchen Gesellschaftsgruppen, die (als Gruppen) bisher wenig auf die Ereignisse reagierten.

Die Erregung wächst in Russland im ganzen Volke, in allen seinen Klassen, und es ist unsere Pflicht, die Pflicht der revolutionären Sozialdemokraten, alle Anstrengungen darauf zu richten, diese Erregung richtig auszunutzen und der fortgeschrittenen Arbeiterintelligenz klarzumachen, welchen Bundesgenossen sie sowohl in der Bauernschaft als auch in der Studentenschaft und in der Intelligenz überhaupt besitzt; sie zu lehren, die bald hier bald dort aufzüngelnden Flämmchen des öffentlichen Protestes auszunützen. Die Rolle des Vorkämpfers der Freiheit werden wir nur dann spielen können, wenn die von der revolutionären Kampfpartei geführte Arbeiterklasse, ohne auch nur einen einzigen Augenblick ihre besondere Lage in der modernen Gesellschaft und ihre besonderen welthistorischen Aufgaben der Befreiung der Menschheit von der wirtschaftlichen Sklaverei zu vergessen, gleichzeitig das Banner des Kampfes des gesamten Volkes für die Freiheit erhebt und unter diesem Banner alle sammelt, die jetzt von den Herren Sipjagin, Kondoidy und der ganzen Bande so eifrig aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten in die Reihen der Unzufriedenen gestoßen werden.

Dazu ist nur notwendig, dass wir nicht nur die konsequent revolutionäre Theorie in unsere Bewegung aufnehmen, die durch die hundertjährige Entwicklung des europäischen Denkens geschaffen worden ist, sondern auch die revolutionäre Energie und die revolutionäre Erfahrung, die wir von unsern westeuropäischen und russischen Vorläufern geerbt haben, nicht aber sklavisch alle Formen des Opportunismus übernehmen, die unsern Sieg so sehr hinauszögern und von denen unsere westeuropäischen Genossen, die verhältnismäßig wenig unter ihnen gelitten haben, sich freizumachen beginnen.

Vor dem russischen Proletariat steht jetzt die äußerst schwierige, dafür aber auch sehr dankbare revolutionäre Aufgabe, den Feind zu vernichten, den die so schwer geprüfte russische Intelligenz nicht zu überwinden vermochte, und in den Reihen der internationalen Armee des Sozialismus ihren Platz einzunehmen.

IV. Zwei Adelsmarschalls-Reden

„… Eine traurig-bedeutungsvolle Tatsache, wie sie bisher noch nicht dagewesen ist, und viele noch nie dagewesene Übel werden Russland beschert werden durch solche Tatsachen, die nur angesichts einer sehr weit vorgeschrittenen sozialen Demoralisierung möglich sind …"

So schrieben die „Moskowskije Wjedomosti" im Leitartikel der Nr. 268 (vom 29. September)16 aus Anlass der Rede des Adelsmarschalls des Gouvernements Orel, M. A. Stachowitsch, auf dem Kongress der Missionare in Orel (dieser Kongress wurde am 24. September geschlossen) … Nun, wenn die „soziale Demoralisierung" bereits in die Kreise der Adelsmarschälle, dieser wichtigsten Persönlichkeiten des Kreises und der zweitwichtigsten im Gouvernement, eingedrungen ist, wo hat dann die „geistige Pestilenz" ein Ende, von der Russland ergriffen ist?

Worum handelt es sich eigentlich? Es handelt sich darum, dass dieser Herr Stachowitsch (derselbe, der dem Adel des Gouvernements Orel die Einnehmerposten in den staatlichen Schnapsläden reservieren wollte: siehe Nr. 1 der „Sarja", „Zufällige Notizen") eine leidenschaftliche Rede zur Verteidigung der Gewissensfreiheit gehalten hat, wobei er sich „zu der Taktlosigkeit, um nicht zu sagen dem Zynismus, verstieg, folgenden Antrag einzubringen"I:

Niemand in Russland hat in höherem Maße als der Kongress der Missionare die Pflicht, die Notwendigkeit der Gewissensfreiheit, zu verkünden, die Notwendigkeit der Aufhebung jeder Kriminalstrafe für den Abfall von der rechtgläubigen Kirche und für die Annahme eines anderen Glaubens. Ich schlage also dem Missionarkongress in Orel vor, sich offen in diesem Sinne auszusprechen und eine solche Petition auf entsprechendem Wege einzuleiten!…"

Es war natürlich sehr naiv von den „Moskowskije Wjedomosti", aus Herrn Stachowitsch einen Robespierre zu machen (dieser lebenslustige M. A. Stachowitsch, den ich seit langem kenne – ein Robespierre! – schrieb Herr Suworin17 im „Nowoje Wremja", und es war schwer, ohne zu lachen seine „Verteidigungsrede" zu lesen), – aber ebenso naiv war in seiner Art auch Herr Stachowitsch, der den Popen vorschlug, auf „entsprechendem Wege" für die Gewissensfreiheit zu petitionieren. Das ist genau so, als wollte man einem Kongress der Polizeikommissare vorschlagen, die politische Freiheit zu fordern!

Es braucht wohl kaum für den Leser hinzugefügt zu werden, dass die „Schar der Geistlichen mit dem Erzbischof an der Spitze" – nach Entgegennahme der „ernsten Einwände" des hochwürdigsten Bischofs von Orel, Nikanor, des Professors der Kasaner geistlichen Akademie. N. I. Iwanowski, des Redakteurs und Herausgebers der Zeitschrift „Missionerskoje Obosrenje" (Missions-Rundschau), W. M. Skworzow, einiger Missionsgeistlichen und der Universitätskandidaten W. A. Ternawtzew und M. A. Nowosselow – den Antrag des Herrn Stachowitsch ablehnte, „sowohl wegen des Inhalts des Vortrags als auch weil er nichts mit den Aufgaben des örtlichen Missionarkongresses zu tun hat". Man kann wirklich sagen: ein Bündnis zwischen „Wissenschaft" und Kirche!

Aber Herr Stachowitsch interessiert uns selbstverständlich nicht als Musterbeispiel eines Menschen mit klarem und konsequentem politischen Denken, sondern als Muster des „lebenslustigen" russischen Adligen, der stets bereit ist, ein wenig aus der Staatskrippe zu naschen. Wie unendlich groß muss doch die „Demoralisierung" sein, die durch die Polizeiwillkür und die inquisitorische Hetze gegen die Sektierer in das russische Leben überhaupt und in das Leben unseres Dorfes im besonderen hineingetragen wird, wenn sogar Steine zum Himmel schreien! Wenn sogar die Adelsmarschälle aufs Wärmste von Gewissensfreiheit zu reden beginnen!

Hier aus der Rede des Herrn Stachowitsch einige kleine Beispiele für die Zustände und die unerhörten Erscheinungen, die schließlich auch die „Lebenslustigsten" in Empörung versetzten:

Man betrachte – sagt der Redner – in der Bibliothek der Missionsbrüderschaft das Handbuch über die Gesetze und man wird darin finden, dass ein und derselbe Paragraph 783, Bd. II, Teil 1, dem Landpolizeikommissar neben seiner Pflicht, den Kampf zu führen gegen das Duellunwesen, die Schmähschriften, die Trunksucht, die Wilddieberei, das gemeinsame Baden von Männern und Frauen in den öffentlichen Badeanstalten, auch die Pflicht auferlegt, die Polemik gegen die Dogmen des griechisch-orthodoxen Glaubens zu überwachen und die Verleitung Rechtgläubiger zur Annahme eines anderen Glaubens zu verhindern!"

Tatsächlich besteht ein Gesetzesparagraph, der dem Landpolizeikommissar außer den vom Redner aufgezählten Pflichten noch viele andere ähnlicher aufbürdet. Die meisten Stadtbewoher werden diesen Paragraphen natürlich nur als ein Kuriosum betrachten, als das ihn auch Herr Stachowitsch bezeichnet hat.

Für den Bauer aber steckt hinter diesem Kuriosum ein bitterer Ernst – die bittere Wahrheit über die Untaten der unteren Polizeiorgane, die nur allzu gut wissen, dass es zum Herrgott sehr hoch und zum Zaren sehr weit ist.

Und nun einige konkrete Beispiele, die wir anführen wollen zusammen mit der offiziellen Widerlegung des „Vorsitzendendes Rates der Rechtgläubigen Peter-Pauls-Brüderschaft von Orel und des bischöflichen Missionskongresses von Orel, das Propstes Peter Roschdestwenski" („Moskowskije Wjedomosti" Nr. 269, aus dem „Orlowski Wjestnik" Nr. 257):

a) Im Referat (des Herrn Stachowitsch) heißt es über eine Ortschaft im Kreise Trubtschewsk:

,Mit Einverständnis und Wissen sowohl des Geistlichen als auch der Behörden wurden die verdächtigen Stundisten18 in der Kirche eingeschlossen. Man brachte einen Tisch, bedeckte ihn mit einem reinen Tischtuch, stellte ein Heiligenbild hin und führte nun jeden einzeln an den Tisch. – Auf die Knie!

Ich will nicht vor Götzen knien – Ach so! Sofort durchpeitschen. Die Schwächeren kehrten gleich nach dem ersten Male zur rechtgläubigen Kirche zurück; es gab aber auch solche, die es bis zu viermal aushielten.'

Nach den offiziellen Angaben dagegen, die im Bericht der Rechtgläubigen Peter-Pauls-Brüderschaft von Orel schon im Jahre 1896 veröffentlicht wurden, und nach der mündlichen Mitteilung des Geistlichen D. Perewersew auf dem Kongress wurden die geschilderten Gewaltakte der rechtgläubigen Bevölkerung an den Sektierern des Dorfes Lubez, im Kreise Trubtschewsk, auf Beschluss der Dorfversammlung, und zwar irgendwo im Dorfe vorgenommen, keineswegs aber im Einverständnis mit dem damaligen Ortsgeistlichen und auf keinen Fall in der Kirche; dieser traurige Fall fand vor achtzehn oder neunzehn Jahren statt, als von dem Missionswesen im Erzbistum Orel noch keine Rede sein konnte."

Die „Moskowskije Wjedomosti", die diese Äußerung bringen, erklären, dass Herr Stachowitsch in seiner Rede nur zwei Tatsachen angeführt habe. Mag sein. Was sind das aber auch für Tatsachen! Die Widerlegung, die sich auf die „offiziellen Angaben" (des Landpolizeikommissars!) im Bericht der rechtgläubigen Brüderschaft stützt, verstärkt nur den Eindruck von den unglaublichen Zuständen, die sogar den lebenslustigen Adligen empörten. Ob die Züchtigung in der Kirche oder „irgendwo im Dorfe" vor einem halben Jahre oder vor achtzehn Jahren vor sich ging, das ändert nichts an der Sache. (Vielleicht nur in einer Hinsicht: es ist allgemein bekannt, dass die Verfolgungen der Sektierer in letzter Zeit noch viel bestialischer geworden sind und dass die Gründung von Missionen in direktem Zusammenhang damit steht!) Und dass der Ortsgeistliche abseits von diesen Inquisitoren im Bauernkittel stehen konnte – Sie täten besser, pröpstlicher Vater, in der Presse darüber zu schweigenI. Man wird darüber nur lachen! Natürlich, der „Ortsgeistliche" hat sein „Einverständnis" zu einer strafbaren Folterung nicht erteilt, ebenso wie die heilige Inquisition nie selber strafte, sondern ihre Opfer der weltlichen Macht übergab, und nie Blut vergoss, sondern ihre Opfer dem Scheiterhaufen überlieferte.

Die zweite Tatsache:

,,b) Im Bericht heißt es:

,Nur dann wird der Missionar die Antwort erteilen müssen, die wir hier auch gehört haben: – Väterchen, Sie sagen, zu Anfang seien es 40 Familien gewesen, jetzt aber sind es 4. Was ist mit den übrigen geschehen? – Sie sind durch Gottes Fügung nach Transkaukasien und nach Sibirien verbannt worden.'

Tatsächlich gab es im Dorfe Glybotschka, Kreis Trubtschewsk, von dem hier die Rede ist – nach den Angaben der Brüderschaft – im Jahre 1898 nicht 40 Stundisten-Familien, sondern 40 Menschen beiderlei Geschlechts, darunter 21 Kinder. Auf Grund der Anordnung des Kreisgerichts wurden im selben Jahre wegen Verleitung anderer Personen zum Übertritt zu den Stundisten nur 7 Personen nach Transkaukasien verbannt. Was die Äußerung des Ortsgeistlichen: ,sie sind durch Gottes Fügung verbannt worden', betrifft, so ist sie in einer geschlossenen Sitzung des Kongresses, bei ungezwungenem Meinungsaustausch der Delegierten zufällig gefallen. Dieser Geistliche ist von früher her allgemein bekannt und hat sich auf dem Kongress als einer der würdigsten Seelenhirten und Missionare gezeigt'."

Diese Widerlegung ist geradezu köstlich! Die Äußerung ist zufällig beim ungezwungenen Meinungsaustausch gefallen! Gerade das ist interessant, denn wir wissen alle sehr gut, welchen Wert die Äußerungen offizieller Personen haben, wenn sie offiziell gemacht werden. Und wenn der Pope, der diese „zu Herzen gehenden Worte" gesagt hat, „einer der würdigsten Seelenhirten und Missionare" ist, so haben sie eine um so größere Bedeutung. „Durch Gottes Fügung sind sie nach Transkaukasien und nach Sibirien verbannt worden." Diese ausgezeichneten Worte müssen eine nicht geringere Berühmtheit erlangen als die Verteidigung der Leibeigenschaft durch den Metropoliten Philaret unter Berufung auf die Heilige Schrift.

Übrigens, da wir nun einmal den Metropoliten Philaret erwähnt haben, so wäre es ungerecht, den in der Zeitschrift „Wera i Rasum" (Glauben und Vernunft) im Jahre 1901J veröffentlichten Brief19 eines „liberalen Gelehrten" an Seine Eminenz, den Erzbischof von Charkow, Ambrosius, mit Schweigen zu übergehen. Der Verfasser zeichnet als „Ehrenbürger und früherer Geistlicher, Hieronymus Preobraschenski", den Beinamen eines „liberalen Gelehrten" (!) aber hat ihm die Redaktion beigelegt, die offenbar vor den „Abgründen seiner Weisheit" erschauerte. Wir beschränken uns darauf, einige Stellen aus diesem Briefe anzuführen, der uns wieder und wieder beweist, dass das politische Denken und der politische Protest auf unsichtbarem Wege in unvergleichlich viel weitere Kreise eindringt, als es mitunter den Anschein hat.

Ich bin schon ein alter Mann von 60 Jahren. Ich habe in meinem Leben nicht wenig Gelegenheit gehabt, Abweichungen von der Erfüllung der Kirchenpflicht zu beobachten, und ich muss nach bestem Gewissen sagen, dass in allen Fällen unsere Geistlichkeit den Anlass dazu gegeben hat. Für die ,letzten Ereignisse' aber muss man unserer heutigen Geistlichkeit sogar herzlich danken, denn sie öffnet vielen die Augen. Nicht nur Amtsbezirksschreiber, sondern jung und alt, Gebildete, und solche, die kaum lesen können, – alle sind jetzt bestrebt, den großen russischen Schriftsteller zu lesen20. Um einen hohen Preis werden seine Werke erstanden (die der Verlag „Swobodnoje Slowo") im Auslande herausgibt, und die in allen Ländern der Welt, mit Ausnahme von Russland, in freiem Umlauf sind); man liest sie, bespricht sie und das Resultat ist natürlich nicht günstig für die Geistlichkeit. Die Masse der Menschen fängt jetzt bereits an zu begreifen, wo Lüge und wo Wahrheit ist, sie sieht, dass die Taten unserer Geistlichkeit mit ihren Worten nicht übereinstimmen, ja, dass auch ihre Worte oft voller Widersprüche sind. Man könnte viel Wahres sagen, aber mit unserer Geistlichkeit darf man ja nicht offen sprechen, sie wird nicht verfehlen, sofort Anzeige zu erstatten, damit man bestraft und hinrichtet… Christus bat doch aber nicht durch Gewalt und Hinrichtungen, sondern durch Wahrheit und Liebe die Menschen gewonnen…

Am Schluss Ihrer Rede schreiben Sie: ,Wir besitzen eine gewaltige Kraft im Kampfe – das ist die absolutistische Macht unserer erhabenen Herrscher'. Das ist wiederum eine Fälschung, und wieder glauben wir Ihnen nicht. Obwohl Ihr, die gelehrte Geistlichkeit, uns einzureden versucht, dass Ihr ,der absolutistischen Regierung von der Mutterbrust an treu ergeben seid' (aus der Rede des jetzigen Vikars bei der Weihe zum Erzbischof), so glauben wir Laien doch nicht, dass ein Säugling (auch wenn es ein künftiger Erzbischof ist) sich bereits über die Regierungsform Gedanken macht und dem Absolutismus den Vorzug geben kann. Nach dem misslungenen Versuch des Patriarchen Nikon, in Russland die Rolle der römischen Päpste zu spielen, die im Westen die kirchliche Macht mit der weltlichen Oberherrschaft vereinigten, hat sich unsere Kirche in der Person ihrer höchsten Vertreter, der Metropoliten, stets und vollständig der Macht der Herrscher untergeordnet, die ihr oft in despotischer Weise, wie es zur Zeit Peters des Großen der Fall war, ihre Befehle diktiert haben (der Druck, den Peter der Große bei der Verurteilung des Zarewitsch Alexej auf die Geistlichkeit ausübte). Im XIX. Jahrhundert sehen wir bereits eine völlige Harmonie zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht in Russland. Als in der rauen Epoche Nikolaus I. das erwachende öffentliche Selbstbewusstsein unter dem Einfluss der großen sozialen Bewegungen im Westen auch bei uns vereinzelte Kämpfer gegen die empörende Versklavung des einfachen Volkes auf den Plan rief, da stand unsere Kirche diesem Leiden vollkommen gleichgültig gegenüber, und trotz des erhabenen Gebotes Christi von der Brüderlichkeit der Menschen und der Nächstenliebe erhob sich in der Geistlichkeit keine einzige Stimme zur Verteidigung des entrechteten Volkes gegen die barbarische Willkür der Gutsbesitzer, und zwar nur darum, weil die Regierung sich noch nicht entschlossen hatte, die Leibeigenschaft anzutasten, deren Existenz der Metropolit von Moskau, Philaret, auf Grund von Texten aus dem Alten Testament zu rechtfertigen versuchte. Aber da brach ein Gewitter herein: Russland wurde bei Sewastopol geschlagen und politisch gedemütigt. Der Zusammenbruch hat alle Mängel unserer Staatsordnung der Vorreformen-Zeit enthüllt. Und vor allem der junge humane Kaiser (der die Erziehung seines Geistes und Willens dem Dichter Schukowski verdankte) zerschlug die Jahrhunderte alten Ketten der Sklaverei, und die böse Ironie des Schicksals wollte es, dass der Text des denkwürdigen Dokumentes vom 19. Februar demselben Philaret übergeben wurde, damit er es im Geiste des Christentums redigierte, – nachdem er sich offenbar beeilt hatte, seine Ansichten über die Leibeigenschaft zu ändern und sie dem Geiste der Zeit anzupassen. Die Zeit der großen Reformen ist auch an unserer Geistlichkeit nicht spurlos vorübergegangen, sie führte unter Makarius (dem späteren Metropoliten) zu der fruchtbaren Arbeit der Umgestaltung unserer kirchlichen Einrichtungen, wo er ebenfalls einen, wenn auch schmalen, Weg zum Licht und zur Öffentlichkeit bahnte. Die Reaktion nach dem 1. März 1881 rief auch in der Geistlichkeit Führer auf den Plan, wie sie Pobjedonoszew und Katkow genehm waren, und während die fortgeschrittensten Männer des Landes in den Semstwos und in der Gesellschaft Petitionen einreichen um die völlige Aufhebung der Prügelstrafe, schweigt die Kirche und sagt kein einziges Wort zur Verurteilung der Verteidiger der Knute, – dieses empörenden Werkzeugs zur Erniedrigung des Menschen, den Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Ist man nach alledem nicht zu der Annahme berechtigt, dass unsere ganze Geistlichkeit durch ihre Vertreter bei einer Änderung des Regimes von oben einen konstitutionellen Monarchen ebenso lobpreisen wird, wie sie jetzt dem absolutistischen Herrscher Lobeshymnen singt. Wozu also die Heuchelei, nicht im Absolutismus liegt hier die Kraft, sondern in der Monarchie. Peter I. war ebenfalls ein Selbstherrscher von Gottes Gnaden, aber die Geistlichkeit ist ihm bis auf den heutigen Tag nicht sehr gewogen. Auch Peter III. war ein Selbstherrscher, der es versuchte, unsere Geistlichkeit auf ein höheres kulturelles Niveau zu bringen, – schade, dass es ihm nicht vergönnt war, zwei, drei Jahre zu regieren. Und wenn der jetzt regierende Selbstherrscher Nikolaus II. geruhen wollte, dem glorreichen Tolstoi sein Wohlwollen zuzuwenden, – wohin würdet Ihr Euch dann verstecken, mit Euren Intrigen, Drohungen und Einschüchterungen?

Vergeblich führt Ihr die Texte der Gebete an, die die Geistlichkeit für den Zaren verrichtet – das ist ein Sammelsurium von Worten in einem Kauderwelsch, das niemand überzeugt. Es herrscht doch eben der Absolutismus: Wenn man befiehlt, werdet Ihr Gebete schreiben, die dreimal so lang und ausdrucksvoll sind."

Die zweite Adelsmarschalls-Rede ist, soweit uns bekannt ist, nicht in die Presse gelangt. Ein der Redaktion nicht bekannter Korrespondent hat sie im August eingesandt, und zwar in hektographierter Form mit einer Aufschrift in Bleistift, die folgendermaßen lautet: „Rede eines Kreisadelsmarschalls in einer Privatversammlung der Adelsmarschälle aus Anlass der Studentenangelegenheiten."21 Wir führen diese Rede hier in ihrem vollständigen Wortlaut an:

Infolge Zeitmangels will ich meine Ansichten über unsere heutige Versammlung der Adelsmarschälle in der Form von Thesen zum Ausdruck bringen:

Wodurch die jetzigen Unruhen bedingt sind, ist ungefähr bekannt: erstens wurden sie hervorgerufen durch die allgemeine Misswirtschaft im gesamten Staatsapparat, durch die oligarchische Herrschaft der Beamtenkörperschaft, d. h. durch die Diktatur der Beamtenschaft.

Diese Misswirtschaft der ,Beamtendiktatur' äußert sich in der ganzen russischen Gesellschaft, von oben bis unten, als allgemeine Unzufriedenheit, deren äußerer Ausdruck das allgemeine Politikantentum ist, ein Politikantentum, das kein vorübergehendes, oberflächliches, sondern ein tief wurzelndes, chronisches ist.

Dieses Politikantentum, als allgemeine Krankheit der gesamten Gesellschaft, spiegelt sich wider in allen ihren Erscheinungen, Verrichtungen und Einrichtungen; darum findet es einen unvermeidlichen Widerhall auch in den Lehranstalten mit ihrer jugendlichen und viel empfänglicheren Bevölkerung, die unter dem gleichen schwer lastenden Regime der bürokratischen Diktatur steht.

Sieht man auch die Wurzeln des Übels der Studentenunruhen in der allgemeinen im Staate herrschenden Misswirtschaft und in dem allgemeinen durch diese Misswirtschaft hervorgerufenen Missbehagen, so kann man doch nicht umhin – angesichts der unmittelbaren Empfindungen und der Notwendigkeit, die Entwicklung des lokalen Übels aufzuhalten –, die Aufmerksamkeit auf diese Unruhen zu lenken und zu versuchen, wenigstens von dieser Seite aus die furchtbar zerstörende Wirkung des allgemeinen Übels zu verringern, so wie man etwa bei einem allgemeinen Krankheitszustand des gesamten Organismus rasche Maßnahmen zur Unterdrückung der lokalen, akuten, destruktiven Komplikationen der Krankheit ergreift, um eine langsame radikale Gesundung des Gesamtorganismus möglich zu machen.

In den mittleren und höheren Lehranstalten kommt das Übel des Beamtenregimes hauptsächlich darin zum Ausdruck, dass man an die Stelle der menschlichen Entwicklung und Bildung (der Jugend) die bürokratische Dressur setzt und die menschliche Persönlichkeit und ihre Würde systematisch unterdrückt.

Das durch alle diese Erscheinungen hervorgerufene Misstrauen, die Empörung und die Erbitterung der Jugend gegen die Behörden und die Lehrer greifen von den Gymnasien auf die Universitäten über, wo zum Unglück die Jugend – angesichts des jetzigen Zustandes der Universitäten – auf dasselbe Übel, dieselbe Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde stößt.

Mit einem Wort, für die Jugend sind die Universitäten nicht ein Tempel der Wissenschaft, sondern eine Fabrik, die aus der jedes persönlichen Antlitzes beraubten Studentenschaft die für den Staat notwendige Beamtenware erzeugt.

Diese Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeit (die die Studentenschaft in eine gleichgültige, knetbare Masse verwandelt) findet ihren Ausdruck in einer systematischen, chronischen Unterdrückung und Verfolgung alles Persönlichen und Menschenwürdigen, oft auch in brutaler Gewalt, sie ist die Ursache aller Studentenunruhen, die bereits seit Jahrzehnten andauern und, da sie immer stärker werden, auch in Zukunft nicht aufhören werden, wodurch die besten Kräfte der russischen Jugend verlorengehen müssen.

All das wissen wir, was aber können wir in der jetzigen Lage tun? Wie können wir in dieser schweren Situation mit all ihrer Bösartigkeit, mit all ihren Übeln und ihrem Jammer helfen? Sollen wir sie sich selbst überlassen, ohne etwas zu unternehmen? Sollen wir unsere Jugend, ohne ihr zu helfen, der Willkür des Schicksals, der Bürokratie und der Polizei preisgeben, die Hände in Unschuld waschen und schweigen? Das ist meines Erachtens die wichtigste Frage: sind die jetzigen akuten Krankheitserscheinungen zu beseitigen, wenn man ihren allgemeinen Charakter anerkennt?

Unsere Sitzung erinnert an einen Haufen wohlmeinender Leute, die in einen dichten Urwald gehen, um ihn auszuroden und ganz verzweifelt vor der gewaltigen, ihre Kräfte übersteigenden Arbeit stehenbleiben, anstatt sich auf irgendeinen bestimmten Punkt zu konzentrieren.

Prof. K. T. hat uns eine glänzende allgemeine Darstellung des jetzigen Zustandes der Universität und der Lage der Studentenschaft gegeben und hat auf den Einfluss hingewiesen, den verschiedene schädliche äußere Einwirkungen – nicht nur politische, sondern auch polizeiliche – auf die aufgewühlte Studentenschaft ausüben. Aber das alles war uns mehr oder minder auch früher bekannt, wenn auch keine besonders große Klarheit darüber herrschte.

Die einzig mögliche Maßnahme sieht er in einem radikalen Bruch mit dem gesamten gegenwärtigen System unserer Lehranstalten überhaupt und in der Ablösung dieses Systems durch ein neues, besseres; der Herr Professor erklärte aber, dass dieses Werk wahrscheinlich eine sehr lange Zeit erfordern wird. Berücksichtigt man aber, dass jedes einzelne System im russischen Staate, wie in jedem andern, organisch verknüpft ist mit dem allgemeinen System, so ist wohl für diese Zeit kein Ende abzusehen.

Was müssen wir nun tun, um jetzt zumindest den unerträglichen Schmerz zu lindern, den die Krankheit heute verursacht? Was gibt es für Palliativmittel? Werden doch häufig auch Palliativmittel, die den Schmerz des Kranken vorübergehend stillen, als notwendig anerkannt? Auf diese Frage aber haben wir keine Antwort erteilt. Anstatt eine Antwort zu geben, wurden allerhand unbestimmte, schwankende Urteile über die studierende Jugend im Allgemeinen geäußert, die die Frage noch mehr verdunkeln. Es fällt sogar schwer, sich diese Äußerungen wieder ins Gedächtnis zu rufen, ich will es aber doch versuchen.

Von den Studentinnen wurde gesagt, wir hätten ihnen Hochschulen und Vorlesungen gegeben, sie aber danken uns das, indem sie – sich an Studentenunruhen beteiligen!

Wenn es Blumensträuße oder kostbarer Schmuck wäre, den wir dem schönen Geschlecht verehren, so würde ein solcher Vorwurf begreiflich sein; aber die Errichtung von Frauenhochschulen – das ist keine Liebenswürdigkeit, sondern die Befriedigung eines gesellschaftlichen Bedürfnisses, die Frauenhochschulen sind kein Luxus, sondern ebensolche gesellschaftlich notwendigen höheren Lehranstalten, wie die Universitäten usw. für die höhere Entwicklung der Jugend ohne Unterschied des Geschlechts, – und darum besteht zwischen den Hochschulen der Frauen und denen der Männer eine vollkommen kameradschaftliche und gesellschaftliche Solidarität.

Aus dieser Solidarität erklärt sich meines Erachtens durchaus die Tatsache, dass die Erregung der Jugend auch die Studentinnen der Frauenhochschulen ergreift. Die gesamte studierende Jugend ist von Erregung erfasst, unabhängig davon, ob sie Männer- oder Frauenkleidung trägt.

Dann kam man wieder auf die Studentenunruhen zurück und erklärte, dass man den Studenten gegenüber keine Nachsicht üben dürfe, dass ihre Umtriebe mit Gewalt unterdrückt werden müssen. Dagegen ist meines Erachtens sehr richtig der Einwand erhoben worden, dass, wenn es auch Vergehen sind, es sich doch nicht um zufällige, sondern um chronische Erscheinungen handle, die durch tiefe Ursachen bedingt sind und dass sie darum durch bloße Strafmaßnahmen nicht beseitigt werden können, was durch unsere ganze Erfahrung der Vergangenheit bewiesen wird. Meiner persönlichen Auffassung nach ist es noch sehr fraglich, wer mehr verantwortlich für all diese unerhörten Zustände ist, die unsere Lehranstalten aufregen und ruinieren; den Mitteilungen der Regierung glaube ich nicht.

Das ist es ja aber, dass man die andere Seite bei uns nicht hört, ja nicht hören kann. Ihr ist der Mund gestopft (ist es denn nicht vollkommen erwiesen, dass die Verwaltungsbehörden in ihren Mitteilungen lügen, dass die schlimmen Zustände hauptsächlich von ihnen verursacht werden, die Folge ihres unerhörten Vorgehens sind?).

Man hat auf den Einfluss der verschiedenen revolutionären Kräfte auf die studierende Jugend hingewiesen.

Jawohl, dieser Einfluss besteht, man legt ihm aber eine allzu große Bedeutung bei: die Fabrikbesitzer z. B., in deren Fabriken dieser Einfluss hauptsächlich zum Ausdruck kommt, schieben auch alle Schuld auf diesen Einfluss und erklären, ohne ihn würde dort Ruhe und Frieden herrschen sie vergessen und verschweigen – aber die ganze gesetzliche und ungesetzliche Ausbeutung der Arbeiter, die diesen alles nimmt, in ihnen Unzufriedenheit weckt und dann Unruhen hervorruft; wäre diese Ausbeutung nicht vorhanden, so würden auch die revolutionären Elemente von außen nicht so zahlreiche Anlässe und Ursachen finden, die ihnen das Einmischen in Fabrikangelegenheit erleichtern. All das kann meiner Ansicht nach auch von unseren Lehranstalten gesagt werden, die aus Tempeln der Wissenschaft verwandelt worden sind in Fabriken zur Herstellung von Beamtenmaterial.

In dem allgemeinen instinktiven Bewusstsein der Unterdrückung, die auf der gesamten studierenden Jugend lastet, in dem allgemeinen krankhaften Zustand, der durch diese Unterdrückung in der Jugend aller Lehranstalten hervorgerufen wird, liegt eben jene Stärke des kleinen aber zielbewussten Häufleins von Jünglingen, von denen der Herr Professor sprach, und das imstande ist, ganze Massen der Jugend, die scheinbar gar keine besondere Neigung zu Unruhen haben, zu hypnotisieren, mit sich zu reißen in den Streik und in Unruhen verschiedener Art. So ist es in allen Fabriken!

Dann ist, soweit ich mich erinnere, darauf hingewiesen worden, dass man den Studenten keinen Weihrauch spenden sollte, man dürfe zur Zeit ihrer Unruhen keine Sympathie für sie äußern. Solche Sympathiekundgebungen würden sie nur zu neuen Unruhen anregen, was durch Beispiele, d. h. durch verschiedene Tatsachen bewiesen sei. Dazu möchte ich erstens sagen, dass man in dem mannigfaltigen Wirrwarr und der Buntheit aller möglichen Fälle, die bei Unruhen vorgekommen sind, auf keine einzelnen von ihnen hinweisen kann als auf Beweise, da man für jeden solchen Fall viele andere finden kann, die ihm widersprechen. Man kann nur die allgemeinen Merkmale prüfen, was ich hier in Kürze tun will.

Die Studentenschaft ist, wie wir alle wissen, absolut nicht verwöhnt. Man hat ihr nicht nur keinen Weihrauch gespendet (ich spreche nicht von den vierziger Jahren), sondern sie erfreute sich nicht einmal der besonderen Sympathie der Gesellschaft. Während der Studentenunruhen verhielt sich die Gesellschaft den Studenten gegenüber entweder völlig gleichgültig oder absolut ablehnend, sie schob ausschließlich den Studenten die Schuld zu, ohne die Ursachen, die zu diesen Unruhen geführt hatten, zu kennen oder kennen zu wollen (nur den studentenfeindlichen Mitteilungen der Regierung schenkte man Glauben, ohne an deren Wahrheit zu zweifeln; die Gesellschaft hat anscheinend jetzt zum ersten Mal daran zu zweifeln begonnen). Also kann von Weihrauchspenden gar keine Rede sein.

Ohne Hoffnung auf Unterstützung weder von Seiten der Intelligenz im Allgemeinen noch der Professoren oder der Universitätsbehörden, begann schließlich die Studentenschaft in den verschiedensten Volksschichten um Sympathie zu werben, und wir sehen, dass dies der Studentenschaft schließlich mehr oder weniger gelungen ist. Sie hat allmählich angefangen, sich die Sympathie der Volksmassen zu erobern.

Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur an den Unterschied zu denken zwischen dem Verhalten der Volksmasse den Studenten gegenüber während der Schlägereien auf dem ,Ochotny Rjad'22 und an das Verhalten der Menge jetzt. Und darin birgt sich eine schwere Gefahr: nicht die Sympathie überhaupt ist eine Gefahr, sondern die Einseitigkeit dieser Sympathie, die demagogische Nuance, die sie annimmt.

Das Fehlen jeder Sympathie und Unterstützung durch die solide Intelligenz und das dadurch geweckte Misstrauen treiben unsere studierende Jugend, ob sie will oder nicht, in die Arme der Demagogen und Revolutionäre. Sie wird zu einem Werkzeug dieser Leute und innerhalb der Studentenschaft selbst entwickeln sich, ebenfalls unabhängig von ihrem Willen, immer mehr und mehr demagogische Elemente, die sie von der friedlichen kulturellen Entwicklung und von der bestehenden Ordnung (wenn man sie überhaupt als Ordnung bezeichnen kann) abbringen und ins feindliche Lager treiben.

Wenn die Jugend uns zu vertrauen aufhört, so müssen wir uns selber Vorwürfe machen; wir haben ihr Vertrauen nicht verdient!

Das waren wohl die Hauptgedanken, die von den Versammelten ausgesprochen wurden; von den übrigen (auch deren gab es nicht wenige) lohnt es wohl kaum zu reden.

Ich komme jetzt zum Schluss. Wir haben uns versammelt, um etwas für die Milderung der brennenden Tagesnöte, für die Erleichterung des schweren Schicksals unserer Jugend zu tun – heute und nicht irgendwann später. Wir sind aber geschlagen worden, und wiederum wird die Jugend mit Recht sagen, dass heute, ebenso wie früher, die friedliche, solide russische Intelligenz nicht imstande ist und auch nicht den Wunsch hat, sie irgendwie zu unterstützen, für sie einzutreten, sie zu verstehen und ihr bitteres Los zu erleichtern. Der Abgrund zwischen uns und unserer Jugend wird noch größer werden. Sie wird sich noch weiter entfernen in die Reihen der verschiedenen Demagogen, die ihr die Hand entgegenstrecken.

Nicht darum sind wir geschlagen, weil die von uns empfohlene Denkschrift an den Zaren nicht angenommen worden ist; vielleicht ist das auch wirklich keine praktische Maßnahme (obwohl sie meiner Ansicht nach nicht geprüft worden ist), geschlagen sind wir vielmehr, weil jede Möglichkeit, irgend etwas für unsere leidende Jugend zu unternehmen, von uns vernichtet worden ist; wir haben unsere Ohnmacht zugegeben und tappen wiederum wie früher im Dunkeln.

Was kann man da tun?

Sich die Hände in Unschuld waschen und abseits stehen? Gerade in diesem Dunkel liegt ja die furchtbar hoffnungslose Tragik des russischen Lebens."

Es bedarf keiner langen Kommentare zu dieser Rede. Auch sie ist gehalten worden von einem offenbar noch genügend „lebenslustigen" russischen Adligen, der entweder aus doktrinären oder aus eigennützigen Beweggründen vor der „friedlichen kulturellen Entwicklung" der „bestehenden Ordnung" in Ehrfurcht erstirbt und empört ist über die „Revolutionäre", die er mit den „Demagogen" in einen Topf wirft. Aber diese Entrüstung ist, wenn man sie etwas näher prüft, das Brummen eines alten (nicht an Jahren, sondern an Anschauungen) Menschen, der bereit ist zuzugeben, dass in dem, worüber er brummt, auch etwas Gutes steckt. Wenn er von der „bestehenden Ordnung" spricht, kann er nicht umhin, den Vorbehalt zu machen: „wenn man sie überhaupt als Ordnung bezeichnen kann". In seinem Innern hat sich bereits viel Unmut über die Misswirtschaft der „Beamtendiktatur", über die „systematische chronische Hetze gegen alles Persönliche und Menschenwürdige" angesammelt; er sieht natürlich, dass alles Schlimme hauptsächlich von den Verwaltungsbehörden kommt; er hat die Offenheit, seine Ohnmacht einzugestehen; einzugestehen, dass es unanständig ist, angesichts des Elends im ganzen Lande „sich die Hände in Unschuld zu waschen". Allerdings schreckt ihn die „Einseitigkeit" der Sympathie der „Volksmenge" für die Studenten; sein aristokratisch-verzärtelter Verstand sieht die „demagogische" Gefahr, vielleicht sogar die Gefahr des Sozialismus (beantworten wir seine Offenheit mit Offenheit!). Es wäre aber unvernünftig, die Anschauungen und Gefühle eines Adelsmarschalls, dem die widerliche russische Bürokratie zum Halse herauswächst, am Probierstein des Sozialismus zu prüfen. Wir haben es nicht nötig, diplomatisch zu sein, weder ihm noch irgend jemand anders gegenüber. Wenn der russische Gutsbesitzer z. B. gegen die ungesetzliche Ausbeutung und Entrechtung der Fabrikarbeiter Sturm laufen wird, so werden wir nicht verfehlen, ihm nebenbei zuzurufen: Kehr vor deiner eigenen Tür! Wir werden ihm keinen Augenblick lang verheimlichen, dass wir stets auf dem Standpunkt des unversöhnlichen Klassenkampfes gegen die „Herren" der jetzigen Gesellschaft stehen werden. Aber die politischen Gruppierungen werden nicht nur durch die Endziele, sondern auch durch die nächsten Ziele bestimmt, nicht nur durch die allgemeinen Anschauungen, sondern auch durch den Druck der unmittelbaren praktischen Notwendigkeit. Ein jeder, dem der Widerspruch klar geworden ist zwischen der „kulturellen Entwicklung" des Landes und dem „erdrückenden Regime der bürokratischen Diktatur", wird früher oder später durch das Leben selbst zu der Schlussfolgerung gezwungen werden, dass dieser Widerspruch ohne Beseitigung des Absolutismus nicht zu beseitigen ist. Hat er diesen Schluss gezogen, dann wird er unvermeidlich jener Partei helfen – er wird murren, aber doch helfen –, die es versteht, eine gewaltige Kraft (gewaltig nicht nur in ihren eigenen Augen, sondern in den Augen aller) gegen den Absolutismus in Bewegung zu setzen. Um eine solche Partei zu werden, muss die Sozialdemokratie – das wiederholen wir – sich von allem opportunistischen Unrat befreien und unter dem Banner der revolutionären Theorie, gestützt auf die revolutionärste Klasse, ihre agitatorische und organisatorische Tätigkeit in alle Klassen der Bevölkerung tragen!

Den Adelsmarschällen aber sagen wir zum Abschied: auf Wiedersehen, ihr Herren Bundesgenossen von morgen!23

1 Das Zitat ist dem Artikel „Der Hunger naht" entnommen („Iskra" Nr. 6, Juli 1901).

A Wie das Ministerium diese Frage entscheidet, kann man an dem Beispiel des Gouvernements Perm erkennen. Wie die letzten Zeitungen berichten, gilt dieses Gouvernement immer noch als ein Gouvernement mit „befriedigendem Ernteertrag", obwohl dort die Missernte (nach den Angaben der außerordentlichen Gouvernement-Semstwoversammlung vom 10. Oktober) noch größer war als im Jahre 1898. Die Ernte beträgt nur 48 Prozent der Durchschnittsernte, in den Kreisen Schadrinsk und Irbit nur 36 und 34 Prozent. Im Jahre 1898 verausgabte die Regierung (die lokalen Mittel nicht eingerechnet) 1,5 Millionen Pud Getreide und über eine Viertelmillion Rubel an Geld. Jetzt aber hat das Semstwo keine Mittel, es ist in seinen Rechten beschränkt; die Missernte ist viel größer als im Jahre 1898. Die Getreidepreise haben bereits am 1. Juli zu steigen begonnen; die Bauern verkaufen schon ihr Vieh, – die Regierung aber bleibt hartnäckig dabei, dass in diesen Gouvernements alles „zufriedenstellend" sei!!

2 Held des Romans „Die Herren Golowlew" von Saltykow-Schtschedrin. Typus eines Gutsbesitzers, der mit heuchlerischem Lächeln die größten Niederträchtigkeiten begeht. Die Red.

B Siehe z. B. das in Nummer 6 der „Iskra" veröffentlichte Geheimzirkular über die aus Petersburg ausgewiesenen Personen, hauptsächlich Schriftsteller, von denen viele such nie an irgendwelchen politischen Dingen beteiligt und insbesondere sich nicht mit „Arbeiterangelegenheiten" beschäftigt hatten. Trotzdem werden ihnen nicht nur die Universitätsstädte, sondern auch Fabrikgegenden, manchen sogar nur Fabrikgegenden als Wohnsitz verboten

C Siehe z.B. die Korrespondenzen in der „Iskra" Nr. 6 und 7, in denen geschildert wird, wie die öffentliche Erregung und regierungsfeindliche „Kundgebungen sogar in solche gottesfürchtigen Städte, wie Pensa, Simferopol, Kursk usw. eingedrungen sind. {Lenin hatte offenbar keine Exemplare der „Iskra" zur Hand, als er die in der „Iskra" erschienenen Korrespondenzen aus der Provinz erwähnte, und berief sich aus dem Gedächtnis auf die Nummern 6 und 7 der Zeitung. In den ersten zehn Nummern der „Iskra" jedoch sind überhaupt keine Korrespondenzen aus Pensa zu finden. Die Korrespondenz aus Simferopol (über die Maidemonstration) ist in Nr. 7 der „Iskra", die Korrespondenz aus Kursk (Erscheinen einer Proklamation nach den Petersburger Märzereignissen, Gärung unter der studierenden Jugend und unter den Bauern) in Nr. 8 der „Iskra" enthalten.}

3 Marquise de Pompadour – die Geliebte Ludwigs XV., die einen unbeschrankten Einfluss auf die Regierung ausübte. Mit „Pompadours" bezeichnete Saltykow-Schtschedrin in seinem Roman „Pompadours und Pompadourinnen die höheren Beamten und deren Frauen, die ihren Einfluss zu Protektionszwecken und zur Erlangung persönlicher Vorteile ausnutzten. Die Red.

4 Worte Saltykow-Schtschedrins aus „Die Geschichte einer Stadt"

5 Das Interview mit dem Saratower Gouverneur A. P. Engelhardt wurde in Nr. 9195 des „Nowoje Wremja" vom 9. (22.) Oktober 1901 in der Rubrik „Nachrichten aus dem Inland" veröffentlicht.

6 Der Leitartikel in Nr. 258 der „Moskowskije Wjedomosti" (Moskauer Nachrichten) vom 19. September 1901 hatte folgenden Titel: „Ein neuer Runderlass über die öffentlichen Arbeiten".

7 Sarpin = eine Art Zephir. Die Red.

8 Der Bericht des Semstwoamtes des Saratower Gouvernements an die außerordentliche Gouvernements-Semstwoversammlung wird in Nr. 187 des „Saratowski Wjestnik" (Saratower Bote) vom 29. August 1901 in einer Skizze unter dem Titel „Das Viehfutter in den von der Missernte betroffenen Gegenden" wiedergegeben. Der vollständige Bericht ist in einer Beilage (die das Datum des 31. August trägt) zur gleichen Nummer des „Saratowski Wjestnik" veröffentlicht worden. Lenin benutzte für seinen Artikel sowohl die Zeitung als auch ihre Beilage. Die Auszüge aus dem Bericht sind keine wörtlichen Zitate, sondern eine kurze Inhaltswiedergabe.

9 Die Mitteilung „Von der Semstwoabteilung des Innenministeriums – 12. September 1901" wurde in Nr. 203 des „Regierungsanzeigers" (16. [29.] September) und in den Nummern 260 und 262 der „Moskowskije Wjedomosti" (vom 21. und 23. September) veröffentlicht.

10 Das Zitat äst der Nummer 252 der „Moskowskije Wjedomosti" vom 13. (26.) September 1901 entnommen, und zwar der Notiz runter der Überschrift: „Mangel an Öffentlichkeit" in der Rubrik „Tagesereignisse".

D Hier noch ein Beispiel, wie der Gouverneur von Wjatka gegen Übertreibungen kämpft:

Der Gouverneur von Wjatka stellt in einer ,Bekanntmachung', die an alle Amtsbezirksverwaltungen gerichtet war, das sehr vorsichtige Verhalten der Bauern gegenüber den Nahrungsmittelkrediten fest, die von der Regierung und dem Semstwo ausgegeben werden." „Auf meiner Reise durch das Gouvernement – sagt Herr Klingelberg – habe ich mich davon überzeugt, wie überlegt und vorsichtig die Bauern sich den jetzigen Ereignissen gegenüber verhalten, wie sie fürchten, Schulden zu machen, wenn nicht die äußerste Not sie dazu zwingt, wie sie fest entschlossen sind, geduldig auf die Hilfe Gottes im künftigen Jahr zu warten, und wie sie versuchen, aus eigenen Kräften die schwierige Lage zu überwinden." Das gibt dem Gouverneur von Wjatka die Überzeugung, dass „keinerlei Gerüchte über unentgeltliche Unterstützung durch die Regierung und die Semstwos und über die Möglichkeit, die Schulden und die rückständigen Steuern erlassen zu bekommen, oder Gerüchte über einen übertriebenen Umfang der Missernte die ruhige und vernünftige Bevölkerung des Gouvernements Wjatka beirren werden. Der Gouverneur hält es für notwendig, die Bauernbevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass, wenn es sich bei der Nachprüfung der Entscheidungen herausstellen sollte, dass der Hofbesitzer zwar keine Vorräte besitzt, in diesem Jahre aber Getreide in genügender Menge zur Ernährung der Familie und zur Aussaat eingesammelt, dieses Getreide jedoch verkauft und das erhaltene Geld für andere Zwecke verbraucht hat, er auf Vorschüsse nicht zu rechnen habe. Die gewährten Darlehen sollen nach dem neuen Gesetz ohne Bürgschaft der Gemeinde, nach denselben Regeln wie die Grundsteuern eingezogen werden. Darum muss der Hofbesitzer. der ein Darlehen angefordert und es erhalten hat, daran denken, dass er das GeId allein zurückerstatten muss, dass ihm niemand helfen kann und dass die Einziehung der Gelder mit aller Strenge vor sich gehen wird, so dass im Fall von größeren Rückständen sein ganzes bewegliches Eigentum verkauft, seine Immobilien aber beschlagnahmt werden können.“

Man kann sich vorstellen, wie nach einer solchen Bekanntmachung des Gouverneurs die Amtsbezirksleiter mit den hungernden Bauern umgehen, die Steuerrückstände haben und um Darlehen bitten!

E Es ist ein alter Satz, dass mit Hilfe des Belagerungszustandes jeder Dummkopf regieren kann. In Europa muss man den Belagerungszustand verhängen, bei uns aber ist der Belagerungszustand der gewöhnliche Zustand, der bald hier bald dort durch provisorische Bestimmungen ergänzt wird, werden doch alle politischen Angelegenheiten in Russland auf Grund von provisorischen Bestimmungen erledigt.

11 Die Korrespondenz, aus der Lenin einen Abschnitt zitiert, ist unter der Überschrift: „Der Kreis Buguruslan" in Nr. 244 der „Russkije Wjedomosti" (vom 4. [17.] September 1901) veröffentlicht worden.

12 Lenin beruft sich auf die Notiz „Neue Erfolge des russischen Handels mit Persien" („Nowoje Wremja" Nr. 9188, 2. [15.] Oktober 1901).

F Der Mangel an Raum erlaubt es uns leider nicht, ausführlicher auf diesen Prozess einzugehen, der wieder einmal gezeigt hat, wie die Ingenieure und Bauunternehmer wirtschaften. Für uns Russen ist das eben die alte Geschichte, die ewig neu bleibt. Der Ingenieur Alexandrow hat im Bunde mit Schnakenburg, dem Nischni-Nowgoroder Abteilungschef des Kasaner Bezirkes im Verkehrsministerium und zusammen mit sechs an dieser Sache beteiligten Bauunternehmern im Laufe von drei Jahren (1893 bis 1895) für sich und die anderen ein Kapital von Tausenden „geschaffen", indem er dem Fiskus Rechnungen, Aktenstücke, Beglaubigungsbescheinigungen usw. für nicht geleistete Arbeiten und Lieferungen einreichte. Fiktiv waren nicht nur die Arbeiten, sondern auch die Bauunternehmer; ein einfacher Schreiber zeichnete als Bauunternehmerl Welche Summe diese ganze Bande zusammengerafft hat, kann man aus folgendem ersehen. Der Ingenieur Alexandrow legte Rechnungen vor (von den auf die Anklagebank geratenen „Bauunternehmern") für eine Summe von über 200.000 Rubel; in diesen Rechnungen aber waren z. B. anstatt 400 Rubel wirklicher Ausgaben 4400 Rubel angegeben. Der Ingenieur Alexandrow verprasste nach den Aussagen eines Zeugen bald mit Weibern, bald mit seinen direkten Vorgesetzten, den Wegebau-Ingenieuren, 50 bis 80 Rubel bei einem Mittagessen.

Am interessantesten aber ist, wie die Untersuchung dieser Angelegenheit geleitet wurde und womit sie endete. Der Polizeimeister, dem der Agent der Geheimpolizei Mitteilung davon machte, „wollte die Sache nicht zur Sprache bringen" (!). „Die Angelegenheit betrifft nicht uns", sagte er, „sondern das Verkehrsministerium", und der Agent der Geheimpolizei musste sich an den Staatsanwalt wenden. Ferner kam die Sache nur darum ans Tageslicht, weil die Diebe miteinander in Streit geraten waren: Alexandrow hatte mit einem dieser Schreiber, die als Bauunternehmer figurierten, „nicht geteilt". Die Untersuchung dauerte sechs Jahre, so dass viele Zeugen bereits gestorben waren und fast alle das Wichtigste vergessen hatten. Selbst ein solcher Zeuge, wie der damalige Leiter des Kasaner Eisenbahnbezirks, Lochtin, war nicht aufzufinden (sic!): bald war er in Kasan, bald in Jenissejsk auf Dienstreisen! Der Leser möge nicht glauben, dass sei ein Scherz, es ist dem Bericht über die Gerichtsverhandlung entnommen.

Dass in diese Angelegenheit beileibe nicht nur die Angeklagten verwickelt sind, geht schon aus folgenden zwei Tatsachen hervor: erstens ist derselbe tugendhafte Polizeiagent, der die Sache zur Sprache brachte, nicht mehr in der Polizei tätig, sondern hat ein Haus erworben und lebt von dem, was das Haus ihm einbringt. Zweitens hat der Ingenieur Makarow, der Chef des Kasaner Eisenbahnbezirks (z. Zeit als der Damm von Sormowo gebaut wurde, war er stellvertretender Chef) alles mögliche und unmögliche getan, um Alexandrow zu entlasten; er erklärte sogar – wörtlich! – dass, wenn der Damm im Frühjahr 1894 fortgeschwemmt wurde, „es eben nicht anders sein konnte". Auf Grund seiner, Makarows, Revisionen sei bei Alexandrow alles in Ordnung gewesen und Alexandrow habe sich durch große Erfahrung, Eifer und Pünktlichkeit ausgezeichnet!

Das Ergebnis: Alexandrow wurde zu einem Jahr Festung verurteilt, Schnakenburg erhielt einen strengen Verweis (der infolge der Amnestie im Jahre 1896 nicht ausgesprochen wurde), die übrigen wurden freigesprochen. Die Klage des Fiskus wurde abgewiesen. Man kann sich vorstellen, wie zufrieden die nicht auffindbaren Lochtins und die im Staatsdienst stehenden Makarows sein müssen.

13 Die Rede Kondoidys wurde in Nr. 9 der „Samarskaja Gazeta" vom 13. Januar 1900 unter folgendem Titel veröffentlicht: „Rede des Herrn Gouvernementschefs, gehalten am 11. Januar bei der Eröffnung der ordentlichen Session der Gouvernements-Semstwoversammlung".

14 Held der Gogolschen Erzählung: „Der Mantel", Typus des kleinen unterwürfigen Beamten, der nichts kennt als seine kleinen Dienstpflichten. Den gleichen Typus, nur etwas modernisiert, schildert Tschechow in seiner Erzählung „Der Mensch im Futteral". D. Red.

15 Die Zitate entstammen einer Notiz unter dem Titel „Jaroslawl" („Iskra" Nr. 4, Mai 1901, Rubrik: „Aus unserem sozialen Leben").

G „Moskowskije Wjedomosti", Nr. 263.

H In dem Augenblick, wo wir diese Zeilen schreiben, kommen von überallher Nachrichten über eine neue Verstärkung der Gärung in der Studentenschaft, über Versammlungen in Kiew, Petersburg und anderen Städten über die Bildung von revolutionären Studentengruppen in Odessa usw. Vielleicht wird auch im Entscheidungskampf die Geschichte der Studentenschaft die Rolle des Vorkämpfers auferlegen? Wie dem auch sei, für den Sieg in diesem Kampfe ist der Aufschwung in den Massen des Proletariats notwendig, und wir müssen ganz rasch für die Hebung des Klassenbewusstseins, die Stärkung der Begeisterungsfälligkeit und der Organisiertheit der Arbeitermassen Sorge tragen.

16 Der Leitartikel in Nr. 268 der „Moskowskije Wjedomosti" vom 29. September 1901 hat folgenden Titel: „Eine traurig-denkwürdige Rede". Die in diesem Artikel angeführten Zitate aus der Rede M. A. Stachowitschs, die von Lenin zitiert werden, sind der Nr. 254 des „Orlowski Wjestnik" entnommen.

I Siehe „Moskowskije Wjedomosti", ebenda. Der Leser verzeihe uns unsere Sympathie für die „Moskowskije Wjedomosti". Was sollen wir tun! Unseres Erachtens ist es doch die interessanteste, konsequenteste und sachlichste politische Zeitung Russlands. Man kann doch nicht die Literatur als „politisch" im eigentlichen Sinne des Wortes bezeichnen, die im besten Falle irgendwelche interessanten rohen Tatsachen aufgreift und anstatt sich über sie zu äußern, nur Seufzer ausstößt. Ich bestreite nicht, dass das nützlich sein kann, aber das ist keine Politik. Ebenso wenig kann man auch die Literatur vom Schlage der „Nowoje Wremja" als politisch im eigentlichen Sinne des Wortes bezeichnen, obgleich sie (oder besser weil sie) allzu politisch ist. Sie hat kein bestimmtes politisches Programm und keine politische Überzeugung, sie versteht es nur, sich dem Ton und der Stimmung des Augenblicks anzupassen, vor den Machthabern auf dem Bauche zu kriechen, was diese auch vorschreiben mögen, und sich den Anschein zu geben, als verträte sie die öffentliche Meinung. Die „Moskowskije Wjedomosti" dagegen führen ihre Linie durch und fürchten sich nicht (sie haben ja auch nichts zu fürchten), der Regierung voranzugehen, fürchten sich nicht, mitunter sehr offen außerordentlich kitzlige Fragen zu berühren. Eine nützliche Zeitung, ein unersetzlicher Mitarbeiter für die revolutionäre Agitation!

17 Das Urteil A. Suworins über M. A. Stachowitsch ist seinen „Kleinen Briefen" („Nowoje Wremja" Nr. 9191 vom 5. [18.] Oktober , 1901) entnommen.

18 Eine russische religiöse Sekte, die sich unter dem Einfluss der deutschen evangelischen Kolonien und baptistischer Missionare gebildet und unter der von der russischen Kirche unbefriedigten bäuerlichen Bevölkerung verbreitet hat. D. R e d.

I In seiner Entgegnung auf die offiziellen Richtigstellungen schrieb Herr Stachowitsch: „Was im offiziellen Bericht der Brüderschaft steht, weiß ich nicht, ich behaupte aber, dass der Geistliche Perewersew, der auf dem Kongress alle Einzelheiten erzählt hat und den Vorbehalt machte, dass die Zivilbehörden von dem gefällten Urteil gewusst haben (sic!!!), auf die von mir persönlich gestellte Frage: wusste der Pope davon? – die Antwort gab: ja, er wusste auch davon." Kommentare sind überflüssig.

J Wir benutzen die Gelegenheit, um dem Korrespondenten unsern Dank auszusprechen, der uns einen Sonderabzug aus dieser Zeitschrift zugesandt hat. Sehr oft genieren sich unsere herrschenden Klassen nicht, sich in speziellen Gefängnis-, Kirchen- und sonstigen Zeitschriften au naturel (natürlich – die Red.) zu zeigen. Es wäre längst an der Zeit gewesen, dass wir Revolutionäre diese „reiche Schatzkammer" politischer Aufklärung systematisch ausnützen.

19 Der von Lenin zitierte Brief I. Preobraschenskis geriet offenkundig durch ein redaktionelles Versehen in die Spalten der Zeitschrift. In einer verspäteten Mitteilung erklärte die Redaktion, sie habe dem Leser eine Vorstellung von den „zwei Lagern" in der modernen Gesellschaft geben wollen und zu diesem Zweck seien in Nr. 8 ihrer Zeitschrift (vom April 1901) zwei Briefe veröffentlicht worden, der Brief I. Preobraschenskis und der Brief eines gewissen W. Mitrofanow, „eines rechtgläubigen und wohlgesinnten Russen", unter dem gemeinsamen Titel „Zwei charakteristische Briefe, die seiner Eminenz, dem Erzbischof von Charkow, Ambrosius, zugesandt wurden: der eine von einem guten Christen, der andere – von einem gelehrten Liberalen".

Der Brief I. Preobraschenskis, dem außer der Vorbemerkung, dass der Verfasser mit einem Pseudonym zeichne, kein redaktioneller Kommentar beigefügt war, erregte in der Presse Aufsehen und wurde von einer Reihe von Zeitungen nachgedruckt. Als die Redaktion der Zeitschrift „Glaube und Vernunft" ihr Versehen erkannte, veröffentlichte sie in Nr. 12 der Zeitschrift (Juni 1901) einen heftigen Artikel gegen den Brief, um den Eindruck, den er hervorgerufen hatte, zu verwischen.

20„Der große Schriftsteller der russischen Erde" L. N. Tolstoi, der von I. S. Turgenjew so genannt wurde.

21 Es ist der Redaktion nicht gelungen, festzustellen, von wem und wann die von Lenin zitierte „Rede eines Kreis-Adelsmarschalls in einer privaten Versammlung der Adelsmarschälle aus Anlass der Studentenangelegenheiten" gehalten wurde. Auch der hektographierte Text der genannten Rede hat der Redaktion nicht zur Verfügung gestanden.

22 Straße in Moskau. Die Red.

23 Die Ansicht Lenins über das Verhältnis der revolutionären Sozialdemokratie zur liberalen Bourgeoisie, die in den Artikeln „Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus", „Innerpolitische Rundschau", „Brief an die Semstwoleute" (siehe Bd. V der Werke) zum Ausdruck kommt, insbesondere aber der Schlusssatz des vorliegenden Artikels, rief eine Reihe von Angriffen der Iskrafeindlichen Elemente gegen die „Iskra" und Lenin hervor, die angeblich in dieser Frage unter der Flagge der Orthodoxie in Opportunismus verfielen.

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