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Wladimir I. Lenin 19010100 Zufällige Notizen

Wladimir I. Lenin: Zufällige Notizen1

[Geschrieben im Januar 1901 Zum ersten Mal veröffentlicht im April 1901 in der Zeitschrift „Sarja"2 Nr. 1 Gez. T. Ch. N. Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 79-111]

I. Prügle, aber nicht zu Tode

Am 23. Januar beschäftigte sich in Nischni-Nowgorod eine besondere Session des Moskauer Obersten Gerichtshofes unter Teilnahme der Ständevertreter mit der Ermordung des Bauern Timofej Wassiljewitsch Wosduchow, der „zur Ernüchterung" auf die Polizeiwache gebracht und dort von den vier Polizeibeamten Schelemetjew, Schulpin, Schibajew, Olchowin und dem stellvertretenden Wachtmeister Panow derart verprügelt wurde, dass er am nächsten Tag im Krankenhaus verstarb.

Das ist die unkomplizierte Geschichte dieses einfachen Prozesses, der ein grelles Licht wirft auf das, was gewöhnlich und ständig in unseren Polizeirevieren vor sich geht.

Soweit man sich auf Grund der außerordentlich knapp gehaltenen Zeitungsberichte ein Urteil bilden kann, stellt sich der ganze Vorgang folgendermaßen dar. Am 20. April fuhr Wosduchow in einer Droschke zum Hause des Gouverneurs. Der Aufseher des Gouverneurhauses, der heraustrat, sagte vor Gericht aus, Wosduchow sei ohne Mütze und angeheitert, aber nicht betrunken gewesen, und habe sich über irgendeine Dampferstation beschwert, die keine Fahrkarte ausgegeben hätte (?). Der Aufseher gab dem vor dem Hause patrouillierenden Schutzmann den Befehl, Wosduchow zur Wache zu bringen. Wosduchow war so wenig angeheitert, dass er mit Schelemetjew ruhig sprach und nach Ankunft im Polizeirevier dem Wachtmeister Panow klar und deutlich Namen und Stand nannte. Trotzdem „stößt" ihn Schelemetjew – offenbar mit Wissen Panows, der soeben Wosduchow verhört hatte, nicht in die Arrestantenzelle, in der sich einige Betrunkene befanden, sondern in die neben der Arrestantenzelle gelegene „Wachstube". Dabei stößt er mit dem Säbel an die Türklinke, schneidet sich ein wenig in die Hand, glaubt, dass Wosduchow den Säbel halte und stürzt sich auf ihn, schlägt ihn und schreit, man habe ihm die Hand zerschnitten. Er schlägt aus voller Kraft, ins Gesicht, auf die Brust, in die Seiten, schlägt so, dass Wosduchow auf den Rücken fällt, mit dem Kopf auf den Fußboden schlägt und um Gnade bittet. „Warum schlagt ihr mich?" – soll er nach der Aussage eines Zeugen (Semachin), der in der Arrestantenzelle saß, gesagt haben. – „Ich habe nichts verbrochen, um Christi willen!" Nach Aussage desselben Zeugen war nicht Wosduchow, sondern eher Schelemetjew betrunken. Dass Schelemetjew Wosduchow „belehrt" (so drückt sich die Anklageschrift aus!), erfahren seine Kollegen Schulpin und Schibajew, die seit dem ersten Ostertage auf dem Polizeirevier fortgesetzt tranken (der 20. April – Dienstag, war der dritte Ostertag). Sie kommen zusammen mit dem aus einem anderen Revier eingetroffenen Olchowin in die Wachstube, schlagen auf Wosduchow mit den Fäusten ein und treten ihn mit Füßen. Auch der Wachtmeister Panow kommt hinzu, schlägt Wosduchow mit einem Buch auf den Kopf, schlägt mit den Fäusten. „Sie haben so geprügelt, so geprügelt – sagte eine verhaftete Frau –, dass ich vor lauter Angst Bauchschmerzen bekam." Als die „Belehrung" beendet war, befahl der Wachtmeister mit voller Seelenruhe dem Polizisten Schibajew, dem Misshandelten das Blut vom Gesicht abzuwaschen – es sei so immerhin anständiger, falls es die Obrigkeit sehen sollte! – und ihn in die Arrestantenzelle zu stoßen. „Brüder! – sagte Wosduchow zu den übrigen Verhafteten – seht ihr, wie die Polizei prügelt? Seid meine Zeugen, ich werde eine Beschwerde einreichen!" Aber er kommt nicht dazu, eine Beschwerde einzureichen: am nächsten Morgen findet man ihn in völlig bewusstlosem Zustand, man bringt ihn ins Krankenhaus, wo er acht Stunden später stirbt, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Die Obduktion ergibt den Bruch von zehn Rippen, Blutstriemen am ganzen Körper und einen Bluterguss ins Gehirn.

Das Gericht verurteilte Schelemetjew, Schulpin und Schibajew zu vier Jahren Zwangsarbeit; Olchowin und Panow aber, die sich nur der „Beleidigung" schuldig gemacht haben sollen – zu einem Monat Haft …

Mit diesem Urteilsspruch nun wollen wir unsere Analyse beginnen. Die zu Zwangsarbeit Verurteilten wurden angeklagt auf Grund der Artikel 346 und 1490, Teil 2 des Strafgesetzbuches. Der erste dieser Artikel besagt, dass ein Beamter, der bei der Ausübung seines Amtes jemandem Verletzungen oder Verstümmelungen zufügt, zum Höchstmaß der „für dieses Verbrechen festgesetzten" Strafe verurteilt werden muss. Artikel 1490, Teil 2 aber setzt für eine Misshandlung, die den Tod zur Folge hat, 8–10 Jahre Zwangsarbeit fest. Anstatt das höchste Strafmaß zu verhängen, setzte das Gericht der Ständevertreter und Kronrichter die Strafe um 2 Grade herab (6. Grad: Zwangsarbeit von 8–10 Jahren; 7. Grad: von 4–6 Jahren), d. h. es beschließt die maximale Herabsetzung der Strafe, die das Gesetz im Falle mildernder Umstände zulässt, und außerdem wird die niedrigste Strafe dieses niedrigsten Strafmaßes in Anwendung gebracht. Mit einem Wort, das Gericht hat alles getan, was es nur konnte, um das Schicksal der Verurteilten zu mildern, ja, sogar mehr als es konnte, da das Gesetz über das „höchste Strafmaß" umgangen wurde. Wir wollen natürlich keineswegs sagen, dass die „höchste Gerechtigkeit" gerade zehn und nicht vier Jahre Zwangsarbeit erforderte; wichtig ist, dass die Mörder als Mörder anerkannt und zu Zwangsarbeit verurteilt worden sind. Man kann aber nicht umhin, eine Tendenz festzustellen, die für dieses Gericht der Kronrichter und Ständevertreter überaus charakteristisch ist: wenn sie über Polizeibeamte zu Gericht sitzen, so sind sie zu jeder Nachsicht bereit; wenn sie aber über Vergehen gegen die Polizei ihr Urteil sprechen, dann legen sie bekanntlich eine unerschütterliche Strenge an den TagA.

Da ist z. B. der Polizeiwachtmeister …, nun, wie soll man ihm gegenüber nicht nachsichtig sein! Er hat den hingebrachten Wosduchow in Empfang genommen, von ihm kam offenbar der Befehl, ihn nicht in die Arrestantenzelle zu bringen, sondern zunächst – „zur Belehrung" – in die Wachstube, er hat an der Misshandlung teilgenommen, sowohl mit seinen Fäusten als auch mit einem Buche (wahrscheinlich mit dem Gesetzbuch), er hat den Befehl gegeben, die Spuren des Verbrechens zu vernichten (das Blut abzuwaschen), er hat in der Nacht vom 20. April dem zurückgekehrten Polizeileutnant dieses Reviers, Muchanow, berichtet, dass in der „ihm anvertrauten Abteilung alles in Ordnung sei" (wörtlich!), – aber mit den Mördern hat er nichts zu tun, er hat sich nur einer tätlichen Beleidigung, einer einfachen tätlichen Beleidigung schuldig gemacht, die mit Haft bestraft wird. Was Wunder, dass dieser an der Ermordung unschuldige Gentleman, Herr Panow, auch jetzt in der Polizei dient und den Posten eines Gendarmerieleutnants bekleidet. Herr Panow hat seine nützliche Tätigkeit zur „Belehrung" des einfachen Volkes nur von der Stadt aufs Land verlegt. Sag aufrichtig, lieber Leser, kann der Gendarmerieleutnant Panow das Urteil des Gerichts anders auffassen, denn als Rat: in Zukunft die Spuren des Verbrechens besser abzuwaschen, so zu „belehren", dass keine Spuren zurückbleiben? Du hast befohlen, das Blut vom Gesicht des Sterbenden abzuwaschen – sehr gut, aber du hast Wosduchow sterben lassen –, das, mein Lieber, war unvorsichtig; sei in Zukunft vorsichtiger und schreibe dir das erste und letzte Gebot des russischen Djerschimorda3 hinter die Ohren: „Prügle, aber nicht zu Tode".

Vom allgemein menschlichen Standpunkt ist das Urteil des Gerichts über Panow eine direkte Verhöhnung des Rechts; in ihm wird in echt lakaienhafter Manier der Versuch gemacht, die ganze Schuld auf die unteren Polizeibeamten abzuwälzen und ihren unmittelbaren Vorgesetzten, mit dessen Wissen, Billigung und Beteiligung die bestialische Misshandlung vor sich gegangen ist, rein zu waschen. Vom rechtlichen Standpunkt aus aber ist dieses Urteil ein Muster jener Spitzfindigkeit, die die bürokratischen Richter auszeichnet, die selber nicht viel besser sind als der Wachtmeister. Die Sprache ist dem Menschen gegeben, damit er seine Gedanken verberge – sagen die Diplomaten. Gesetze werden gegeben, damit die Begriffe von Schuld und Verantwortung entstellt werden – können unsere Juristen sagen. Welch überaus feine richterliche Kunst ist in der Tat notwendig, um aus der Teilnahme an der Misshandlung eine einfache tätliche Beleidigung zu machen! Der Handwerksmann, der vielleicht am 20. April morgens Wosduchow die Mütze vom Kopfe gerissen hat, wäre demnach desselben Vergehens – ja, sogar noch milder ausgedrückt: nicht eines Vergehens, sondern einer „Übertretung" – schuldig, wie Panow. Selbst auf einfache Teilnahme an einer Schlägerei (nicht aber an der Misshandlung eines hilflosen Menschen) steht, wenn dabei jemand getötet wird, eine strengere Strafe als die, zu der der Wachtmeister verurteilt worden ist. Die richterlichen Rechtsverdreher machten sich erstens den Umstand zunutze, dass das Gesetz für Misshandlungen bei Ausübung der Dienstpflicht mehrere Strafen festsetzt und es dem Richter überlässt, je nach Umständen zwischen Gefängnis von zwei Monaten bis Verbannung nach Sibirien zu wählen. Den Richter durch übermäßig formale Bestimmungen nicht beengen, ihm einen gewissen Spielraum lassen, ist gewiss eine sehr vernünftige Regel, und unsere Strafrechtsprofessoren haben dafür die russische Gesetzgebung des Öfteren gelobt und ihren Liberalismus unterstrichen. Sie haben dabei nur die Kleinigkeit vergessen, dass man zur Anwendung vernünftiger Verordnungen Richter braucht, die nicht zu bloßen Beamten herabgesunken sind, dass die Teilnahme der Vertreter der Gesellschaft am Gericht und der öffentlichen Meinung bei der Erörterung der Angelegenheit notwendig sind. Zweitens ist hier der stellvertretende Staatsanwalt dem Gericht zu Hilfe gekommen, der auf die Anklage gegen Panow (und Olchowin) wegen Misshandlungen und Grausamkeiten verzichtete und sie nur wegen zugefügter Beleidigung zu bestrafen bat. Der stellvertretende Staatsanwalt berief sich seinerseits auf das Gutachten der Sachverständigen, die das besonders Qualvolle und die lange Dauer der von Panow ausgeteilten Schläge in Abrede stellten. Der juristische Sophismus zeichnet sich, wie man sieht, nicht durch besonderen Scharfsinn aus: da Panow weniger als die anderen geschlagen hat, so kann man sagen, dass seine Schläge nicht besonders qualvoll waren; wenn sie aber nicht besonders qualvoll waren, so kann man daraus den Schluss ziehen, dass sie keine „Misshandlungen und Grausamkeiten" waren; wenn sie aber keine Misshandlungen und Grausamkeiten waren, so waren sie also eine einfache tätliche Beleidigung. Alles wird also zu allgemeiner Zufriedenheit beigelegt, und Herr Panow bleibt in den Reihen der Hüter von Recht und Ordnung …B

Wir haben soeben die Frage der Teilnahme von Vertretern der Gesellschaft am Gericht und der Rolle der öffentlichen Meinung berührt. Diese Frage wird überhaupt durch diesen Prozess glänzend beleuchtet. Vor allen Dingen: warum fand der Prozess nicht vor einem Geschworenengericht statt, sondern vor einem Gericht von Kronrichtern und Ständevertretern? Weil die Regierung Alexanders III., die einen rücksichtslosen Kampf gegen jedes und jegliches Streben der Gesellschaft nach Freiheit und Selbständigkeit aufgenommen hat, das Geschworenengericht sehr bald als gefährlich erkannte. Die reaktionäre Presse erklärte das Geschworenengericht für ein „Gericht der Straße" und eröffnete gegen dieses Gericht eine Hetze, die übrigens bis auf den heutigen Tag andauert. Die Regierung nahm ein reaktionäres Programm an: nach dem Sieg über die revolutionäre Bewegung der siebziger Jahre hatte sie die Schamlosigkeit, den Vertretern der Gesellschaft zu verkünden, dass sie für sie die „Straße" repräsentiere, den Mob, der sich weder in die Gesetzgebung noch in die Verwaltung des Staates einzumischen habe, der aus dem Heiligtum, in dem nach der Methode des Herrn Panow über die russischen Bürger zu Gericht gesessen wird, verjagt werden müsse. Im Jahre 1887 wurde ein Gesetz erlassen, wonach Verbrechen, die von beamteten Personen oder gegen beamtete Personen begangen werden, der Kompetenz der Geschworenengerichte entzogen und dem Gericht der Kronrichter und Ständevertreter überwiesen wurden. Bekanntlich sind diese Ständevertreter, die mit den Berufsrichtern zu einem Kollegium verschmolzen wurden, stumme Statisten, sie spielen die klägliche Rolle von Leuten, die zu allem, was die Gerichtsbeamten zu beschließen belieben, ihre Unterschrift geben. Das ist eines von den Gesetzen, die sich wie eine lange Kette durch die ganze jüngste reaktionäre Epoche der russischen Geschichte hinziehen und durch ein gemeinsames Bestreben verbunden sind: Wiederherstellung einer „starken Regierung". Unter dem Druck der Verhältnisse war die Regierung in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts gezwungen, mit der „Straße" in Berührung zu kommen; die Zusammensetzung dieser „Straße" aber änderte sich mit überraschender Geschwindigkeit, und an die Stelle unwissender Spießer traten Bürger, die begannen, sich ihrer Rechte bewusst zu werden, die sogar fähig sind, Kämpfer für ihre Rechte hervorzubringen. Als die Regierung das merkte, sprang sie mit Entsetzen zurück, und jetzt macht sie krampfhafte Anstrengungen, sich durch eine chinesische Mauer abzuschließen, sich in einer Festung einzumauern, die allen Äußerungen gesellschaftlicher Selbstbetätigung unzugänglich ist… Doch ich bin etwas von meinem Thema abgekommen.

Auf Grund des reaktionären Gesetzes wurde also die Straße aus dem Gerichtsverfahren gegen Vertreter der Behörden entfernt. Über Beamte saßen Beamte zu Gericht. Das wirkte sich nicht nur im Urteil aus, sondern auch im ganzen Charakter der Voruntersuchung und der Gerichtsverhandlung. Das Gericht der Straße ist gerade darum wertvoll, weil es belebend auf den Geist des Kanzleiformalismus wirkt, von dem unsere Regierungsinstitutionen vollkommen durchsetzt sind. Die Straße interessiert sich nicht nur dafür oder nicht so sehr dafür, ob die betreffende Handlung als Beleidigung, Verprügelung oder Misshandlung anerkannt wird und welche Art der Strafe man für sie festsetzt, als vielmehr dafür, dass alle gesellschaftlich-politischen Fäden des Verbrechens und seine Bedeutung bis zur Wurzel aufgedeckt und öffentlich beleuchtet werden, damit aus dem Gerichtssaal Lehren über gesellschaftliche Moral und praktische Politik herausgetragen werden können. Die Straße will im Gericht nicht eine „amtliche Stelle" sehen, in der Bürokraten die entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches auf diese oder jene einzelnen Fälle anwenden, sondern eine öffentliche Einrichtung, die die wunden Stellen der jetzigen Gesellschaftsordnung bloßlegt und Material liefert für die Kritik an ihr und folglich auch für ihre Besserung. Unter dem Druck der Praxis des öffentlichen Lebens und des wachsenden politischen Bewusstseins gelangt die Straße, geleitet von ihrem Instinkt, zu der Wahrheit, zu der unsere offizielle Professoren-Jurisprudenz sich mit soviel Mühe und solchem Zögern, beschwert durch scholastische Fesseln, hindurcharbeitet, zu der Wahrheit nämlich, dass im Kampfe gegen das Verbrechen die Änderung der gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen von unermesslich viel größerer Bedeutung ist als die Anwendung einzelner Strafen. Aus diesem Grunde wird das Gericht der Straße von den reaktionären Publizisten und der reaktionären Regierung gehasst – und muss es von ihnen gehasst werden. Aus diesem Grunde zieht sich die Beschränkung der Kompetenz des Geschworenengerichtes und die Einschränkung der Öffentlichkeit des Verfahrens wie ein roter Faden durch die Geschichte Russlands seit den Reformen4, wobei der reaktionäre Charakter der „Nachreformepoche" unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes von 1854, das unser „Gerichtswesen"C reformierte, zutage trat. Und gerade bei diesem Prozess machte sich das Fehlen des „Gerichtes der Straße" besonders bemerkbar. Wer in diesem Gericht konnte sich für die gesellschaftliche Seite der Sache interessieren und sich die Mühe geben, sie mit aller Klarheit sichtbar zu machen? Der Staatsanwalt? Der Beamte, der in engster Beziehung zur Polizei steht, – die Verantwortung für den Unterhalt und die Behandlung der Inhaftierten teilt – und manchmal sogar Polizeichef ist? Wir haben gesehen, dass der stellvertretende Staatsanwalt sogar darauf verzichtete, gegen Panow Anklage wegen Misshandlung zu erheben. Der Privatkläger, wenn die Frau des Ermordeten, die vor Gericht als Zeugin vernommene Wosduchowa, Zivilklage gegen die Mörder angestrengt hätte? Woher aber sollte sie, die einfache Frau, wissen, dass in der Kriminalgesetzgebung eine Zivilklage vorgesehen ist? Ja, auch wenn sie das gewusst hätte, wäre sie denn imstande gewesen, einen Rechtsanwalt zu nehmen? Und wenn sie dazu auch imstande gewesen wäre, würde sich ein Rechtsanwalt gefunden haben, der imstande und bereit gewesen wäre, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die durch diesen Mord enthüllten Zustände zu lenken? Und wenn sich nun ein solcher Rechtsanwalt gefunden hätte, würden dann solche „Delegierte" der Gesellschaft, wie die Ständevertreter, imstande gewesen sein, den „Bürgereifer" in ihm zu schüren? Da ist z. B. der Amtsbezirksvorsteher – ich habe ein Gericht in der Provinz im Auge –, den seine bäuerliche Kleidung in Verlegenheit bringt, der nicht weiß, wohin er seine geölten Stiefel und seine Bauernhände tun soll und angstvoll den Blick auf Seine Exzellenz, den Vorsitzenden des Gerichts, der mit ihm an einem Tisch sitzt, richtet. Da ist der Bürgermeister, ein dicker Kaufmann, der in der ihm ungewohnten Uniform schwer atmet, die Kette um den Hals trägt und bemüht ist, seinen Nachbar, den Adelsmarschall, einen vornehmen Herrn in Adelsuniform, mit gepflegtem Äußeren und aristokratischen Manieren, nachzuahmen. Daneben aber sitzen die Richter, die die lange Schule der Beamtenlaufbahn durchgemacht haben, echte Kanzleimenschen, die über den Paragraphen grau geworden und vollkommen erfüllt sind vom Bewusstsein der Wichtigkeit der ihnen zugefallenen Aufgabe: Vertreter der Behörden zu richten, die zu richten das Gericht der Straße nicht würdig ist. Müssen solche Umstände nicht dem redegewandtesten Advokaten die Lust zu reden nehmen, müssen sie ihm nicht das alte Wort in Erinnerung bringen: „Werfet keine Perlen vor die…"?

Und es kam so, dass man den Prozess im Eilzugstempo durchpeitschte, als wollte man sich der Angelegenheit möglichst rasch entledigenD, als hätte man Angst gehabt, dieser ganzen Widerwärtigkeit auf den Grund zu gehen: man kann neben einem Müllkasten wohnen, sich an ihn gewöhnen, nichts merken, sich wohl fühlen, kaum aber versucht man, ihn zu reinigen – sofort werden nicht nur die Bewohner der betreffenden Wohnung, sondern auch die Nachbarwohnungen den Gestank zu spüren bekommen.

Man sehe nur, was für eine Fülle von Fragen sich ganz von selbst aufdrängen, die zu klären sich niemand die Mühe gegeben hat. Weshalb fuhr Wosduchow zum Gouverneur? Die Anklageschrift – dieses Dokument, in dem das Streben der Anklagebehörden, das ganze Verbrechen aufzudecken, zum Ausdruck kommen soll – gibt nicht nur keine Antwort auf diese Frage, sondern vertuscht sie direkt, wenn sie sagt, dass Wosduchow „in betrunkenem Zustande im Hof des Gouverneurhauses von dem Polizisten Schelemetjew festgenommen worden ist". Das gibt sogar Anlass zu glauben, Wosduchow habe Unfug getrieben – und wo? Im Hofe des Gouverneurhauses! In Wirklichkeit aber fuhr Wosduchowin einer Droschke zum Gouverneur, um sich zu beschweren. Das ist eine feststehende Tatsache. Worüber beschwerte er sich? Der Aufseher des Gouverneurhauses Ptizyn sagt, Wosduchow habe sich über irgendeine Dampferstation beschwert, auf der man ihm die Ausgabe einer Fahrkarte verweigert hatte (?). Der Zeuge Muchanow, der Polizeileutnant in dem Revier war, in dem man Wosduchow geprügelt hatte (jetzt ist er Leiter des Gouvernementsgefängnisses in Wladimir) erklärt, er habe von der Frau Wosduchows gehört, dass sie und ihr Mann sich zusammen betrunken hätten, dass sie in Nischni-Nowgorod sowohl von der Flusspolizei als auch im Roschdestwensky-Polizeirevier geschlagen worden seien, und darüber habe sich Wosduchow beim Gouverneur beschweren wollen. Trotz des offenbaren Widerspruchs in den Aussagen dieser Zeugen trifft das Gericht absolut keine Maßnahmen zur Klärung der Frage. Im Gegenteil: jeder hätte das volle Recht, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Gericht diese Frage nicht klären wollte. Die Frau Wosduchows war Zeugin vor Gericht, aber niemand interessierte sich dafür, ob sie und ihr Mann wirklich in mehreren Polizeirevieren von Nischni-Nowgorod geprügelt worden waren, unter welchen Umständen man sie verhaftet, in welchen Räumen man und wer sie geschlagen hatte, ob ihr Mann sich wirklich beim Gouverneur beschweren wollte, ob ihr Mann sich nicht zu noch jemand über diese Absicht geäußert hatte? Der Zeuge Ptizyn, der als Kanzleibeamter des Gouverneurs möglicherweise nicht geneigt war, von dem nicht betrunkenen Wosduchow, – der aber doch zur Ernüchterung in Haft genommen werden musste! – eine Beschwerde über die Polizei entgegenzunehmen, und dem betrunkenen Polizisten Schelemetjew den Auftrag gab, den Beschwerdeführer zur Ernüchterung auf die Polizeiwache zu führen, dieser interessante Zeuge wurde keinem Kreuzverhör unterworfen. Der Droschkenkutscher Krainow, der Wosduchow zum Gouverneur und dann auf die Wache fuhr, wurde ebenfalls nicht darüber befragt, ob Wosduchow ihm nicht gesagt habe, warum er zum Gouverneur fahre, was er Ptizyn gesagt und ob nicht sonst irgend jemand dieses Gespräch mit angehört habe? Das Gericht begnügte sich mit der Verlesung der kurzen Aussage des nicht erschienenen Zeugen Krainow (der bestätigte, dass Wosduchow nicht betrunken, sondern nur ein wenig angeheitert war) und der stellvertretende Staatsanwalt dachte nicht im Geringsten daran, dafür zu sorgen, dass dieser wichtige Zeuge vor Gericht erscheine. Wenn man in Betracht zieht, dass Wosduchow Unteroffizier der Reserve war, also ein Mensch, der schon etwas vom Leben gesehen hat und Gesetze und Verordnungen ein wenig kannte, dass er sogar nach den letzten tödlichen Schlägen den Kameraden sagte: „Ich werde mich beschweren", – so wird es mehr als wahrscheinlich, dass er zum Gouverneur tatsächlich gekommen war, um sich über die Polizei zu beschweren, dass der Zeuge Ptizyn gelogen hatte, um die Polizei zu rechtfertigen, dass Richter und Staatsanwalt, diese Lakaien, die peinliche Geschichte nicht aufklären wollten.

Weiter. Warum und wofür ist Wosduchow geprügelt worden? Die Anklageschrift stellt das wiederum so dar, wie es … für die Angeklagten am günstigsten ist. Der „Anlass zu den Misshandlungen" bestand angeblich darin, dass Schelemetjew sich die Hand verletzt hatte, als er Wosduchow in die Wachstube stieß. Die Frage ist nun, warum man Wosduchow, der ruhig mit Schelemetjew und Panow sprach, (nehmen wir an, dass man ihn unbedingt hinein stoßen musste!) nicht in die Arrestantenzelle, sondern zuerst in die Wachstube hinein stieß? Er wird zur Ernüchterung eingeliefert – in der Arrestantenzelle befinden sich bereits einige Betrunkene – später wird auch Wosduchow dorthin gebracht, warum also stößt Schelemetjew den Wosduchow, nachdem er ihn Panow „vorgestellt" hat, in die Wachstube? Offenbar, um ihn zu verprügeln. In der Arrestantenzelle sind noch andere da, in der Wachstube wird Wosduchow allein sein, Schelemetjew aber werden seine Kollegen und Herr Panow, dem jetzt das erste Polizeirevier „anvertraut" ist, zu Hilfe kommen. Die Misshandlung war also nicht durch einen zufälligen Anlass hervorgerufen, sondern ihr lag eine vorbedachte Absicht zugrunde. Man kann nur eins von beiden annehmen, entweder man bringt alle Betrunkenen, die zur Ernüchterung nach der Polizeiwache gebracht werden (auch wenn sie sich ganz anständig und ruhig verhalten) zunächst zur „Belehrung" in die Wachstube, oder aber man hatte Wosduchow dorthin gebracht und ihn verprügelt, eben weil er zum Gouverneur gekommen war, um sich über die Polizei zu beschweren. Die Zeitungsberichte über den Prozess sind so kurz gehalten, dass es schwer fällt, sich kategorisch für die letzte Annahme (die absolut nicht unwahrscheinlich ist) auszusprechen, aber die Voruntersuchung und das Gerichtsverfahren hätten natürlich diese Frage vollkommen klären können. Das Gericht hat dieser Frage selbstverständlich keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich sage „selbstverständlich", denn die Gleichgültigkeit der Richter spiegelt hier nicht nur den Beamtenformalismus wider, sondern auch die spießerhafte Auffassung des russischen Menschen. „Was ist das schon besonderes! Man hat einen betrunkenen Muschik auf der Polizeiwache erschlagen! Bei uns passieren noch ganz andere Dinge!" Und der Spießer weist auf Dutzende von Fällen hin, die viel empörender sind und keine Bestrafung der Schuldigen nach sich ziehen. Die Hinweise des Spießers sind ganz richtig, trotzdem aber ist er im Unrecht, und diese Denkweise ist nur ein Beweis für seine äußerste, spießbürgerliche Kurzsichtigkeit. Sind bei uns nicht gerade darum viel empörendere Fälle von Polizeibrutalität möglich, weil diese Brutalität die tagtägliche, übliche Praxis in jedem beliebigen Polizeirevier ist? Und ist unsere Empörung gegen Ausnahmefälle nicht darum so machtlos, weil wir mit gewohnter Gleichgültigkeit die „normalen" Fälle betrachten? – weil unsere Gleichgültigkeit sogar dann nicht erschüttert wird, wenn eine so gewohnte und übliche Erscheinung, wie das Verprügeln eines betrunkenen (angeblich betrunkenen) „Muschik" im Polizeirevier den Protest dieses Muschik (der doch wohl an solche Dinge gewohnt sein müsste) hervorruft, dieses Muschik, der den unverschämten Versuch, dem Gouverneur eine untertänigste Beschwerde zu überreichen, mit seinem Leben bezahlen musste?

Es besteht noch ein anderer Grund, der es nicht gestattet, an diesem ganz gewöhnlichen Fall vorbeizugehen. Es ist bereits seit langem ausgesprochen worden, dass die vorbeugende Bedeutung der Strafe keineswegs in ihrer Grausamkeit, sondern in ihrer Unvermeidlichkeit liegt. Es ist nicht wichtig, dass für ein Verbrechen eine schwere Strafe erteilt wird, sondern wichtig ist, dass kein einziger Fall eines Verbrechens unaufgedeckt bleibt. Von diesem Standpunkt aus ist der Prozess auch nicht ohne Interesse. Das gesetzwidrige und barbarische Prügeln auf der Polizei kommt im russischen Reiche – das kann man ohne Übertreibung sagen – täglich und stündlich vorE. Aber nur ganz ausnahmsweise und in den seltensten Fällen kommt es zu Gerichtsverhandlungen. Das ist weiter kein Wunder, denn eine Verbrecherin ist die Polizei selbst, der in Russland die Aufdeckung der Verbrechen anvertraut ist. Das aber verpflichtet uns mit um so größerer, wenn auch sonst nicht üblicher Aufmerksamkeit die Fälle zu betrachten, in denen das Gericht gezwungen ist, den Vorhang, der gewöhnlich über die Dinge gebreitet ist, zu lüften.

Man lenke z. B. die Aufmerksamkeit darauf, wie die Polizisten prügeln. Sie sind ihrer fünf oder sechs an der Zahl, sie arbeiten mit bestialischer Grausamkeit, viele sind betrunken, alle haben Säbel. Aber kein einziger hat jemals seinem Opfer einen Schlag mit dem Säbel versetzt. Sie sind erfahrene Leute und wissen sehr gut, wie man prügeln muss. Ein Schlag mit dem Säbel ist – ein Beweis für den Tatbestand, schlägt man aber mit den Fäusten – dann gehe einer hin und beweise, dass man ihn auf der Polizei verprügelt habe. „Ist in einer Schlägerei verprügelt, dann festgenommen worden" – und alles ist in bester Ordnung. Sogar in diesem Prozess, wo zufällig der Betreffende zu Tode geprügelt worden ist („Warum zum Teufel musste er auch sterben; der Bauer sah so gesund aus, wer konnte das erwarten?") musste die Anklage durch Zeugenaussagen den Nachweis führen, dass „Wosduchow bis zu seiner Einlieferung ins Polizeirevier vollkommen gesund gewesen ist". Offenbar haben die Mörder, die während der ganzen Zeit behaupteten, sie hätten überhaupt nicht geschlagen, erklärt, dass er bereits verprügelt worden war, als sie ihn aufs Polizeirevier brachten. Aber für eine solche Sache Zeugen zu finden – ist eine unglaublich schwierige Angelegenheit. Nur einem glücklichen Zufall ist es zu danken, dass das kleine Fenster, das von der Arrestantenzelle zur Wachstube führt, nicht ganz verschlossen war: allerdings ist anstatt der Glasscheibe eine Blechscheibe mit eingebohrten Löchern eingesetzt und die Löcher sind von der Wachstube aus mit Leder verhängt, steckt man aber einen Finger durch, so hebt sich das Leder, und man kann von der Arrestantenzelle aus sehen, was in der Wachstube vorgeht. Nur deshalb gelang es vor Gericht, das Bild der „Belehrung" vollkommen wiederherzustellen. Aber ein solch unordentlicher Zustand, wie ein nicht fest verschlossenes Fenster, konnte natürlich nur im vorigen Jahrhundert vorkommen; im XX. Jahrhundert ist wahrscheinlich das Fensterchen, das im ersten Kremlrevier von Nischni-Nowgorod die Arrestantenzelle – und die Wachstube miteinander verbindet, fest verschlossen … Sind aber keine Zeugen vorhanden, dann Gnade dem, der in die Wachstube gerät!

In keinem einzigen Lande gibt es eine solche Unmasse von Gesetzen, wie in Russland. Wir haben Gesetze für alles. Es besteht auch eine besondere Bestimmung über Verhaftungen, in der ausführlich dargelegt wird, dass die Haft nur in besonderen Räumen, die einer besonderen Bewachung unterliegen, gesetzlich zulässig ist. Das Gesetz wird also, wie man sieht, befolgt: auf der Polizei besteht eine besondere „Arrestantenzelle". Aber bevor der Verhaftete in die Arrestantenzelle kommt, ist es Sitte, ihn in die Wachstube zu „stoßen". Und obwohl die Rolle der Wachstube als eine wahrhafte Folterkammer aus dem Material des gesamten Prozesses klar hervorgeht, hat die Gerichtsbehörde dennoch nicht einmal daran gedacht, dieser Erscheinung ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es sind wahrlich nicht die Staatsanwälte, von denen man die Entlarvung der Exzesse unserer Polizeiwillkür und den Kampf gegen sie erwarten kann!

Wir haben die Frage der Zeugen in solchen Prozessen berührt. Im besten Falle können Leute als Zeugen auftreten, die sich in Händen der Polizei befinden, einem Außenstehenden wird es nur in den seltensten Fällen gelingen, die „Belehrung" durch die Polizei in den Revieren zu beobachten. Auf die Zeugen aber, die sich in ihren Händen befinden, kann die Polizei einwirken. So war es auch in diesem Prozess. Der Zeuge Frolow, der sich während der Ermordung in der Arrestantenzelle befand, sagte bei der Voruntersuchung zunächst aus, dass sowohl die Polizisten als auch der Wachtmeister Wosduchow geprügelt hätten; dann nahm er die Beschuldigung gegen den Wachtmeister Panow zurück; vor Gericht erklärte er aber, dass niemand von der Polizei Wosduchow geschlagen habe, dass Semachin und Barinow (andere Häftlinge, die als Hauptzeugen der Anklage auftraten) ihn aufgehetzt hätten, gegen die Polizei auszusagen, dass die Polizei ihn nicht beeinflusst und nicht instruiert habe. Die Zeugen Fadejew und Antonow sagten aus, dass niemand in der Wachstube Wosduchow auch nur mit einem Finger berührt hätte. Dort sei alles ruhig und still gewesen, und es hätte überhaupt keinen Streit gegeben.

Wie man sieht – wieder die übliche Erscheinung. Und die Gerichtsbehörde verhielt sich demgegenüber wieder mit der gewohnten Gleichgültigkeit. Es gibt ein Gesetz, das falsche Aussagen vor Gericht ziemlich streng bestraft; ein Verfahren gegen diese beiden falschen Zeugen würde noch mehr Licht auf die Untaten der Polizei werfen, denen jeder wehrlos vollkommen gegenübersteht, der das Unglück hat, in ihre Klauen zu geraten (dieses Unglück aber trifft regelmäßig und ständig Hunderttausende aus dem „einfachen" Volke), das Gericht jedoch interessiert nur die Anwendung dieses oder jenes Paragraphen, keineswegs aber diese Schutzlosigkeit. Und diese Einzelheit des Prozesses beweist ebenso klar, wie alle übrigen, was das für ein allumspannendes, starkes Netz, was für ein altes Geschwür es ist, von dem man sich nur befreien kann, wenn man sich von dem ganzen System der Polizeiwillkür und der völligen Rechtlosigkeit des Volkes befreit.

Vor 35 Jahren passierte dem bekannten russischen Schriftsteller F. M. Reschetnikow eine unangenehme Geschichte. Er ging in Petersburg ins Adelshaus, weil er irrigerweise glaubte, dass dort ein Konzert stattfinde. Die Polizisten ließen ihn nicht hinein und schrien: „Wohin kriechst du, wer bist du?" „Ein Handwerker", antwortete grob der wütend gewordene F. M. Reschetnikow. Das Resultat dieser Antwort – erzählt Gl. Uspenski – war, dass Reschetnikow auf der Polizeiwache übernachten musste, von wo er verprügelt, ohne Geld und Ring wieder herauskam. „Ich bringe das Eurer Exzellenz zur Kenntnis" – schrieb Reschetnikow in seiner Eingabe an den Petersburger Oberpolizeimeister – „ich verlange nichts. Nur mit einer Angelegenheit erlaube ich mir Sie zu belästigen, – dass die Polizeileutnants, die Wachtmeister und Polizisten das Volk nicht schlagen… dieses Volk hat ohnehin schon genug zu erdulden.“5

Der bescheidene Wunsch, mit dem vor so langer Zeit bereits der russische Schriftsteller den Chef der hauptstädtischen Polizei zu belästigen sich erdreistete, ist bis auf den heutigen Tag unerfüllt geblieben und bleibt in unseren politischen Verhältnissen unerfüllbar. Aber die Blicke jedes ehrlichen Menschen, für den das Mitansehen der Bestialitäten und Gewalttaten eine Qual ist, lenkt jetzt eine neue machtvolle Bewegung im Volke auf sich, die ihre Kräfte sammelt, um jede Bestialität vom russischen Boden fortzufegen und die besten Ideale der Menschheit zu verwirklichen. In den letzten Jahrzehnten ist der Hass gegen die Polizei in den Massen des einfachen Volkes um ein Vielfaches gewachsen und erstarkt. Die Entwicklung des Lebens in den Städten, das Anwachsen der Industrie, die Verminderung des Analphabetentums – all das hat auch in den unwissenden Massen den Drang nach einem besseren Leben und das Bewusstsein der Menschenwürde geweckt, die Willkür und Brutalität der Polizei aber ist genau dieselbe geblieben. Hinzugekommen ist nur noch eine größere Gerissenheit in der Bespitzelung und in der Hetze gegen den neuen, den gefährlichsten Feind: gegen alles, was das Bewusstsein der eigenen Rechte und den Glauben an die eigene Kraft ins Volk trägt. Durch dieses Bewusstsein und diesen Glauben befruchtet, wird der Hass des Volkes seinen Ausweg finden nicht in wilder Rache, sondern im Kampfe für die Freiheit.

II. Warum den Wandel der Zeiten beschleunigen?

Die Adelsversammlung des Gouvernements Orel hat ein interessantes Projekt angenommen, und noch interessanter waren die Debatten über dieses Projekt.

Es handelt sich um folgendes. Der Adelsmarschall des Gouvernements, M. A. Stachowitsch, erstattete einen Bericht, in dem er den Antrag stellte, mit den Finanzbehörden einen Vertrag zu schließen, nach dem den Adligen des Gouvernements Orel die Posten der Einnehmer reserviert werden sollen. Mit der Einführung des Branntweinmonopols werden im Gouvernement vierzig Posten für Geldeinnehmer der staatlichen Branntweinläden geschaffen. Das Einkommen der Geldeinnehmer beträgt 2180 Rubel pro Jahr (900 Rubel Gehalt, 600 Rubel Diäten und 680 Rubel für den Wächterposten). Es wäre also gut, wenn die Adligen diese Posten bekämen, zu diesem Zweck müsse man aber ein Artel gründen und mit dem Fiskus einen Vertrag schließen. An Stelle der geforderten Kaution (von 3.000–5.000 Rubel) müsse man in der ersten Zeit von jedem Einnehmer 300 Rubel jährlich zurückbehalten und aus diesen Geldern einen Adelsfonds schaffen als Garantiesumme für die Branntweinverwaltung.

Wie man sieht, zeichnet sich das Projekt durch hohen praktischen Sinn aus und ist ein Beweis dafür, dass unser höchster Stand ein außerordentlich feines Gefühl dafür besitzt, wie man sich die Staatskasse zunutze machen kann. Aber eben dieser praktische Sinn erschien vielen hochwohlgeborenen Gutsbesitzern übertrieben, unanständig, eines Adligen unwürdig. Es entspannen sich Debatten, in denen drei Auffassungen über diese Frage besonders klar hervortraten.

Der erste ist der Standpunkt der Praktiker. Essen müsse man doch, der Adel befinde sich in bedrängter Lage … hier sei immerhin eine Verdienstmöglichkeit… man könne den armen Adligen nicht die Hilfe versagen. Außerdem könnten doch die Einnehmer die Enthaltsamkeit des Volkes fördern! Der zweite ist der Standpunkt der Romantiker. Im Schnapsressort arbeiten, auf einem Posten, der kaum höher stehe als der eines Branntweinverkäufers, den einfachen Verwaltern der Branntweinlager unterstellt sein, die „oft Personen aus niederem Stande sind …"? – und es ergossen sich temperamentvolle Reden über die hohe Mission des Adels. Gerade auf diese Reden wollen wir eingehen, zunächst aber möchten wir noch auf den dritten Standpunkt hinweisen – auf den der Staatsmänner. Einerseits könne man nicht leugnen, dass die Sache nicht ganz sauber sei, anderseits müsse man aber zugeben, dass sie von Vorteil sei. Doch sei es möglich, Kapital zu erwerben und dabei die Unschuld zu wahren: der Leiter der Steuereintreibungen könne auch ohne Kaution Posten besetzen, und diese 40 Adligen könnten auf Ersuchen des Adelsmarschalls des Gouvernements die Posten erhalten – ohne Artel und Vertrag, sonst würde womöglich „der Innenminister den Beschluss rückgängig machen, um zu verhüten, dass die allgemeine Staatsordnung verletzt wird." Diese weise Ansicht würde wahrscheinlich triumphiert haben, wenn der Adelsmarschall nicht zwei außerordentlich wichtige Erklärungen abgegeben hätte: 1. dass der Vertrag bereits dem Rat des Finanzministeriums vorgelegt worden sei, der ihn als durchführbar anerkannt und sich im Prinzip mit ihm einverstanden erklärt habe. 2. Dass man „diese Posten allein durch ein Gesuch des Gouvernements-Adelsmarschalls nicht erlangen könne". Und der Bericht wurde gebilligt.

Arme Romantiker! Sie haben eine Niederlage erlitten. Und das, obwohl sie so schöne Reden gehalten haben!

Bisher hat der Adel nur leitende Stellen besetzt. Im Bericht aber wird vorgeschlagen, irgendein Artel zu gründen. Entspricht das etwa der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des Adelsstandes? Begeht der Branntweinverkäufer eine Unterschlagung, so muss, auf Grund des Gesetzes über die Einnehmer, der Adlige hinter den Ladentisch treten. Lieber sterben, als solche Posten bekleiden!"

Ach, du lieber Himmel, wie viel edle Gesinnung doch im Menschen steckt! Lieber sterben, als mit Schnaps handeln! Mit Getreide handeln – das ist eine edle Beschäftigung –, besonders in Zeiten der Missernte, wo man sich auf Kosten der Hungernden bereichern kann. Und eine noch edlere Beschäftigung ist es, wenn man mit dem Getreide Wucher treibt, es im Winter den hungrigen Bauern auf die Arbeit im Sommer vorschießt und diese Arbeit dann um das dreifache billiger bezahlt, als sie auf dem Arbeitsmarkt bewertet wird. Gerade im zentralen Schwarzerdegebiet, zu dem das Gouvernement Orel gehört, haben unsere Gutsbesitzer stets mit besonderem Eifer diese edle Art von Wucher betrieben. Um aber den edlen und den unedlen Wucher gut voneinander zu trennen, muss man natürlich möglichst laut über die eines Adligen unwürdige Beschäftigung des Branntweinverkäufers schreien.

Wir müssen aufs Strengste unsere Mission erfüllen, auf die im bekannten allerhöchsten Manifest hingewiesen wird – uneigennützig dem Volke zu dienen. Ein eigennütziger Dienst steht im Widerspruch dazu…" „Ein Stand, der in der Vergangenheit solche Verdienste aufzuweisen hat, wie die Kriegsdienste seiner Ahnen, ein Stand, auf dessen Schultern die großen Reformen Kaiser Alexanders II. durchgeführt wurden, bietet die Gewähr dafür, dass er auch in Zukunft seine Pflichten dem Staate gegenüber erfüllen wird."

Jawohl, der uneigennützige Dienst! Die Verteilung von Gütern, die Belehnung mit besiedelten Gütern, d. h. die Verschenkung von tausenden Desjatinen Land und von Tausenden von Leibeigenen, die Bildung einer Klasse von Großgrundbesitzern, die hunderte, tausende und zehntausende Desjatinen Land besitzen und Millionen von Bauern durch ihre Ausbeutung in den Zustand vollkommener Verelendung bringen, – das sind Offenbarungen dieser Uneigennützigkeit. Besonders schön aber ist der Hinweis auf die „großen" Reformen Alexanders II. Nehmen wir z. B. die Bauernbefreiung. Mit welcher Uneigennützigkeit haben unsere edlen Adligen den Bauern das Fell abgezogen: man zwang sie, ihr eigenes Land loszukaufen und dreimal mehr dafür zu zahlen, als der wirkliche Preis betrug, man raubte den Bauern das Land, indem man alle möglichen Teile wegschnitt, indem man sandigen Boden, Schluchten und Ödland gegen guten Boden der Bauern vertauschte. Jetzt aber hat man noch die Frechheit, sich solcher Heldentaten zu rühmen!

Die Sphäre des Branntweinwesens stellt nichts Patriotisches dar…" „Unsere Traditionen gründen sich nicht auf den Rubel, sondern auf den Staatsdienst. Der Adel darf nicht zu einer Börse werden."

Die Trauben hängen zu hoch! Der Adel „darf nicht" zu einer Börse werden, denn auf der Börse wird solides Kapital verlangt, die Herren Sklavenhalter von gestern haben aber alles verjubelt! Für die breite Masse des Adels ist nicht die Verwandlung in eine Börse, sondern die Unterordnung unter die Börse, die Unterordnung unter den Rubel längst zu einer vollendeten Tatsache geworden. Und auf der Jagd nach dem Rubel beschäftigt sich der „höhere Stand" bereits seit langem mit so hoch patriotischen Dingen, wie die Erzeugung von Fusel, die Errichtung von Zuckersiedereien und anderen Betrieben, die Teilnahme an allen möglichen Schwindelunternehmen in Handel und Industrie, das Herumlungern in den Vorzimmern der Vertreter der höchsten Hofkreise, der Großfürsten, Minister usw. usw., um Konzessionen und Regierungsgarantien für solche Unternehmen zu erhalten, und Almosen in der Form von Begünstigungen der Adelsbank oder Prämien für die Zuckerausfuhr, um kleine Grundstücke (Tausende von Desjatinen!) irgendwelchen baschkirischen Bodens, um gute, warme „einträgliche Pöstchen" und dergleichen mehr zu erbetteln.'

Die Ethik des Adels trägt die Spuren der Geschichte, der sozialen Lage…" – und die Spuren des Pferdestalls, wo der Adel sich in den Gewalttaten und Misshandlungen gegenüber den Bauern übte. Übrigens hat die jahrhundertelange Gewohnheit des Herrschens in den Adligen noch etwas viel verfeinerteres entwickelt: die Fähigkeit, ihre Ausbeuterinteressen in glänzende Phrasen zu hüllen, die darauf berechnet sind, das unwissende „gemeine Volk" übers Ohr zu hauen. Man höre weiter:

Warum den Wandel der Zeiten beschleunigen? Mag das auch ein Vorurteil sein, die alten Traditionen erlauben es aber nicht, diese Wandelbarkeit zu fördern …“

In diesen Worten des Herrn Naryschkin (eines der Ratsmitglieder, die den staatsmännischen Standpunkt vertraten) kommt das richtige Klassengefühl zum Ausdruck. Gewiss, die Angst vor dem Posten eines Einnehmers (oder sogar eines Branntweinverkaufers) ist in der jetzigen Zeit ein Vorurteil, aber beruht auf dem flachen Lande die unerhört schamlose Ausbeutung der Bauern durch die Grundbesitzer nicht auf den Vorurteilen der unwissenden Bauernmassen? Die Vorurteile sterben ohnehin ab; warum also ihr Absterben dadurch beschleunigen, dass man vor aller Welt den Adligen und den Branntweinverkäufer einander nahe bringt, dass man den Bauern durch diese Gegenüberstellung den (ohnehin bereits begonnenen) Prozess der Erkenntnis jener einfachen Wahrheit erleichtert, dass der adlige Gutsbesitzer ein eben solcher Wucherer, Räuber und Dieb ist, wie irgendein Dorfschmarotzer, nur unvergleichlich viel stärker, – dank seinem Bodenbesitz, seiner im Verlaufe von Jahrhunderten entstandenen Privilegien, seiner Nähe zum zaristischen Machtapparat, seiner Gewohnheit, zu herrschen, und dank der Fähigkeit, seine Juduschka6-Natur in eine ganze Doktrin von Romantik und Großmut zu hüllen?

Nun natürlich, Herr Naryschkin ist ein Mann, der dem Rat angehört, und durch seinen Mund spricht staatsmännische Weisheit. Ich wundere mich nicht, dass der Adels-Marschall von Orel ihm – in so gewählten Ausdrücken, die einem englischen Lord zur Ehre gereicht hätten, – folgende Antwort erteilte:

Den Autoritäten, die wir hier gehört haben, widersprechen zu wollen, wäre meinerseits eine Kühnheit, wenn ich nicht die Sicherheit hätte, dass ich nicht gegen ihre Überzeugung spreche, wenn ich mich gegen ihre Ansichten wende."

Das ist richtig, und zwar in einem viel weiteren Sinne, als Herr Stachowitsch dachte, der wirklich zufällig die Wahrheit sagte. Die Herren Adligen haben alle die gleiche Überzeugung, von den Männern der Praxis bis zu den Romantikern. Alle glauben fest an ihr „heiliges Recht" auf hunderte oder tausende Desjatinen Land, das von den Vorfahren zusammengeraubt oder von den Räubern verschenkt worden ist, an das Recht, die Bauern auszubeuten und die herrschende Rolle im Staate zu spielen, an das Recht auf die fettesten (wenn es nicht anders geht, auch weniger fetten) Bissen aus der Staatskrippe, d. h. von den Geldern des Volkes. Sie sind nur verschiedener Ansicht in Bezug auf die Zweckmäßigkeit einzelner Maßnahmen, und ihre Diskussionen über diese Ansichten sind ebenso lehrreich für das Proletariat, wie jeder häusliche Streit im Lager der Ausbeuter. Bei diesen Streitigkeiten tritt der Unterschied zwischen den allgemeinen Interessen der gesamten Klasse der Kapitalisten oder der Grundbesitzer und den Interessen einzelner Personen oder einzelner Gruppen aufs Deutlichste zutage; bei solchen Streitigkeiten wird oft das ausgeplaudert, was man sonst sorgfältig zu verbergen pflegt.

Aber außerdem wirft diese Episode aus dem Gouvernement Orel ein gewisses Licht auch auf den Charakter des berüchtigten Branntweinmonopols. Wie viel Heil und Segen hat nicht unsere offizielle und offiziöse Presse von ihm erhofft: Erhöhung der Staatseinnahmen, Verbesserung des Produkts, Rückgang der Trunksucht! In Wirklichkeit aber ist bisher anstatt einer Erhöhung der Einnahmen nur eine Verteuerung des Branntweins eingetreten, eine Verwirrung im Budget, die Unmöglichkeit, die finanziellen Ergebnisse der ganzen Operation genau zu bestimmen; an Stelle der Verbesserung des Produkts ist eine Verschlechterung eingetreten, und es wird der Regierung wohl kaum gelingen, dem Publikum durch die vor kurzem durch die Zeitungen gegangene Mitteilung über die erfolgreichen Resultate der „Degustation"F des neuen „Staats-Branntweines" besonders zu imponieren. An Stelle des Rückganges der Trunksucht – haben wir ein Anwachsen der Zahl der geheimen Branntweinverkaufsstellen, eine Vergrößerung der Einnahmen der Polizei aus diesen Verkaufsstellen, die Eröffnung von Schnapsläden gegen den Willen der Bevölkerung, die gerade das Gegenteil verlangtG, eine Vergrößerung der Zahl der Betrunkenen in den StraßenH. Die Hauptsache aber ist, wie viel neue ungeheure Möglichkeiten für Beamtenwillkür, für Kriechertum und Diebstahl dieser neue Zweig der fiskalischen Wirtschaft eröffnet, für den eine ganze Armee von neuen Beamten geschaffen wird! Das ist eine wahre Heuschreckenplage, eine Überflutung durch ein Heer von Beamten, die sich anschmieren, die intrigieren, stehlen, die Meere von Tinte und Berge von Papier verschreiben. Das Projekt von Orel ist nichts anderes als ein Versuch, jene Gier nach mehr oder weniger fetten Bissen aus der Staatskrippe in gesetzliche Formen zu kleiden, von der unsere Provinz erfasst ist und die unvermeidlich – angesichts der Allmacht der Beamten und der Rechtlosigkeit der Gesellschaft – das Land mit einem weiteren Anwachsen der Willkürakte und Unterschlagungen bedroht. Ein kleines Beispiel: bereits im Herbst ging eine Notiz durch die Zeitungen über eine „Anekdote aus dem Gebiete des Branntweinmonopols". In Moskau werden drei Branntweinlager errichtet, die das ganze Gouvernement versorgen sollen. Für den Bau dieser Lager wurden vom Ministerium 1.637.000 Rubel assigniert. Nun stellt es sich aber heraus, dass „ein Ergänzungskredit von 2½ Millionen Rubel erforderlich ist".I Die Beamten, denen man das Staatseigentum anvertraute, haben hier offenbar etwas mehr in ihre Taschen gesteckt, als 50 Paar Hosen und einige Paar Stiefel!

III. Eine objektive Statistik

Unsere Regierung pflegt ihren Gegnern – und zwar nicht nur den Revolutionären, sondern auch den Liberalen – tendenziöse Einstellung vorzuwerfen. Wer hat z. B. nicht Gelegenheit gehabt, Äußerungen der offiziellen Presse über die liberalen (natürlich legalen) Presseorgane zu lesen? Das Organ des Finanzministeriums, „Der Finanzbote", brachte manchmal Presseübersichten, und jedes Mal, wenn der Beamte, der diese Presseübersichten zusammenstellte, von der Stellungnahme einer unserer (großen) liberalen Zeitschriften zum Budget oder zur Hungersnot oder zu irgendeiner Regierungsmaßnahme sprach, stellte er stets mit Entrüstung ihre „tendenziöse" Einstellung fest und wies demgegenüber in „objektiver" Weise nicht nur auf die „dunklen Seiten", sondern auch auf die „erfreulichen Erscheinungen" hin. Das ist selbstverständlich nur ein kleines Beispiel, aber es illustriert das übliche Verhalten der Regierung, ihr übliches Bestreben, sich mit ihrer „Objektivität" zu brüsten.

Wollen wir versuchen, diesen strengen und unvoreingenommenen Richtern ein Vergnügen zu bereiten. Wenden wir die Statistik an. Natürlich werden wir nicht die Statistik dieser oder jener Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens nehmen: es ist bekannt, dass Tatsachen von voreingenommenen Leuten registriert und dass sie mitunter von entschieden „tendenziösen" Institutionen, wie die Semstwos, verallgemeinert werden. Nein, nehmen wir die Statistik der … Gesetze. Wir erkühnen uns, anzunehmen, dass kein einziger, selbst unter den eifrigsten Anhängern der Regierung, es wagen wird, zu behaupten, dass es etwas Objektiveres und Unvoreingenommeneres geben könne, als die Statistik der Gesetze – als die einfache Zusammenstellung dessen, was die Regierung selbst beschließt, ganz unabhängig von allen Erwägungen über das Missverhältnis zwischen Worten und Taten, zwischen Beschlussfassung und Durchführung usw.?

Kommen wir zur Sache.

Der regierende Senat gibt, wie bekannt, eine „Sammlung der Gesetze und Verordnungen der Regierung" heraus, die periodisch über jede Maßnahme der Regierung berichtet. Dieses Material wollen wir uns daraufhin ansehen, worüber die Regierung Gesetze und Verordnungen erlässt. Ja, gerade: worüber. Wir erlauben uns keine Kritik an den Befehlen der Obrigkeit, wir wollen nur die Zahl „derselbigen", die sich auf dieses oder jenes Gebiet beziehen, ausrechnen. In den Januarzeitungen ist aus dem genannten Regierungsorgan der Inhalt der Nr. 2905 bis 2929 vergangenen Jahres und der Nr. 1 bis 60 dieses Jahres veröffentlicht worden. Insgesamt sind in der Zeit vom 29. Dezember 1900 bis zum 12. Januar 1901 – gerade an der Grenze zweier Jahrhunderte – 91 Gesetze und Verordnungen erlassen worden. Ihrem Charakter nach eignen sich diese 91 Gesetzesbestimmungen besonders gut für eine „statistische" Bearbeitung. Darunter haben wir keine besonders hervorragenden Gesetze, nichts, was alles andere völlig in den Hintergrund drängen und der gegebenen Periode der inneren Verwaltung einen besonderen Stempel aufdrücken könnte. Alle diese gesetzlichen Bestimmungen sind von verhältnismäßig geringer Bedeutung und erstrecken sich auf ständig und regelmäßig entstehende Tagesnöte. Wir sehen auf diese Weise die Regierung bei ihrer Werktagsarbeit, das aber ist für uns eine weitere Garantie für die Objektivität der „Statistik".

Von den 91 Gesetzen beziehen sich 34, d. h. über ein Drittel, auf ein und denselben Gegenstand: die Verlängerung des Termins für die Zahlung des Aktienkapitals oder der fälligen Beträge für die Aktien verschiedener Handels- und Industrie-Aktiengesellschaften. Die Lektüre dieser Gesetzesverordnungen kann man den Zeitungslesern nur empfehlen, damit sie sich die Zahl der Produktionszweige unserer Industrie und die Namen der verschiedenen Firmen in ihrem Gedächtnis einprägen. Ganz genau so verhält es sich mit dem Inhalt der zweiten Gruppe der Verordnungen: über die Änderung der Statuten der Handels- und Industriegesellschaften. Hierher gehören 15 Verordnungen, die die Statuten der Tee-Handelsgesellschaft Gebrüder K. Und S. Popow, der Kartonfabrik A. Naumann & Co., der Gesellschaft zur Herstellung und zum Vertrieb von Leder- und Leinenwaren I. A. Ossipow & Co. usw. usw. abändern. Endlich kommen zu diesen Verordnungen noch 11 hinzu, von denen 6 diese oder jene Bedürfnisse von Handel und Industrie befriedigen (Gründung einer Gesellschaftsbank und eines genossenschaftlichen Kreditinstituts, Festsetzung der Preise für Wertpapiere, die bei Staatsaufträgen als Garantie angenommen werden, Bestimmungen für den Verkehr von Eisenbahnwagen, die Privatpersonen gehören, eine Instruktion für Makler der Getreidebörse in Borissoglebsk), während 5 Verordnungen sich damit beschäftigen, in vier Fabriken und einem Bergwerk 6 neue Polizistenposten und 2 Wachtmeisterposten der berittenen Gendarmerie zu schaffen.

Von den 91 Verordnungen wurden also 60, d. h. zwei Drittel, für die unmittelbarste Befriedigung der verschiedenen praktischen Bedürfnisse unserer Kapitalisten getroffen, zum Teil, um sie vor der Empörung der Arbeiter zu schützen. Die leidenschaftslose Sprache der Ziffern ist ein Beweis dafür, dass unsere Regierung, nach dem Charakter der überwiegenden Zahl der tagaus tagein erlassenen Gesetze und Verordnungen zu urteilen, ein treuer Diener der Kapitalisten ist und innerhalb der gesamten Kapitalistenklasse dieselbe Rolle spielt, wie, sagen wir, irgendein ständiges Büro des Kongresses der Eisenindustriellen oder ein Kontor des Syndikats der Zuckerfabrikanten – im Verhältnis zu den Kapitalisten der einzelnen Produktionszweige. Gewiss, der Umstand, dass eine geringfügige Änderung im Statut irgendeiner Gesellschaft oder die Verlängerung der Frist für die Bezahlung ihrer Aktien Gegenstand besonderer Verordnungen ist, hängt einfach von der Schwerfälligkeit unseres Staatsapparates ab; eine geringe „Vervollkommnung des Mechanismus" wird genügen, um all das von den lokalen Behörden erledigen zu lassen. Aber die Schwerfälligkeit des Mechanismus, die übermäßige Zentralisierung, die Notwendigkeit, die die Regierung zwingt, in alles selber ihre Nase hineinzustecken – all das sind anderseits allgemeine Erscheinungen, die sich auf unser ganzes gesellschaftliches Leben erstrecken und keineswegs nur auf das Gebiet von Handel und Industrie. Darum kann ein Vergleich der Zahl der Verordnungen dieser oder jener Art annähernd ein Bild von dem geben, woran unsere Regierung denkt, wofür sie sorgt und was sie interessiert.

Wenn z. B. Privatgesellschaften nicht das moralisch so ehrenvolle und politisch so ungefährliche Ziel der Bereicherung verfolgen, so interessiert sich unsere Regierung schon sehr viel weniger für sie (wenn man nicht die Versuche, sie in ihrer Arbeit zu hemmen, sie zu verbieten, zu schließen usw. für eine Äußerung des Interesses halten will). In der „Berichtsperiode" – der Schreiber dieser Zeilen ist Angestellter und hofft darum, dass der Leser ihm den Gebrauch bürokratischer Ausdrücke verzeihen wird – sind die Statuten zweier Gesellschaften bestätigt worden (die der Gesellschaft zur Unterstützung der notleidenden Schüler des Knabengymnasiums in Wladikawkas und der Wladikawkaser Gesellschaft zur Veranstaltung von Schulausflügen und -wanderungen) und 3 Gesellschaften ist allergnädigst erlaubt worden, ihre Statuten zu ändern (der Darlehens-, Spar- und Hilfskasse der Angestellten und Arbeiter der Ludinowski- und Sukremenskiwerke und auf der Malzew-Eisenbahnlinie; der ersten Gesellschaft für Hopfenbau; der wohltätigen Gesellschaft zur Förderung der Frauenarbeit). 55 Verordnungen betreffen Handels- und Industriegesellschaften, und 5 Verordnungen – verschiedene andere Gesellschaften. In der Sphäre der Handels- und Industrieinteressen sind „wir" bestrebt, auf der Höhe der Aufgabe zu stehen, versuchen „wir", alles mögliche zu tun, um die Gründung von Vereinigungen der Kaufleute mit Industriellen zu erleichtern (wir streben danach, tun es aber nicht, denn die Schwerfälligkeit des Apparates und die Methoden endloser Verschleppung setzen dem „Möglichen" in einem Polizeistaate sehr enge Grenzen). Auf dem Gebiete der nichtkommerziellen Vereinigungen aber sind wir prinzipiell für Homöopathie. Nun, eine Gesellschaft für Hopfenbau oder zur Förderung der Frauenarbeit – das geht noch allenfalls. Aber Schulausflüge zu Erziehungszwecken … Der liebe Gott weiß, worüber man auf diesen Ausflügen reden wird, und ob dadurch nicht die ungeschwächte Aufsicht durch die Schulinspektion erschwert wird? Nein, wirklich, mit Feuer muss man schon etwas vorsichtiger umgehen.

Die Schulen. Ganze drei Schulen sind erbaut worden. Und was für Schulen! Eine Elementarschule für Viehknechte auf dem Gute seiner kaiserlichen Hoheit des Großfürsten Peter Nikolajewitsch im Dorfe Blagodatnoje. Dass die Dörfer der Großfürsten alle gesegnet7 sein müssen – daran zweifle ich seit langem nicht mehr. Jetzt zweifle ich aber auch nicht mehr, dass sich sogar die höchsten Personen für die Aufklärung der Jugend aufrichtig, von ganzem Herzen interessieren und begeistern können. Weiter: die Statuten der ländlichen Handwerkerschule im Dorfe Dergatschewo und der landwirtschaftlichen Elementarschule in Assanowo sind bestätigt worden. Schade, dass wir kein Nachschlagewerk bei der Hand haben, um festzustellen, ob nicht auch diese gesegneten Dörfer, in denen die Volksbildung – und die Gutsbesitzerwirtschaft so energisch kultiviert werden, irgendwelchen hohen Personen gehören. Übrigens, ich tröste mich damit, dass derlei Auskünfte nicht zu den Pflichten eines Statistikers gehören.

Das also sind alle Verordnungen, in denen die „Sorge der Regierung um das Volk" zum Ausdruck kommt. Ich habe sie, wie man sieht, nach den günstigsten Prinzipien gruppiert. Warum ist z. B. die Gesellschaft für Hopfenbau keine Handelsgesellschaft? Etwa darum, weil man dort manchmal nicht nur vom Handel redet? Oder die Schule für Viehwärter? Wer kann eigentlich wissen, ob das wirklich eine Schule oder nur ein vervollkommneter Viehhof ist?

Bleibt die letzte Gruppe der Verordnungen, in der die Sorge der Regierung um sich selbst zum Ausdruck kommt. Deren Zahl ist dreimal so groß (22), wie die in den zwei vorhergehenden Rubriken. Hier haben wir eine Reihe administrativer Reformen, eine immer radikaler als die andere: die Umbenennung des Dorfes Platonowskoje in Nikolajewskoje; Änderung von Statuten, Personalbestand, Regeln, Listen, Tagungsterminen (verschiedener Kreiskongresse) usw.; Gehaltserhöhung für Hebammen, die in den Truppenteilen des kaukasischen Militärbezirks arbeiten; Festsetzung der Ausgaben für das Beschlagen und die Heilung der Kosakenpferde; Änderung des Statuts einer privaten Handelsschule in Moskau, Regeln über die Verteilung der „Hofrat-Daniel-Samuilowitsch-Poljakow-Stipendie" in der Koslower Handelsschule. Ich weiß übrigens nicht, ob ich diese letzten Verordnungen richtig klassifiziert habe: kommt in ihnen tatsächlich die Sorge der Regierung um sich selbst zum Ausdruck oder die um die Interessen von Handel und Industrie? Ich bitte den Leser um Nachsicht – es ist dies der erste Versuch einer Statistik der Gesetzesverordnungen. Bisher hat noch niemand versucht, dieses Wissensgebiet auf die Stufe einer strengen Wissenschaft zu heben – niemand, auch nicht die Professoren des russischen Staatsrechts.

Zum Schluss muss noch eine Verordnung – sowohl ihres Inhalts wegen als auch, weil sie die erste Maßnahme der Regierung im neuen Jahrhundert ist – als zu einer besonderen, selbständigen Gruppe gehörig hervorgehoben werden: die Verordnung über die Erweiterung des für die Entwicklung und die Verbesserung der kaiserlichen Jagd bestimmten Waldbestandes. Ein wunderbarer, einer Großmacht würdiger Anfang!

Jetzt muss zusammenfassend das Fazit gezogen werden. Das ist für die Statistik eine Notwendigkeit.

Ein halbes Hundert Gesetze und Verordnungen, die einzelnen Handels- und Industriegesellschaften und Unternehmungen gewidmet sind; etwa zwanzig administrative Umbenennungen und Umgestaltungen; zwei neugegründete und drei reformierte Privatgesellschaften; drei Schulen, die Angestellte für die Gutsbesitzer heranbilden; sechs Polizisten und zwei berittene Gendarmerie-Wachtmeister für die Betriebe. Kann man daran zweifeln, dass eine so reiche und vielseitige gesetzgeberisch-administrative Tätigkeit unserem Vaterland im XX. Jahrhundert einen raschen und unaufhaltsamen Fortschritt sichert?

1 Von der Ermordung des Bauern Wosduchow in einem Polizeirevier durch Polizisten, die Lenin das Material lieferte für die Notiz „Prügle, aber nicht zu Tode", konnte Lenin nur erfahren haben aus der Chronik der „Russkije Wjedomosti". Alle von Lenin erwähnten Umstände sind in einer Notiz dieser Chronik geschildert worden. Die konservativen Zeitungen („Nowoje Wremja", „Moskowskije Wjedomosti") brachten keine Berichterstattung über diesen Prozess.

Die Nummer 26 der „Russkije Wjedomosti" vom 26. Januar, die die betreffende Notiz gebracht hatte, konnte Lenin erst einen oder zwei Tage später in München erhalten haben, seine Notiz über die Ermordung Wosduchows hat er also nach dem 28./29. Januar geschrieben. Die beiden anderen Gerichtsverhandlungen, die Lenin in den Fußnoten erwähnte, (S. 81 und 93 des vorliegenden Halbbandes), gestatten mit ziemlicher Genauigkeit, die Zeit festzustellen, zu der Lenin seine erste Notiz geschrieben hat: die Notiz über die erste Angelegenheit hatte in Nummer 31 der „Moskowskije Wjedomosti" vom 31. Januar (13. Februar neuen Stils) gestanden, die Notiz über die zweite Angelegenheit (des M. Klinkow) – in Nr. 32 der „Russkije Wjedomosti" vom 1. Februar. Aus der Fußnote auf S. 93 ist ersichtlich, dass Lenin von dem Fall Klinkow erst erfahren hat, nachdem er bereits den größten Teil des Artikels geschrieben hatte („Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als die Zeitungen …" usw.). Die erste Notiz wurde also in den letzten Januartagen geschrieben, die Fußnoten – zumindest zwei von ihnen – in den ersten Februartagen.

Für das zweite Kapitel der „Zufälligen Notizen" („Warum den Wandel der Zeiten beschleunigen?") benutzte Lenin das in der Nummer 273 des „Orlowski Westnik" vom 11. Oktober 1900 veröffentlichte Material („Die außerordentliche Versammlung von Orlow"). Das von Lenin ausgenutzte Referat M. A. Stachowitschs in der Gouvernements-Adelsversammlung ist von diesem am 7. Oktober gehalten worden. Für das dritte Kapitel der „Zufälligen Notizen" („Eine objektive Statistik") sind die von Lenin auf S. 106 erwähnten Regierungsgesetze und -verordnungen den Moskowskije Wjedomosti" des Jahres 1901 entnommen.

2 „Sarja" („Die Morgenröte"), eine sozialdemokratische wissenschaftlich-politische Zeitschrift, wurde in Stuttgart unter der Redaktion G. Plechanows, W. Lenins, P. Axelrods, J. Martows, V. Sassulitschs und A. Potressows herausgegeben.

Dem Erscheinen der „Sarja" ging folgende Notiz in der „Iskra" (Nr. 2) voraus: „Vom Januar dieses Jahres an wird in Stuttgart in dem bekannten Verlag Dietz die wissenschaftlich-politische Zeitschrift „Sarja" erscheinen, die von mehreren russischen Sozialdemokraten (d. h. Lenin, Martow und Potressow – Die Red.) in engster Zusammenarbeit mit G. V. Plechanow, P. B. Axelrod und V. I. Sassulitsch herausgegeben und redigiert wird.

Die Redaktion der „Sarja", deren Ansichten über die theoretischen und taktischen Fragen der russischen Sozialdemokratie mit den unsrigen völlig übereinstimmen, wird einen Teil jenes Programms durchführen, das von uns in der gleichzeitig mit der Nummer 1 der „Iskra" veröffentlichten Ankündigung der Redaktion dargelegt ist.

Das Programm der „Sarja" sollte in einem kleinen redaktionellen Artikel P. Axelrods niedergelegt werden, da man jedoch aus einigen Stellen dieses Artikels auf die Verbindung der offen erscheinenden „Sarja" mit der illegalen „Iskra", die in der gleichen Druckerei gedruckt wurde, schließen konnte, so lehnte Dietz, der Angst hatte, seinen Verlag den Verfolgungen der deutschen Polizei auszusetzen, den Druck des Artikels Axelrods ab. Um die Nummer 1 der „Sarja" nicht ohne Leitartikel zu lassen, musste man den Axelrodschen Artikel schleunigst durch folgenden kurzen, anscheinend von Potressow geschriebenen Aufruf „An die Leser" ersetzen:

Einst lautete die Losung der alten Welt: ,Le roi est mort, vive le roi' (,Der König ist tot, es lebe der Königl' – Die Red.). Indem wir unser Organ ,Sarja' erscheinen lassen, sagen wir: Der zensurfähige russische Marxismus ist gestorben, da er sich überlebt hat – Friede seiner Asche. Es lebe der freie Gedanke der revolutionären Sozialdemokratie, dieses Palladiums der russischen Befreiung!

Die Wellen der Arbeiterbewegung gehen immer höher, die soziale Erregung gegen die drückenden Kesseln des Absolutismus wächst, und dem russischen sozialdemokratischen Schriftsteller fällt immer mehr die gebieterische Aufgabe zu, jedem Schritt in der Vorwärtsentwicklung der Bewegung, im Prozess ihres halbspontanen Anwachsens einen Inhalt zu geben, die Wege und die Mittel zu zeigen, das Programm zu entwerfen, Agitatoren heranzubilden, im unerbittlichen Kampf gegen die Vertreter des ,modernen Kritizismus' den theoretischen Gedanken zu wecken und in die breiten Schichten der lesenden Massen jenen lebendigen Geist zu tragen, ohne den die große Freiheitsbewegung niemals erstarken wird.

Die Zukunft wird zeigen, ob es der ,Sarja' im gegenwärtigen Augenblick der Krise in der Theorie und des Chaos in der Praxis gelingt, zumindest einen Teil der Aufgaben, die sie sich gestellt hat, zu lösen. Wir übergeben hiermit unseren ersten Versuch dem Urteil der Leser."

Die gleichen Gründe der Vorsicht veranlassten Dietz, auch den Umschlag der Zeitschrift zu ändern; er beseitigte den Hinweis auf die Mitarbeit „mehrerer russischer Sozialdemokraten" und ließ nur die Namen von Plechanow, Axelrod und Sassulitsch stehen.

Insgesamt erschienen drei Hefte der „Sarja": Nr. 1 im April 1901 (tatsächlich erschien Nr. 1 am 23. März neuen Stils), Nr. 2–3 im Dezember 1901, Nr. 4 im August 1902. In der Zeitschrift erschienen folgende Artikel von Lenin: „Zufällige Notizen", „Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus", „Die Herren Kritiker in der Agrarfrage", „Innerpolitische Rundschau", „Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie"; von Plechanow – „Noch einmal der Sozialismus und der politische Kampf", „Die Kritik unserer Kritiker", „Cant gegen Kant", ferner Artikel von Potressow, Martow, Sassulitsch, Kautsky, Parvus, Lindow (Leiteisen), Rjazanov, Steklow, Deutsch u. a.

Als im Jahre 1902 innerhalb der Redaktion der „Iskra" und „Sarja" Meinungsverschiedenheiten und Konflikte entstanden, machte Plechanow den Vorschlag, die Zeitschrift von der Zeitung zu trennen (wobei er die Redaktion der „Sarja" für sich behalten wollte), doch wurde dieser Vorschlag nicht angenommen und die beiden Organe behielten eine gemeinsame Redaktion.

A Bei dieser Gelegenheit wollen wir zur Beurteilung des Strafmaßes, das unsere Gerichte für verschiedene Verbrechen verhängen, noch eine Tatsache anführen. Mehrere Tage nach der Verhandlung gegen die Mörder Wosduchows hatte sich vor dem Moskauer Militärkreisgericht ein Soldat zu verantworten der in der örtlichen Artilleriebrigade diente und 50 Paar Hosen und mehrere mehrere Paar Stiefel aus dem Depot gestohlen hatte, als er dort Posten stand. Das Urteil lautete auf vier Jahre Zwangsarbeit. Das Leben eines Menschen der der Polizei anvertraut ist, ist also ebenso viel wert wie 50 Paar Hosen und einige Stiefel, die dem Wachtposten anvertraut sind. In dieser originellen „Gleichstellung" spiegelt sich, wie die Sonne in einem Tröpfchen Wasser, die ganze Struktur unseres Polizeistaates. Die Persönlichkeit ist der Staatsgewalt gegenüber nichts. Die Disziplin innerhalb der Staatsgewalt ist alles…, das heißt „alles" nur für die kleinen Leute. Der kleine Dieb wird zu Zwangsarbeit verurteilt, die großen Diebe dagegen, alle diese großen Herren, Minister, Bankdirektoren, Erbauer von Eisenbahnen, Ingenieure, Bauunternehmer usw., die Zehntausende und Hunderttausende von Staatsgeldern in ihre Tasche verschwinden lassen, büßen das nur sehr selten und schlimmstenfalls mit Verbannung nach irgendeinem entfernt gelegenen Gouvernement, wo man für das zusammengestohlene Geld herrlich und in Freuden leben (die Bankdiebe in Westsibirien) und von wo aus man sehr leicht ins Ausland flüchten kann (Gendarmerieoberst Méranville de St. Claire).

3 Der Typus des brutalen Polizeimenschen in Gogols „Revisor". Die Red.

B Anstatt vor dem Gericht und vor der Öffentlichkeit die Niederträchtigkeiten in ihrem ganzen Umfange aufzudecken, zieht man es bei uns vor, die Dinge vor Gericht zu vertuschen und sich mit Zirkularen und Verordnungen voll schwülstiger, aber hohler Phrasen über die Sache hinwegzusetzen. So z. B. hat der Polizeipräsident von Orel dieser Tage einen Befehl erlassen, der unter Bestätigung früherer Verordnungen es den Polizeileutnants zur Pflicht macht, persönlich wie auch durch ihre Stellvertreter den unteren Polizeibeamten nachdrücklich einzuschärfen, bei der Festnahme von Betrunkenen auf den Straßen und bei ihrer Einlieferung auf die Polizeiwachen zwecks Ernüchterung keine grobe Behandlung oder irgendwelche gewaltsamen Handlungen zuzulassen; den unteren Beamten sei zu erklären, dass unter anderem auch der Schutz der Betrunkenen, die ohne offenbare Gefahr für ihr Leben sich selbst nicht überlassen werden dürfen, Pflicht der Polizei sei. Darum dürfen die unteren Polizeibeamlen, die vom Gesetz selber zu den nächsten Verteidigern und Beschützern der Bürger bestimmt seien, bei der Festnahme und Einlieferung eines Betrunkenen auf die Polizeiwache sich nicht nur nicht grob oder unmenschlich ihnen gegenüber benehmen, sondern sie müssen im Gegenteil alles, was in ihren Kräften steht, tun, um die Personen, die sie zur Überwachung bis zur erfolgten Ernüchterung einliefern, zu schützen. Der Befehl macht die unteren Polizeibeamten darauf aufmerksam, dass nur ein solch vernünftiges und gesetzliches Verhalten zu ihren Dienstpflichten ihnen das Recht gibt, auf das Vertrauen und die Achtung der Bevölkerung zu rechnen, während umgekehrt jede Willkür und grausame Behandlung Betrunkener durch Polizeibeamte oder irgendwelche sonstigen gewaltsamen Handlungen, die mit der Pflicht der Polizeibeamten, die ein Muster an anständigem Benehmen und guten Sitten zu sein haben, unvereinbar sind, unvermeidlich strenge Bestrafung durch das Gesetz nach sich ziehen muss, und dass Polizeibeamte, die sich solcher Handlungen schuldig machen, ohne jede Nachsicht vor Gericht gestellt werden müssen, – Der Entwurf einer Zeichnung für eine satirische Zeitschrift: der von der Anklage des Mordes freigesprochene Polizeiwachtmeister liest den Befehl, demzufolge er als Beispiel anständigen Benehmens und guter Sitten zu dienen hat!

4 Gemeint sind die Reformen der Jahre 1861–1865: die „Befreiung" der Bauern aus der Leibeigenschaft, verschiedene Reformen in der Gesetzgebung, in den Städteverwaltungen, Semstwos usw. Die Red.

C Die liberalen Anhänger des Geschworenengerichtes verneinen oft, wenn sie in der legalen Presse gegen die Reaktionäre polemisieren, in kategorischer Weise die politische Bedeutung des Geschworenengerichts und bemühen sich zu beweisen, dass sie keineswegs aus politischen Erwägungen heraus für die Teilnahme von Vertretern der Gesellschaft am Gericht Stellung nehmen. Zum Teil kann das zweifellos von jener politischen Beschränktheit herrühren, an der sehr oft gerade Juristen kranken, obwohl sie sich speziell mit „Staatswissenschaften" beschäftigen. Hauptsächlich erklärt sich das jedoch aus der Notwendigkeit, in der Äsopssprache zu sprechen, aus der Unmöglichkeit, offen ihre Sympathien für die Verfassung zum Ausdruck zu bringen.

D Niemand aber hatte daran gedacht, die Sache möglichst rasch vor Gericht zu bringen. Trotz der außerordentlichen Einfachheit und Klarheit der Sache wurden die Vorfälle des 20. April 1899 erst am 23. Januar 1901 vor Gericht behandelt. Ein schnelles, gerechtes und gnädiges Gericht!

E Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als die Zeitungen noch eine Bestätigung für die Richtigkeit dieser Behauptung brachten. Am anderen Ende Russlands, in Odessa, einer Stadt, die als Hauptstadt gilt, sprach der Friedensrichter einen gewissen M. Klinkow frei, der auf Grund des Protokolls des Wachtmeisters Sadukow angeklagt war, während seiner Haft im Revier Exzesse begangen zu haben. Vor Gericht erklärten der Angeklagte und vier Zeugen folgendes: Sadukow hatte M. Klinkow in betrunkenem Zustande festgenommen und zur Wache gebracht. Als Klinkow wieder nüchtern war, verlangte er seine Freilassung. Als Antwort darauf packte ihn ein Polizist am Kragen und fing an, ihn zu schlagen, dann kamen noch drei Polizisten und alle vier misshandelten ihn, schlugen ihn ins Gesicht, auf den Kopf, in die Brust und in die Hüften. Unter dem Hagel von Schlägen stürzte Klinkow blutüberströmt zu Boden, und darauf begann man den am Boden Liegenden mit noch größerer Rohheit zu schlagen. Wie Klinkow und seine Zeugen aussagten, war es Sadukow, der die Misshandlung leitete und die Polizisten anfeuerte. Der misshandelte Klinkow verlor das Bewusstsein und als er wieder zu sich kam, wurde er freigelassen. Klinkow ging sofort zu einem Arzt, der ihn untersuchte. Der Friedensrichter erteilte Klinkow den Rat, sich beim Staatsanwalt über Sadukow und die Polizisten zu beschweren, worauf Klinkow antwortete, dass er bereits beim Staatsanwalt Beschwerde eingereicht habe und 20 Zeugen der Misshandlungen stellen werde.

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass es M. Klinkow nicht gelingen wird, ein Gerichtsverfahren gegen die Polizisten wegen Misshandlung und ihre Verurteilung zu erreichen. Er ist doch nicht totgeschlagen worden. Sollten sie aber wider Erwarten doch abgeurteilt werden, so werden die Strafen ganz belanglos sein.

5 Ein Zitat aus dem Artikel Gljeb Uspenskis: „Fedor Michailowitsch Reschetnikow".

6 Juduschka – Held des Romans „Die Herren Golowjew" von Saltykow-Schtschedrin; Typus eines Gutsbesitzers, der mit heuchlerischem Lächeln die größten Niederträchtigkeiten begeht. Die Red.

F Bestimmung der Weinsorten nach dem Geschmack.

G Vor kurzem haben z. B. die Zeitungen mitgeteilt, dass im Gouvernement Archangelsk einige Ortschaften noch im Jahre 1899 Petitionen eingereicht hatten, dass man bei ihnen keine Branntweinläden eröffnen soll. Die Regierung, die dort gerade jetzt das Branntweinmonopol einführt antwortete natürlich abschlägig – offenbar aus Besorgnis um die Nüchternheit des Volkes?

H Wir wollen schon gar nicht davon reden, welche Menge Geld die Bauerngemeinden infolge der Staatsmonopole verloren haben. Früher mussten die Besitzer der Schnapsläden ihnen Gebühren zahlen. Der Fiskus hat ihnen diese Einnahmequelle genommen, ohne sie auch nur mit einer einzigen Kopeke dafür zu entschädigen! In seinem interessanten Buche „Das hungernde Russland" (Reiseeindrücke, Beobachtungen und Untersuchungen von C. Lehmann und Parvus. Stuttgart, Dietz-Verlag, 1900) bezeichnet Parvus das mit Recht als einen Raub an den Dorfkassen. Er teilt mit, dass nach den Berechnungen des Gouvernements-Semstwo von Samara der Verlust, den die Bauerngemeinden dieses Gouvernements innerhalb von drei Jahren (1895 bis 1897) infolge der Einführung des Branntweinmonopols erlitten haben, 3.150.000 Rubel betrug!

I Gesperrt vom Verfasser. Siehe „Petersburger Nachrichten", Nr. 239, vom 1. September 1900

7 Blagodatnoje = segenbringend, gesegnet. Die Red.

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