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Wladimir I. Lenin 19011219 Unterhaltung mit den Verteidigern des Ökonomismus

Wladimir I. Lenin: Unterhaltung mit den Verteidigern des Ökonomismus

[Iskra" Nr. 12, 6./19. Dezember 1901. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 95-103]

Wir bringen hier in seinem vollständigen Text den uns von einem unserer Vertreter übermittelten

Brief an die russischen sozialdemokratischen Blätter

Um den Vorschlag zu beantworten, unsere Meinung über die ,Iskra' zu äußern, den die in der Verbannung lebenden Genossen machten, haben wir beschlossen, auseinanderzusetzen, aus welchen Gründen wir mit diesem Blatt nicht einverstanden sind.

Das Erscheinen eines besonderen, speziell den Fragen des politischen Kampfes gewidmeten sozialdemokratischen Organs halten wir für vollkommen zeitgemäß, doch glauben wir nicht, dass die ,Iskra', die diese Aufgabe auf sich genommen hat, sie in befriedigender Weise gelöst hat. Ihr Hauptmangel, der sich wie ein roter Faden durch alle ihre Spalten zieht und alle übrigen großen und kleinen Mängel bedingt, besteht darin, dass die ,Iskra' den Ideologen der Bewegung sehr viel Raum gewährt im Sinne ihres Einflusses auf diese oder jene Richtung. Gleichzeitig aber nimmt die ,Iskra' wenig Rücksicht auf die materiellen Elemente der Bewegung und die materiellen Verhältnisse, aus deren Wechselwirkung ein bestimmter Typus der Arbeiterbewegung geschaffen und ihr Weg bestimmt wird, von dem alle Bemühungen der Ideologen, mögen diese von den besten Theorien und Programmen inspiriert sein, sie nicht abbringen können.

Dieser Mangel der ,Iskra' fällt besonders scharf auf, wenn man sie mit dem ,Juschny Rabotschi' vergleicht, der, ebenso wie die ,Iskra' das Banner des politischen Kampfes hochhält, diesen Kampf aber in Verbindung bringt mit der vorangegangenen Phase der südrussischen Arbeiterbewegung. Eine solche Art der Fragestellung ist der ,Iskra' vollkommen fremd. Sie setzt sich das Ziel, den ,Funken'1 zu einem großen Brand zu entfachen, vergisst aber, dass hierzu der entsprechende Brennstoff und günstige äußere Bedingungen notwendig sind. Mit beiden Händen die ,Ökonomisten' abwehrend, lässt die ,Iskra' außer Betracht, dass gerade durch deren Tätigkeit die Beteiligung der Arbeiter an den Februar- und Märzereignissen vorbereitet worden ist, die die ,Iskra' mit besonderem Eifer hervorhebt und allem Anschein nach bedeutend übertreibt. Der Tätigkeit der Sozialdemokratie am Ende der neunziger Jahre steht die ,Iskra' ablehnend gegenüber, sie sieht nicht ein, dass damals die Bedingungen für eine andere Arbeit, als den Kampf um geringfügige Forderungen, nicht vorhanden waren, und dass dieser Kampf von gewaltiger erzieherischer Bedeutung gewesen ist. Die ,Iskra', die diese Periode und diese Richtung der Tätigkeit der russischen Sozialdemokratie ganz falsch und unhistorisch einschätzt, identifiziert deren Taktik mit der Taktik Subatows; sie sieht nicht den Unterschied zwischen dem ,Kampf um geringfügige Forderungen', der die Arbeiterbewegung erweitert und vertieft, und ,kleinen Zugeständnissen', die das Ziel haben, jeden Kampf und jede Bewegung zu lähmen.

Vollkommen durchtränkt von sektiererischer Unduldsamkeit, die für die Ideologen der Säuglingsperiode der sozialen Bewegungen so charakteristisch ist, ist die „Iskra" bereit, jede Abweichung von ihrer eigenen Meinung nicht nur als ein Abweichen von den sozialdemokratischen Prinzipien, sondern sogar als einen Übergang ins Feindeslager zu brandmarken. So z. B. ihr äußerst unanständiger und die strengste und rücksichtsloseste Verurteilung verdienender Ausfall gegen die ,Rabotschaja Mysl', der sie den Artikel über Subatow gewidmet hat und auf deren Einfluss sie seine Erfolge bei einem gewissen Teil der Arbeiter zurückführt.2 In ihrem ablehnenden Verhalten gegenüber den anderen sozialdemokratischen Organisationen, die über den Verlauf und die Aufgaben der russischen Arbeiterbewegung anders denken als sie, vergisst die ,Iskra' manchmal im Eifer der Polemik die Wahrheit und schreibt, einzelne, wirklich unglückliche Ausdrücke heraus greifend, ihren Gegnern Ansichten zu, die diese nicht vertreten, unterstreicht sie gewisse Meinungsverschiedenheiten, die oft ganz unwesentlich sind, verschweigt sie hartnäckig die zahlreichen Berührungspunkte in den Anschauungen. Wir haben damit das Verhalten der ,Iskra' zum ,Rabotscheje Djelo' im Auge.

Dieser ihr außerordentlicher Hang zur Polemik ist vor allem die Folge der Überschätzung der Rolle der ,Ideologie' (der Programme, Theorien…) in der Bewegung, und ist zum Teil auch ein Widerhall der Zwietracht, die innerhalb der russischen Emigrantenkreise im Westen entstanden ist und von der diese durch eine Reihe polemischer Broschüren und Artikel die Welt in Kenntnis zu setzen sich beeilten. Unseres Erachtens haben all diese Meinungsverschiedenheiten fast gar keinen Einfluss auf den tatsächlichen Verlauf der russischen sozialdemokratischen Bewegung; es sei denn, dass sie sie schädigen, denn sie tragen eine unerwünschte Spaltung in den Kreis der in Russland wirkenden Genossen hinein, und darum sind wir gezwungen, dem polemischen Eifer der ,Iskra' ablehnend gegenüberzustehen, besonders wenn sie über den Rahmen des Anstands hinausgeht.

Der gleiche Hauptfehler der ,Iskra' ist die Ursache ihrer Inkonsequenz in der Frage der Stellung der Sozialdemokratie zu den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und Richtungen. Mit Hilfe theoretischer Berechnungen hat sie die Frage des sofortigen Übergangs zum Kampf gegen den Absolutismus gelöst, und da sie wahrscheinlich die ganze Schwierigkeit dieser Aufgabe für die Arbeiter beim jetzigen Stand der Dinge empfindet, aber keine Geduld hat, die weitere Sammlung der Kräfte für diesen Kampf abzuwarten, beginnt die ,Iskra', in den Reihen der Liberalen und Intellektuellen Verbündete zu suchen, und daher verlässt sie oft den Klassenstandpunkt, vertuscht die Klassengegensätze und stellt die gemeinsame Unzufriedenheit mit der Regierung in den Vordergrund, obgleich die Ursachen und der Grad dieser Unzufriedenheit bei den „Verbündeten" sehr verschieden sind. So z. B. das Verhalten der ,Iskra' gegenüber den Semstwos. Die Frondeurausfälle der Semstwos, die oft hervorgerufen werden durch die – im Vergleich zur Industrie – ungenügende Berücksichtigung ihrer Wünsche in Bezug auf Agrarangelegenheiten durch die Regierung, versucht die ,Iskra', zur Flamme des politischen Kampfes zu schüren.und sie verspricht den Adligen, die durch die Almosen der Regierung nicht befriedigt sind, die Hilfe der Arbeiterklasse, ohne mit einem Wort auf den Klassengegensatz zwischen diesen Bevölkerungsschichten einzugehen. Wir können wohl zugeben, dass man vom Erwachen des Semstwowesens sprechen und auf die Semstwos hinweisen kann, als auf ein Element, das gegen die Regierung kämpft, doch muss das in klarer und deutlicher Form geschehen, damit kein Zweifel über den Charakter einer möglichen Verständigung zwischen uns und diesen Elementen aufkommen kann. Die ,Iskra' aber stellt die Frage des Verhaltens zu den Semstwos so, dass dadurch unseres Erachtens das Klassenbewusstsein nur verdunkelt werden kann, denn sie stellt sich hier, ebenso wie die Prediger des Liberalismus und verschiedener kultureller Bestrebungen, in einen Gegensatz zu der Hauptaufgabe der sozialdemokratischen Literatur, einer Aufgabe, die in der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und der Klarlegung der Klasseninteressen besteht, und nicht in der Verdunkelung ihres Antagonismus. Ebenso ist das Verhalten der ,Iskra' zur Studentenbewegung. In anderen Artikeln dagegen verurteilt die ,Iskra' sehr scharf jegliches ,Kompromiss' und verteidigt z. B. das unduldsame Verhalten der Guesdisten3.

Ohne auf andere weniger wichtige Mängel und Fehlgriffe der ,Iskra' einzugehen, halten wir es zum Schluss für unsere Pflicht, zu bemerken, dass wir durch unsere Kritik die Bedeutung, die die ,Iskra' haben kann, absolut nicht herabsetzen wollen, und dass wir ihren guten Seiten gegenüber die Augen nicht verschließen. Wir begrüßen sie als politische sozialdemokratische Zeitung in Russland; wir betrachten als ihr großes Verdienst die glückliche Klärung der Frage des Terrors, der sie zur rechten Zeit einige Artikel gewidmet hat. Schließlich können wir nicht umhin, die in der illegalen Presse so seltene musterhafte literarische Ausdrucksweise der ,Iskra', ihr regelmäßiges Erscheinen und den Überfluss an frischem und interessantem Material anzuerkennen."

Im September 1901

Genossen“

In Bezug auf diesen Brief wollen wir vor allem sagen, dass wir die Aufrichtigkeit und Offenherzigkeit seiner Verfasser von ganzem Herzen begrüßen. Es ist seit langem Zeit, aufzuhören, Versteck zu spielen, sein ökonomisches „Credo" zu verheimlichen (wie es ein Teil des Odessaer Komitees tut, von dem sich die „Politiker" losgelöst haben) oder zu erklären – der Wahrheit zum Hohn –, dass gegenwärtig „keine einzige sozialdemokratische Organisation des Ökonomismus beschuldigt werden könne" (Broschüre „Zwei Konferenzen", herausgegeben vom „Rabotscheje Djelo", S. 32). Und jetzt zur Sache.

Der Hauptfehler der Verfasser des Briefes ist vollkommen der gleiche, in den auch das „Rabotscheje Djelo" verfällt (siehe besonders Nr. 10). Es herrscht bei ihnen vollkommene Unklarheit in der Frage der Wechselbeziehungen zwischen den „materiellen" (spontanen, wie sich „Rab. Djelo" ausdrückt) und den ideologischen (zielbewussten, „nach einem Plane" wirkenden) Elementen der Bewegung. Sie verstehen nicht, dass der „Ideologe" nur dann die Bezeichnung Ideologe verdient, wenn er der spontanen Bewegung voran marschiert, ihr den Weg zeigt, wenn er es versteht, früher als die anderen alle theoretischen, politischen, taktischen und organisatorischen Fragen zu lösen, auf die die „materiellen Elemente" der Bewegung mit spontaner Kraft stoßen. Um tatsächlich „auf die materiellen Elemente der Bewegung Rücksicht zu nehmen", ist es notwendig, sich ihnen gegenüber kritisch zu verhalten, muss man verstehen, auf die Gefahren und Mängel der spontanen Bewegung hinzuweisen, muss man verstehen, die Spontaneität auf das Niveau des Bewusstseins zu heben. Wenn man aber sagt, dass die Ideologen (d. h. die zielbewussten Führer) die Bewegung nicht vom Weg abbringen können, der durch die Wechselwirkung von Verhältnissen und Elementen bestimmt werde, so heißt das die Binsenwahrheit vergessen, dass das Bewusstsein an dieser Wechselwirkung und dieser Bestimmung beteiligt ist. Die katholischen und die monarchistischen Arbeiterverbände Europas sind ebenfalls das notwendige Resultat der Wechselwirkung von Verhältnissen und Elementen, nur ist an dieser Wechselwirkung das Bewusstsein der Pfaffen und der Subatows beteiligt, und nicht das Bewusstsein von Sozialisten. Die theoretischen Ansichten der Verfasser des Briefes (wie auch des „Rab. Djelo") sind kein Marxismus, sondern eine Parodie auf ihn, von der unsere „Kritiker" und die Bernsteinianer soviel Aufhebens machen, die es nicht verstehen, die spontane Evolution mit bewusster revolutionärer Tätigkeit zu verbinden.

Diese tiefgehende theoretische Verirrung führt im gegenwärligen Moment unvermeidlich zu einem gewaltigen taktischen Fehler, der der russischen Sozialdemokratie schon unberechenbaren Schaden zugefügt hat und weiterhin zufügt. Es handelt sich darum, dass der spontane Aufstieg sowohl der Arbeitermasse als auch (dank ihrem Einflüsse) anderer gesellschaftlicher Schichten in den letzten Jahren mit erstaunlicher Geschwindigkeit vor sich geht. Die „materiellen Elemente" der Bewegung sind selbst im Vergleich zu 1898 riesenhaft gewachsen, aber die zielbewussten Führer (die Sozialdemokraten) bleiben hinter diesem Wachstum zurück. Darin liegt der Hauptgrund der Krise, die die russische Sozialdemokratie durchmacht. Der (spontanen) Massenbewegung fehlen die theoretisch gut vorbereiteten und daher gegen alle Schwankungen gesicherten „Ideologen", es fehlen ihr die Führer, die einen so weiten politischen Gesichtskreis, eine solche revolutionäre Energie, ein solches organisatorisches Talent hätten, dass sie fähig wären, auf der Grundlage der neuen Bewegung eine kampffähige politische Partei zu schaffen.

Das alles wäre aber nur halb so schlimm. Das theoretische Wissen, die politische Erfahrung, die organisatorische Geschicklichkeit, – das alles sind Dinge, die erworben werden können. Wenn nur der Wille, zu lernen und die erforderlichen Eigenschaften in sich zu erziehen, vorhanden ist. Aber seit Ende 1897 und insbesondere seit dem Herbst 1898 haben in der russischen Sozialdemokratie Leute und Organe ihr Haupt erhoben, die diesem Mangel gegenüber nicht nur die Augen verschließen, sondern ihn noch für eine besondere Tugend erklären, die die Anbetung und die knechtische Ergebenheit gegenüber der Spontaneität zu einer Theorie erheben, die begonnen haben, zu predigen, die Sozialdemokraten dürften nicht an der Spitze der Bewegung marschieren, sondern müssten ihr nachhinken. (Zu diesen Organen gehörte nicht nur die „Rab. Mysl", sondern auch das „Rab. Djelo", das mit der „Stadientheorie" begonnen hat und schließlich bei der grundsätzlichen Verteidigung der Spontaneität, der „Vollberechtigung der Bewegung der Gegenwart", der „Taktik als Prozess" usw. angelangt ist.)

Das war nun schon ganz schlimm. Das bedeutete die Bildung einer besonderen Richtung, die man als Ökonomismus (im weiten Sinne des Wortes) zu bezeichnen pflegt und deren Hauptmerkmal in der mangelnden Erkenntnis der Rückständigkeit und selbst in deren Verteidigung besteht, d. h., wie wir bereits erklärt haben, im Zurückbleiben der zielbewussten Führer hinter dem spontanen Aufschwung der Massen. Diese Richtung wird charakterisiert: in grundsätzlicher Beziehung durch die Verflachung des Marxismus und die Hilflosigkeit gegenüber der modernen „Kritik", dieser neuesten Abart des Opportunismus; in politischer Beziehung – durch das Bestreben, die politische Agitation und den politischen Kampf zu beschränken oder sie auf Kleinigkeiten zu richten, durch das mangelnde Verständnis für die Tatsache, dass die Sozialdemokratie, wenn sie nicht die Führung der gesamten demokratischen Bewegung in ihre Hände nimmt, nicht imstande sein wird, den Absolutismus zu stürzen; in taktischer Beziehung – durch die vollkommen mangelnde Sicherheit („Rab. Djelo" stand im Frühjahr dem „neuen" Problem des Terrors unentschlossen gegenüber, und erst ein halbes Jahr später, nach einer Reihe von Schwankungen, nahm es in einer sehr zweideutigen Resolution4 gegen ihn Stellung, wie immer, der Bewegung nachhinkend); in organisatorischer Beziehung – durch das mangelnde Verständnis für die Tatsache, dass der Massencharakter der Bewegung unsere Pflicht, eine starke und zentralisierte Organisation der Revolutionäre zu schaffen, die fähig wäre, sowohl den vorbereitenden Kampf als auch jeden unerwarteten Ausbruch und schließlich den letzten entscheidenden Überfall zu führen, nicht nur nicht verringert, sondern im Gegenteil steigert.

Diese Richtung haben wir bekämpft, und wir werden auch weiterhin einen unversöhnlichen Kampf gegen sie führen. Die Verfasser des Briefes aber scheinen ihr selber anzugehören. Sie weisen darauf hin, dass der wirtschaftliche Kampf die Teilnahme der Arbeiter an Demonstrationen vorbereitet hat. Jawohl, und gerade wir haben über diese Vorbereitung früher und gründlicher als alle anderen unser Urteil abgegeben, als wir bereits im Dezember 1900 (Nr. 1) gegen die Stadientheorie Stellung nahmen, als wir im Februar (Nr. 2), sofort nach der Zwangsrekrutierung der Studenten und noch vor Beginn der Demonstrationen, die Arbeiter aufforderten, den Studenten zu Hilfe zu kommen. Die Februar- und Märzereignisse haben die Ängste und die Befürchtungen der „Iskra" nicht widerlegt (wie Martynow – „Rab. Djelo", Nr. 10, S. 53 – glaubt, der dadurch sein absolut mangelndes Verständnis für die Dinge offenbart), sondern sie vollkommen bestätigt, denn die Führer haben sich im spontanen Aufschwung der Massen als Nachzügler erwiesen, sie waren nicht vorbereitet für die Erfüllung ihrer Pflichten als Führer. Diese Vorbereitung ist auch jetzt noch sehr unvollkommen, und darum muss alles Gerede über die „Überschätzung der Rolle der Ideologie" oder der Rolle des bewussten Elementes im Vergleich zum spontanen u. a. m. in der Praxis den schädlichsten Einfluss auf unsere Partei ausüben.

Von ebenso schädlicher Wirkung ist das Gerede darüber, dass es – angeblich im Interesse des Klassenstandpunktes – notwendig sei, das Gemeinsame in der Unzufriedenheit verschiedener Bevölkerungsschichten mit der Regierung möglichst wenig zu betonen. Wir sind, im Gegenteil, stolz darauf, dass die „Iskra" in allen Schichten der Bevölkerung politische Unzufriedenheit weckt, und wir bedauern nur, dass uns das nicht in noch höherem Maße zu tun gelingt. Es ist nicht wahr, dass wir dabei den Klassenstandpunkt verwischen: die Verfasser des Briefes haben kein einziges konkretes Beispiel eines solchen Verwischens angeführt und werden hierfür auch kein Beispiel anführen können. Aber als Vorkämpferin der Demokratie muss die Sozialdemokratie – entgegen der Meinung des „Rab. Djelo", Nr. 10, S. 41 – die aktive Tätigkeit der verschiedenen oppositionellen Schichten leiten, ihnen die allgemeine politische Bedeutung ihrer privaten und beruflichen Zusammenstöße mit der Regierung klarmachen, sie zur Unterstützung der revolutionären Partei heranziehen; sie muss aus ihrer Mitte Führer heranbilden, die fähig sind, auf alle oppositionellen Schichten politisch einzuwirken. Jeder Verzicht auf diese Rolle, in welch hochtönende Phrasen über enge organische Verbindung mit dem proletarischen Kampf usw. er sich auch hüllen möge, ist gleichbedeutend mit einer neuen „Verteidigung der Rückständigkeit" der Sozialdemokraten, der Verteidigung ihres Zurückbleibens hinter dem Aufschwung der demokratischen Volksbewegung, ist gleichbedeutend mit der Übergabe der führenden Rolle in die Hände der bürgerlichen Demokratie. Mögen die Verfasser des Briefes darüber nachdenken, warum die Frühjahrsereignisse eine solche Belebung der revolutionären nichtsozialdemokratischen Strömungen hervorgerufen haben, anstatt die Autorität und das Prestige der Sozialdemokratie zu stärken!

Es ist uns auch nicht möglich, nicht Stellung zu nehmen gegen die erstaunliche Kurzsichtigkeit, die die Verfasser des Briefes in der Frage der Polemik und der inneren Zwietracht unter den Emigranten an den Tag legen. Sie wiederholen das alte Geschwätz, dass es „unanständig" sei, der „Rab. Mysl" einen Artikel über Subatow zu widmen. Werden sie etwa leugnen wollen, dass die Verbreitung des Ökonomismus den Herren Subatow ihre Aufgabe erleichtert? Nur das sagen wir, ohne irgendwie die Taktik der Ökonomisten mit der Taktik Subatows zu „identifizieren". Was aber die „Emigranten" betrifft (wenn die Verfasser des Briefes nicht so unverzeihlich sorglos wären in Bezug auf die Kontinuität der Ideen in der russischen Sozialdemokratie, so würde es ihnen bekannt sein, dass die Warnungen der „Emigranten", und zwar der Gruppe „Befreiung der Arbeit", in Bezug auf den Ökonomismus auf glänzendste Weise gerechtfertigt worden sind!5), so hört, wie der im Jahre 1852 unter den rheinischen Arbeitern wirkende Lassalle über die Streitigkeiten in der Londoner Emigration urteilte:

Noch weniger, glaube ich – schrieb er an Man – dürfte Deine Schrift über les grands hommes6 Kinkel, Ruge etc. … hier auf Polizeischwierigkeiten stoßen. Denn die Regierung sieht sogar, soviel ich glaube, das Erscheinen solcher Schriften nicht einmal ungern, weil sie meint, dass sich ,die Revolution dadurch in sich selbst zerfleische'. Dass die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, dass der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, dass sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig." (Aus einem Brief von Lassalle an Marx, vom 24. 6. 18527.)

Dies allen, jetzt so zahlreichen, schöngeistigen Gegnern der Schärfe, der Unduldsamkeit, des polemischen Eifers usw. zur Kenntnis!

Zum Schluss wollen wir noch bemerken, dass wir hier die strittigen Fragen nur kurz streifen konnten. Ihrer ausführlichen Analyse werden wir eine besondere Broschüre widmen, die, wie wir hoffen, in anderthalb Monaten erscheinen wird.


1 „Iskra", das russische Wort für „Funke". Die Red.

2 Die Verfasser des „Briefes an die russischen sozialdemokratischen Organe" haben den Artikel J. Martows: „Die neuen Freunde des russischen Proletariats" in Nr. 1 der „Iskra" (Dezember 1900) im Auge. Martow hatte seinen Artikel, der die Methoden der Subatowagenten im Kampf gegen die revolutionäre Bewegung der jüdischen Arbeiter und Handwerker in Westrussland beschreibt, der „Rabotschaja Mysl" gewidmet. Diese Widmung hatte große Entrüstung unter den Ökonomisten hervorgerufen.

3 Guesdisten – Anhänger des Marxisten J. Guesde, eine linke Richtung in der französischen sozialistischen Bewegung

4 In der Frage des Verhältnisses der Sozialdemokratie zum Terror offenbarte das „Rabotscheje Djelo" eine Reihe von Schwankungen. In dem Artikel „Ein historischer Wendepunkt" (Blatt des „Rabotscheje Djelo", Nr. 6 vom April 1901) erkannte die Redaktion des „Rabotscheje Djelo" die Frage des Terrors als eine für die Sozialdemokratie „völlig neue Frage" an, obwohl diese Frage in Wirklichkeit von den russischen Marxisten schon längst (in ablehnendem Sinne) beantwortet war. Auf der Junikonferenz von 1901 hielten die „Rabotscheje Djelo"-Leute es nicht für möglich, folgenden Resolutionsentwurf zu erörtern oder anzunehmen: „Wir halten es für notwendig, gegen die Ansicht entschieden Stellung zu nehmen, dass der Terror eine unvermeidliche Begleiterscheinung des politischen Kampfes in Russland sei. In der gegenwärtigen Zeit halten wir den terroristischen Kampf für unzweckmäßig." Die dritte Konferenz des Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten (Oktober 1901) nahm schließlich in die Instruktion für die Redaktion des „Rabotscheje Djelo" einen Punkt über den Terror in folgender, ziemlich verschwommenen und unklaren Formulierung auf: „Einen systematischen, offensiven Terror hält der Kongress für unzeitgemäß. Im Falle einzelner terroristischer Akte sind diese zur Entwicklung des politischen Bewusstsein des Proletariats zu benutzen."

5 In dem Brief, der vom November 1897 datiert ist, und der dann in der Broschüre „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten" (Genf, 1898) veröffentlicht wurde, wies P. Axelrod auf die Möglichkeit von zwei Perspektiven für die Entwicklung der russischen Sozialdemokratie hin:

1. Die Arbeiterbewegung läuft hauptsächlich auf den rein ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer hinaus, spielt keine selbständige revolutionäre Rolle und folgt im Kampfe für die politische Freiheit der bürgerlichen Intelligenz.

2. Die Arbeiterklasse organisiert sich zu einer sozialdemokratischen Partei und führt einen selbständigen Kampf für die politische Freiheit.

Axelrod warnte die Sozialdemokraten vor der Gefahr einer einseitigen Begeisterung für wirtschaftliche Streiks (erste Perspektive), die zu einer Schwächung der Rolle des Proletariats als der wichtigsten revolutionären Kraft im Kampf gegen den Absolutismus führen müsste.

6 Die Großen Männer. Die Red.

7 Der Brief Lassalles an Marx vom 24. Juni 1852 (aus Düsseldorf), aus dem Lenin das Motto zu „Was tun" entnommen hat, ist veröffentlicht in „Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels" 1849 bis 1862. Herausgegeben von Franz Mehring, Stuttgart, 1902.

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