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Wladimir I. Lenin 19020814 Revolutionäres Abenteurertum

Wladimir I. Lenin: Revolutionäres Abenteurertum1

[Iskra" Nr. 23, 1. August, und Nr. 24, 1. September 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 201-226]

I

Wir leben in stürmischen Zeiten, in denen die Geschichte Russlands mit Siebenmeilenschritten vorwärts marschiert, jedes Jahr bedeutet jetzt manchmal mehr als Jahrzehnte des Friedens. Die Bilanz des halben Jahrhunderts, das seit den Reformen verstrichen ist, wird gezogen, die Grundsteine für die sozialpolitischen Bauwerke werden gelegt, die lange, lange Zeit hindurch die Geschicke des ganzen Landes bestimmen werden. Die revolutionäre Bewegung wächst weiter mit erstaunlicher Geschwindigkeit an, – und „unsere Richtungen" reifen (und welken) ungewöhnlich rasch. Richtungen, die in der Klassenschichtung eines sich so rasch entwickelnden kapitalistischen Landes, wie Russland, feste Grundlagen haben, finden fast sofort ihren Platz und suchen tastend die ihnen verwandten Klassen heraus. Ein Beispiel: die Entwicklung des Herrn Struve, dem die revolutionären Arbeiter erst vor anderthalb Jahren die Maske des Marxisten vom Gesicht zu reißen vorschlugen und der jetzt schon selbst, ohne Maske, als Führer (oder Bedienter?) der liberalen Gutsbesitzer aufgetreten ist, die auf ihre Bodenständigkeit und nüchterne Politik stolz sind. Die Richtungen hingegen, die nur die traditionelle Unbeständigkeit der Anschauungen unbestimmter Zwischenschichten der Intelligenz zum Ausdruck bringen, bemühen sich, die Annäherung an bestimmte Klassen durch ein Verhalten zu ersetzen, das um so lärmender wird, je lauter die Ereignisse sprechen. „Wir lärmen, Freundchen, wir lärmen"2 – das ist die Losung vieler revolutionär gestimmter Leute, die von dem Wirbel der Ereignisse mitgerissen werden und weder theoretische noch soziale Stützpunkte haben.

Zu solchen „lärmenden" Richtungen gehören auch die „Sozialrevolutionäre", deren Gesicht immer klarer und klarer hervortritt. Und es wäre wirklich schon an der Zeit, dass sich das Proletariat dieses Gesicht aufmerksam ansehe, und sich vollkommen darüber klar werde, was diese Leute in Wirklichkeit sind, die um so nachdrücklicher seine Freundschaft suchen, je mehr sie fühlen, dass sie als besondere Richtung, ohne enge Verbindung mit der wirklich revolutionären Gesellschaftsklasse, keine Lebensmöglichkeit haben.

Drei Umstände haben vor allem dazu beigetragen, das Gesicht der Sozialrevolutionäre ins richtige Licht zu rücken. Erstens die Spaltung zwischen der revolutionären Sozialdemokratie und dem Opportunismus, der unter dem Banner „der Kritik des Marxismus" sein Haupt erhebt. Zweitens die Tötung Sipjagins durch Balmaschow und die Umkehr zum Terror in der Stimmung verschiedener Revolutionäre. Drittens und hauptsächlich die neueste Bewegung in der Bauernschaft, die die Leute, die zwischen zwei Stühlen zu sitzen gewohnt sind und kein Programm haben, gezwungen hat, post factum3 mit irgend etwas, was einem Programm ähnlich sieht, an die Öffentlichkeit zu treten. Untersuchen wir diese drei Umstände, jedoch mit dem Vorbehalt, dass man in einem Zeitungsaufsatz die Hauptpunkte der Beweisführung nur ganz kurz aufzeigen kann und dass wir wahrscheinlich in einer Zeitschrift oder in einer Broschüre noch Gelegenheit zu einer gründücheren Beweisführung haben werden.4

Erst in der zweiten Nummer des „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" sind die Sozialrevolutionäre mit einer grundsätzlich-theoretischen Erklärung an die Öffentlichkeit getreten, und zwar in dem nicht gezeichneten Redaktionsaufsatz: „Die internationale Entwicklung und die Krise des Sozialismus". Wir empfehlen diesen Aufsatz aufs Wärmste allen denen, die eine klare Vorstellung von der völligen theoretischen Grundsatzlosigkeit und Wankelmütigkeit (wie auch von der Kunst, diese mit einem Wortschwall zu verdecken) haben wollen. Der ganze Inhalt dieses höchst bemerkenswerten Aufsatzes kann in zwei Worten wiedergegeben werden. Der Sozialismus ist zu einer Weltmacht geworden, der Sozialismus (= Marxismus) spaltet sich jetzt infolge des Krieges der Revolutionäre (der „Orthodoxen") gegen die Opportunisten (die „Kritiker"). Wir Sozialrevolutionäre haben „natürlich" für den Opportunismus nie etwas übrig gehabt, aber wir springen und hüpfen vor Freude über die „Kritik", die uns von dem Dogma befreit hat, wir kämpfen ebenfalls für eine Revision dieses Dogmas, – und obwohl wir noch keine Spuren von Kritik (außer einer bürgerlich-opportunistischen) aufzuzeigen haben, obwohl wir noch nicht das Geringste revidiert haben, so muss uns doch gerade dieses Fehlen jeder Theorie als ganz besonderes Verdienst angerechnet werden. Es muss uns um so mehr als Verdienst angerechnet werden, da wir als Leute, die frei von jeder Theorie sind, ganz entschieden für eine allgemeine Vereinigung eintreten und alle grundsätzlich-theoretischen Streitigkeiten aufs Schärfste verurteilen. „Eine ernste revolutionäre Organisation, – versichert uns todernst der „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" (Nr. 2, S. 127), – würde auf die Lösung von gesellschaftswissenschaftlichen Streitfragen, die immer nur Streitigkeiten hervorrufen, verzichten, was natürlich die Theoretiker nicht hindern soll, deren Lösung zu suchen"5, – oder einfacher: der Schriftsteller mag schreiben, der Leser – lesen, wir aber werden uns, solange die Richter die Sache untersuchen, über den freigewordenen leeren Platz freuen.

Eine ernste Analyse dieser Theorie des Abweichens (aus Anlass der Auseinandersetzungen) vom Sozialismus kommt natürlich nicht in Frage. Unseres Erachtens verpflichtet die Krise des Sozialismus alle halbwegs ernsten Sozialisten gerade dazu, der Theorie gesteigerte Aufmerksamkeit zuzuwenden, – entschlossener eine streng bestimmte Haltung einzunehmen, sich von Schwankenden und Unzuverlässigen schärfer abzugrenzen. Nach der Meinung der Sozialrevolutionäre aber ist uns Russen, da „sogar die Deutschen" sich spalten und auseinander laufen, geradezu von Gott geboten, darauf stolz zu sein, dass wir selbst nicht wissen, wohin wir treiben. Nach unserer Meinung nimmt das Fehlen einer Theorie einer revolutionären Richtung die Daseinsberechtigung und verurteilt sie unweigerlich, früher oder später, zum politischen Bankrott. Nach Meinung der Sozialrevolutionäre aber ist das Fehlen einer Theorie eine sehr gute, „für die Vereinigung" ganz besonders günstige Sache. Wir werden uns, wie man sieht, mit ihnen nicht verständigen können, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Eine Hoffnung ist vorhanden: vielleicht wird Herr Struve sie zur Vernunft bringen, der ebenfalls (nur etwas ernster) von der Beseitigung des Dogmas spricht und der meint, dass es „unsere" Sache (wie auch die Sache jeder Bourgeoisie, die sich an das Proletariat wendet) sei, nicht zu spalten, sondern zu vereinigen. Werden die Sozialrevolutionäre mit Hilfe des Herrn Struve nicht doch noch einmal einsehen, welche wirkliche Bedeutung ihr Standpunkt der Befreiung vom Sozialismus zum Zwecke der Vereinigung und ihre Auffassung der Vereinigung aus Anlass der Befreiung vom Sozialismus hat?

Gehen wir zum zweiten Punkt über, zur Frage des Terrors.

Die Sozialrevolutionäre, die den Terror verteidigen, dessen Untauglichkeit durch die Erfahrung der russischen revolutionären Bewegung so klar bewiesen ist, sind eifrigst bemüht zu erklären, dass sie den Terror nur zusammen mit der Arbeit in den Massen anerkennen, und dass darum die Argumente, mit denen die russischen Sozialdemokraten die Zweckmäßigkeit einer solchen Kampfmethode widerlegt haben (und zwar für lange Zeit), sich nicht auf sie beziehen. Hier wiederholt sich eine Geschichte, die der ihrer Einstellung zur „Kritik" sehr ähnlich sieht. Wir sind keine Opportunisten, – schreien die Sozialrevolutionäre, und legen gleichzeitig das Dogma des proletarischen Sozialismus – auf Grund keiner anderen als einer opportunistischen Kritik – ins Archiv. Wir wiederholen nicht die Fehler der Terroristen, wir lenken nicht ab von der Arbeit in den Massen, – versichern die Sozialrevolutionäre und empfehlen gleichzeitig der Partei aufs wärmste solche Aktionen, wie die Tötung Sipjagins durch Balmaschow, obwohl jeder gut weiß und sieht, dass dieser Terrorakt in gar keiner Verbindung mit den Massen stand und nach der Art, wie er durchgeführt wurde, auch in keiner Verbindung mit ihnen stehen konnte, – dass die Leute, die diesen Terrorakt ausführten, auch gar nicht auf irgendeine bestimmte Aktion oder Unterstützung durch die Masse gerechnet und gehofft hatten. Die Sozialrevolutionäre bemerken naiverweise nicht, dass ihre Neigung zum Terror ursächlich aufs Engste mit der Tatsache zusammenhängt, dass sie von Anfang an abseits von der Arbeiterbewegung standen und auch weiter abseits von ihr stehen, ohne auch nur bestrebt zu sein, die Partei der revolutionären Klasse zu werden, die ihren Klassenkampf führt. Eifriges Schwören veranlasst häufig, aufzuhorchen und die innere Wahrheit dessen anzuzweifeln, was eine scharfe Beize erfordert. Und ich muss häufig an die Worte denken: wie werden sie des Schwörens nicht müde? – wenn ich die Beteuerungen der Sozialrevolutionäre lese: wir drängen durch den Terror die Arbeit unter den Massen nicht in den Hintergrund. Beteuern das doch dieselben Leute, die von der sozialdemokratischen Bewegung, die die Massen tatsächlich auf die Beine bringt, bereits abgerückt sind und auch weiterhin von ihr abrücken, wobei sie sich an Bruchstücke bald der einen bald der andern Theorien klammern.

Als ausgezeichnete Erläuterung des Gesagten kann das von der „Partei der Sozialrevolutionäre" herausgegebene Flugblatt vom 3. April 1902 dienen. Es ist die lebendigste, den unmittelbaren Führern am nächsten stehende, zuverlässigste Quelle. „Die Stellung zur Frage des terroristischen Kampfes deckt sich" in diesem Flugblatt nach dem wertvollen Zeugnis der „Rewoluzionnaja Rossija" (Nr. 7, S. 24)6* „vollständig mit der Ansicht der Partei."

Das Flugblatt vom 3. April ahmt mit sklavischer Treue die Schablone der „neuesten" Beweisführung der Terroristen nach. Vor allem fallen einem die Worte ins Auge: „Wir rufen zum Terror auf, nicht um durch ihn die Arbeit in den Massen zu ersetzen, sondern gerade wegen dieser Arbeit und gleichzeitig mit ihr." Sie fallen gerade darum ins Auge, weil sie in Lettern gedruckt sind, dreimal so groß wie die des übrigen Textes (ein Verfahren, das natürlich auch von der „Rewoluzionnaja Rossija" angewandt wird). In der Tat, das ist ja so einfach: man braucht nur „nicht um zu ersetzen, sondern gleichzeitig" in fetter Schrift zu drucken – und alle Einwände der Sozialdemokraten, alle Lehren der Geschichte fallen sofort in sich zusammen. Aber man versuche einmal, das ganze Flugblatt durchzulesen, und man wird sehen, dass die Beteuerungen in fetter Schrift den Namen der Masse nur missbrauchen. – Die Zeit, „da das Arbeitervolk aus der Finsternis hervortreten" und in „machtvoller Volksbewegung die eisernen Tore in Stücke schlagen wird" – „wird leider!!" (buchstäblich heißt es so: leider!) noch nicht so bald kommen und furchtbar ist der Gedanke, wie viele Opfer es dabei geben wird!" Bringen denn nicht diese Worte: „Leider noch nicht so bald" den vollständigen Mangel an Verständnis für die Massenbewegung und das Fehlen des Glaubens an sie zum Ausdruck? Ist diese Behauptung nicht absichtlich zum Hohn auf die Tatsache ersonnen, dass das Arbeitervolk sich bereits zu erheben beginnt? Und wenn schließlich sogar diese abgedroschene Behauptung ebenso begründet wäre, wie sie in Wirklichkeit unsinnig ist, – so würde sich aus ihr besonders handgreiflich die Untauglichkeit des Terrors ergeben, denn ohne das Arbeitervolk sind alle Bomben machtlos, offenkundig machtlos.

Man höre weiter:

Es ist, als ob jeder terroristische Schlag dem Absolutismus einen Teil seiner Kraft nähme und diese gesamte Kraft (!) auf die Seite der Kämpfer für die Freiheit würfe (!)." „Und wenn einmal der Terror planmäßig (!) durchgeführt werden wird, so ist es klar, dass unsere Waagschale schließlich das Übergewicht haben muss."

Ja, ja, es ist für jeden klar, dass wir es hier mit dem größten Vorurteil der Terroristen in seiner gröbsten Form zu tun haben: der politische Mord wird von selber „die Kraft auf die Seite der Kämpfer werfen"! Hier hat man einerseits die Lehre vom Hinüberwerfen der Kraft, andererseits – „nicht um zu ersetzen, sondern gleichzeitig" … Wie werden sie des Schwörens nicht müde?

Aber das ist erst der Anfang. Das Beste kommt noch. „Gegen wen soll der Schlag gerichtet sein?" fragt die Partei der Sozialrevolutionäre und antwortet: gegen die Minister, nicht gegen den Zaren, denn „der Zar wird es nicht bis zum äußersten kommen lassen" (I!, wie haben sie das erfahren??), außerdem „ist das auch leichter" (so heißt es wörtlich!): „Kein Minister kann sich im Schloss wie in einer Festung festsetzen." Diese Beweisführung schließt mit folgender Darlegung, die es verdient, als Muster der ..Theorie" der Sozialrevolutionäre verewigt zu werden:

Gegen die Volksmenge hat der Absolutismus Soldaten, gegen die revolutionären Organisationen – die geheime und öffentliche Polizei, was wird ihn aber retten …"

Wen ihn? Den Absolutismus? Der Verfasser hat, ohne es selbst zu merken, den Absolutismus bereits dem Minister gleichgesetzt, gegen den man den Schlag leichter führen kann!) …

vor einzelnen Personen oder kleinen Zirkeln, die unaufhörlich, ja selbst ohne von einander zu wissen (!!), sich zum Angriff vorbereiten und angreifen? Keine Macht wird gegen die Unauffindbarkeit helfen. Unsere Aufgabe ist also klar: jeden mächtigen Gewalthaber des Absolutismus durch das einzige Mittel zu beseitigen, das der Absolutismus uns gelassen hat (!), durch den Tod".

Wie viel Berge von Papier die Sozialrevolutionäre auch verschreiben mögen, um zu versichern, dass sie durch ihre Terrorpropaganda die Arbeit in den Massen nicht beiseite schieben, nicht desorganisieren, – es wird ihnen nicht gelingen, durch ihren Wortschwall die Tatsache zu widerlegen, dass die wirkliche Seelenverfassung des modernen Terroristen gerade durch das angeführte Flugblatt richtig wiedergegeben wird. Die Lehre vom Hinüberwerfen der Kraft findet ihre natürliche Ergänzung in der Lehre von der Unauffindbarkeit, einer Lehre, die nicht nur die ganze Erfahrung der Vergangenheit, sondern auch jeden gesunden Menschenverstand auf den Kopf stellt. Dass die einzige „Hoffnung" der Revolution die „Volksmenge" ist, dass gegen die Polizei einzig und allein eine revolutionäre Organisation kämpfen kann, die (in der Tat, und nicht mit Worten) diese Menge führt, das ist eine Binsenwahrheit. Es wäre eine Schande, das noch beweisen zu müssen. Und nur Leute, die alles vergessen und gar nichts hinzugelernt haben, konnten „umgekehrt" zu dem hanebüchenen, himmelschreienden Unsinn gelangen, zu behaupten, dass den Absolutismus die Soldaten vor der Menge, die Polizei vor den revolutionären Organisationen „retten" können, vor Einzelnen aber, die auf die Minister Jagd machen, könne nichts retten!!

Diese ungeheuerliche Behauptung, die, davon sind wir überzeugt, dazu bestimmt ist, berühmt zu werden, ist durchaus kein einfaches Kuriosum. Nein, sie ist darum lehrreich, weil sie den Grundfehler der Terroristen, den diese mit den Ökonomisten gemeinsam haben (vielleicht muss man schon sagen: mit den früheren Vertretern des seligen Ökonomismus?), entlarvt, indem sie ihn mutig ad absurdum führt. Dieser Fehler besteht, wir haben schon oft darauf hingewiesen, im Fehlen der Erkenntnis des Hauptmangels unserer Bewegung. Da die Bewegung sich ungewöhnlich rasch entwickelt hat, sind die Führer hinter den Massen zurückgeblieben, die revolutionären Organisationen haben sich der revolutionären Aktivität des Proletariats nicht gewachsen gezeigt, sie sind nicht fähig, den Massen voranzugehen und sie zu führen. Dass ein solches Missverhältnis besteht, daran wird kein gewissenhafter Mensch, der die Bewegung auch nur einigermaßen kennt, zweifeln. Wenn dem aber so ist, so ist klar, dass die heutigen Terroristen in Wirklichkeit umgekehrte Ökonomisten sind, die in die ebenso unkluge, aber entgegengesetzte Übertreibung verfallen. Zu einer Zeit, wo es den Revolutionären an Kräften und Mitteln zur Führung der sich bereits erhebenden Masse mangelt, zu einem Terror aufzurufen, der in der Organisierung von Anschlägen auf Minister durch einzelne Leute und unabhängig voneinander wirkende Zirkel besteht, – d. h. die Arbeit in den Massen nicht nur hemmen, sondern sie auch völlig desorganisieren. Wir Revolutionäre „sind gewohnt, uns schüchtern in einem Häuflein zu halten – lesen wir in dem Flugblatt vom 3. April – und sogar (NB) der neue kühne Geist, der seit den letzten zwei, drei Jahren zu spüren ist, hat bisher mehr die Stimmung der Masse als die Stimmung einzelner Leute gehoben". Diese Worte sagen ganz unabsichtlich viel Wahres. Und gerade diese Wahrheit schlägt die Propagandisten des Terrorismus aufs Haupt. Aus dieser Wahrheit zieht jeder denkende Sozialist den Schluss: man muss als entschlossener, kühner und organisierter Haufen handeln. Die Sozialrevolutionäre aber gelangen zu dem Ergebnis: „Schieß zu, unauffindbarer Einzelner, denn der Haufen wird leider noch nicht sobald schießen, und außerdem sind ja Soldaten gegen den Haufen vorhanden." Das ist wirklich ganz unsinnig, ihr Herren!

In dem Flugblatt fehlt auch nicht die Lehre vom exzitierenden Terror. „Jeder Zweikampf eines Helden weckt in uns allen den Geist des Kampfes und des Muts", sagt man uns. Wir aber wissen aus der Vergangenheit und sehen in der Gegenwart, dass nur neue Formen der Massenbewegung oder das Erwachen neuer Schichten der Massen zum selbständigen Kampf wirklich in allen den Geist des Kampfes und den Mut erwecken. Die Zweikämpfe aber, gerade soweit sie Zweikämpfe der Balmaschows bleiben, rufen unmittelbar nur eine rasch vorübergehende Sensation hervor, führen aber mittelbar zur Apathie, zum tatenlosen Abwarten des nächsten Zweikampfes. Man versichert uns weiter, dass „jeder Blitz des Terrors den Geist erleuchtet", was wir leider an der Partei der Sozialrevolutionäre, die den Terror propagiert, nicht wahrgenommen haben. Man tischt uns die Lehre von großer und kleiner Arbeit auf:

Wer mehr Kraft, mehr Möglichkeit und Entschlossenheit hat, der möge sich nicht mit kleiner (!) Arbeit zufrieden geben; er soll ein großes Werk suchen und sich ihm hingeben, – der Propaganda des Terrors unter den Massen (!), der Vorbereitung schwieriger (die Lehre von der Unauffindbarkeit ist schon vergessen!) … terroristischer Aktionen."

Nicht wahr, das ist außerordentlich klug: das Leben eines Revolutionärs hingeben für einen Racheakt an dem Schuft Sipjagin, an dessen Stelle der Schuft Plehwe tritt, – das ist große Arbeit. Die Massen aber zum Beispiel zu einer bewaffneten Demonstration vorbereiten, – das ist kleine Arbeit. Die „Rewoluzionnaja Rossija" setzt gerade das in Nr. 8 auseinander; die Zeitung erklärt, dass „es leicht sei", von bewaffneten Demonstrationen „als von der Sache einer unbestimmt fernen Zukunft zu schreiben und zu sprechen", „doch hat all dieses Gerede bisher nur einen theoretischen Charakter" gehabt.7 Wie gut kennen wir diese Sprache von Leuten, die frei sind von jedem Zwang fester sozialistischer Überzeugungen, von jeder lästigen Erfahrung aller Volksbewegungen! Das unmittelbar Handgreifliche und Aufsehenerregende der Ergebnisse verwechseln sie mit dem praktischen Zweck. Die Forderung, unbeugsam auf dem Klassenstandpunkt zu verharren und den Massencharakter der Bewegung zu wahren, ist für sie ein „unklares" „Theoretisieren". Klarheit heißt für sie: jedem Stimmungsumschwung sklavisch folgen und … und infolgedessen bei jedem Umschwung hilflos dastehen. Es beginnen Demonstrationen – und von diesen Leuten kommt ein blutrünstiger Wortschwall, ein Gerede über den Anfang vom Ende. Die Demonstrationen hören auf, sie lassen die Hände sinken und, ehe man noch die Schuhsohlen abgelaufen hat, beginnt schon das Geschrei: „das Volk wird leider noch nicht so bald" … Eine neue Gemeinheit der Zarenschergen – und es wird verlangt, dass man uns ein „bestimmtes" Mittel zeige, das als erschöpfende Antwort gerade auf diese Schandtat dienen könnte, ein Mittel, das ein sofortiges „Hinüberwerfen der Kraft" ermöglicht, und stolz verspricht man dieses Hinüberwerfen! Diese Leute verstehen nicht, dass allein schon das Versprechen des „Hinüberwerfens" der Kraft politisches Abenteurertum ist, und dass ihr Abenteurertum von ihrer Grundsatzlosigkeit herrührt.

Die Sozialdemokratie wird stets vor Abenteurertum warnen und unerbittlich die Illusionen entlarven, die unvermeidlich zu vollständiger Enttäuschung führen. Wir dürfen nicht vergessen, dass eine revolutionäre Partei nur dann ihren Namen verdient, wenn sie in der Tat die Bewegung der revolutionären Klasse leitet. Wir dürfen nicht vergessen, dass jede Volksbewegung außerordentlich mannigfaltige Formen annimmt, ständig neue Formen herausarbeitet, alte abstreift und Änderungen oder neue Verbindungen alter und neuer Formen erzeugt. Und es ist unsere Pflicht, an diesem Prozess der Herausarbeitung von Kampfmethoden und Kampfmitteln aktiv teilzunehmen. Als sich die Studentenbewegung zuspitzte, begannen wir die Arbeiter aufzurufen, den Studenten zu Hilfe zu kommen („Iskra" Nr. 2), ohne die Formen der Demonstrationen vorauszusagen, ohne uns von ihnen das sofortige Hinüberwerfen der Kraft, oder die Erleuchtung des Geistes, oder eine besondere Unauffindbarkeit zu versprechen. Als die Demonstrationen sich eingebürgert hatten, begannen wir zu ihrer Organisierung, zur Bewaffnung der Massen aufzurufen, stellten wir die Aufgabe der Vorbereitung des Volksaufstandes. Ohne auch nur im Geringsten die Gewalt und den Terror grundsätzlich abzulehnen, forderten wir die Arbeit an der Vorbereitung solcher Formen der Gewalt, die auf die unmittelbare Beteiligung der Massen berechnet sein und diese Beteiligung gewährleisten sollten. Wir verschließen unsere Augen nicht vor der Schwierigkeit dieser Aufgabe, aber wir werden tatkräftig und standhaft an ihr arbeiten, ohne uns durch die Einwände beirren zu lassen, dass das eine „unbestimmt ferne Zukunft" sei. Ja, ihr Herren, wir sind auch für die zukünftigen und nicht nur für die vergangenen Formen der Bewegung. Wir ziehen eine langwierige und schwierige Arbeit an dem, was eine Zukunft hat, der „leichten" Wiederholung dessen, was bereits von der Vergangenheit verurteilt worden ist, vor. Wir werden stets die Leute entlarven, die den Krieg gegen die Schablonen des Dogmas im Munde führen; die in Wirklichkeit aber nichts aufzuweisen haben als die Schablonen der veraltetsten und schädlichsten Theorien des Hinüberwerfens der Kraft, des Unterschieds zwischen großer und kleiner Arbeit und natürlich auch der Theorie des Zweikampfes.

Wie einst in den Schlachten der Völker ihre Führer im Zweikampf die Entscheidung herbeiführten, so werden auch die Terroristen im Zweikampf gegen den Absolutismus die Freiheit für Russland erringen."

So schließt das Flugblatt vom 3. April. Es genügt, solche Redensarten abzudrucken, um sie zu widerlegen.

Wer wirklich seine revolutionäre Arbeit in Verbindung mit dem Klassenkampf des Proletariats leistet, der weiß sehr gut, der sieht und fühlt, welche Menge unmittelbarer Forderungen des Proletariats (und der Volksschichten, die fähig sind, das Proletariat zu unterstützen) unbefriedigt bleiben. Der weiß, dass an einer ganzen Anzahl von Orten, in gewaltigen Gebieten das Arbeitervolk sich in den Kampf buchstäblich stürzen möchte, dass aber seine Begeisterung wegen des Mangels an Literatur und Führern, an Kräften und Mitteln der revolutionären Organisationen nutzlos verloren geht. Und wir befinden uns – wir sehen, dass es so ist – in demselben verfluchten fehlerhaften Kreis, der, wie ein böses Verhängnis, so lange auf der russischen Revolution gelastet hat. Einerseits geht die revolutionäre Begeisterung der nicht genügend aufgeklärten und unorganisierten Massen nutzlos verloren. Andererseits verpuffen nutzlos die Schüsse der „unauffindbaren Einzelnen", die den Glauben an die Möglichkeit, in Reih' und Glied zu marschieren, Hand in Hand mit der Masse zu arbeiten, verlieren.

Aber die Sache kann noch gutgemacht werden, Genossen! Der Verlust des Glaubens an die wirkliche Arbeit ist nur eine seltene Ausnahme. Die Begeisterung für den Terror ist nicht mehr als eine rasch vorübergehende Stimmung. Mögen sich die Reihen der Sozialdemokraten fester zusammenschließen, und wir werden die Kampforganisation der Revolutionäre und den Massenheroismus des russischen Proletariats zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschweißen!

Im nächsten Aufsatz werden wir das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre behandeln.

II

Die Stellung der Sozialrevolutionäre zur Bauernbewegung verdient ganz besondere Aufmerksamkeit. Gerade in der Agrarfrage haben sich stets sowohl die Vertreter des alten russischen Sozialismus als auch ihre liberal-volkstümlerischen Nachfolger und die in Russland zahlreichen Anhänger der opportunistischen Kritik, die lärmend versichern, dass der Marxismus in diesem Punkte durch die „Kritik" bereits endgültig aus seinen Stellungen vertrieben sei, für besonders stark gehalten. Und unsere Sozialrevolutionäre zerpflücken den Marxismus, sozusagen nach Strich und Faden: „Dogmatische Vorurteile … überlebte, vom Leben längst zerschlagene Dogmen die revolutionäre Intelligenz hat ihre Augen dem Dorf gegenüber geschlossen, die revolutionäre Arbeit in der Bauernschaft ist von der Orthodoxie verboten worden" usf. Es ist heutzutage Mode geworden, der Orthodoxie Eselsfußtritte zu versetzen. Zu welcher Kategorie aber muss man diejenigen, die die Eselsfußtritte austeilen, rechnen, wenn sie vor Beginn der Bewegung in der Bauernschaft nicht einmal Zeit gehabt haben, ihr eigenes Agrarprogramm zu entwerfen? Als die „Iskra" schon in Nr. 3 ihr Agrarprogramm umrissen hatte, konnte der „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" nur brummen: „Bei einer solchen Art der Fragestellung wird noch eine unserer Meinungsverschiedenheiten gründlich vertuscht"8, wobei die Redaktion des „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" das Pech gehabt hat, dass sie gerade die Fragestellung der „Iskra" („das Hineintragen des Klassenkampfes ins Dorf") gar nicht verstanden hat. Jetzt beruft sich die „Rewoluzionnaja Rossija" nachträglich auf die Broschüre „Eine aktuelle Frage", obwohl auch dort kein Programm enthalten ist, sondern nur eine Lobhudelei auf so „berühmte" Opportunisten, wie Hertz.

Jetzt aber treten dieselben Leute, die vor Beginn der Bewegung sowohl mit der „Iskra" als auch mit Hertz einverstanden waren, – am Tage nach dem Bauernaufstand mit einem Manifest „des Bauernbundes (!) der Partei der Sozialrevolutionäre" an die Öffentlichkeit, in dem auch nicht ein einziger Satz zu finden ist, der wirklich den Bauern aus dem Herzen gesprochen wäre, das nur wörtlich wiederholt, was man hundertmal bei den Volkstümlern, Liberalen und „Kritikern" gelesen hat … Man sagt, Tapferkeit könne Städte erobern. Das mag stimmen, ihr Herren Sozialrevolutionäre, aber nicht von einer solchen Tapferkeit zeugt euer lärmendes Tamtam.

Wir haben gesehen, dass der Haupt-„Vorzug" der Sozialrevolutionäre im Fehlen jeder Theorie besteht, ihre Hauptkunst – in der Fähigkeit, zu reden, um nichts zu sagen. Wenn man aber ein Programm geben will, muss man sich irgendwie äußern. Man muss z. B. „das Dogma der russischen Sozialdemokraten vom Ende der achtziger und Beginn der neunziger Jahre, dass es außer dem Stadtproletariat keine revolutionäre Kraft gibt", über Bord werfen. Was ist das doch für ein bequemes Wörtchen: „Dogma"! Es genügt, die Theorie des Gegners ein wenig zu entstellen, diese Entstellung mit dem Popanz des „Dogmas" unkenntlich zu machen, – und die Sache ist fertig!

Der ganze moderne Sozialismus, beginnend mit dem „Kommunistischen Manifest", stützt sich auf die nicht abzuleugnende Tatsache, dass die einzige wirklich revolutionäre Klasse der kapitalistischen Gesellschaft das Proletariat ist. Die übrigen Klassen können revolutionär sein und sind es auch manchmal, jedoch nur zum Teil und nur unter bestimmten Bedingungen. Es fragt sich nun, was man von Leuten denken soll, die diese Wahrheit in ein Dogma der russischen Sozialdemokraten einer bestimmten Zeit „verwandelt" haben und die versuchen, dem naiven Leser einzureden, dass dieses Dogma „ganz auf dem Glauben beruht, dass der offene politische Kampf in ferner Zukunft liege".

Gegen die Marxsche Lehre von der einzigen wirklich revolutionären Klasse der heutigen Gesellschaft stellen die Sozialrevolutionäre die Theorie der Dreieinigkeit auf: „Intelligenz, Proletariat und Bauern", womit sie ihre hoffnungslose Begriffsverwirrung enthüllen. Wenn man die Intelligenz dem Proletariat und der Bauernschaft entgegenstellt, so bedeutet das, dass man sie als eine bestimmte gesellschaftliche Schicht, als eine Gruppe von Personen betrachtet, die eine gesellschaftliche Stellung einnehmen, die ebenso bestimmt ist, wie die soziale Stellung der Lohnarbeiter und der Bauern. Als solche Schicht aber ist die russische Intelligenz gerade eine bürgerliche und kleinbürgerliche Intelligenz. In Hinsicht auf diese Schicht hat Herr Struve vollständig recht, wenn er seine Zeitung als Organ der russischen Intelligenz bezeichnet. Wenn man aber von den Intellektuellen spricht, die noch keine bestimmte gesellschaftliche Stellung eingenommen haben oder aber durch das Leben aus ihrer normalen Stellung bereits hinausgeworfen sind und auf die Seite des Proletariats übergehen, – so ist es völlig unsinnig, diese Intelligenz dem Proletariat entgegenzustellen. Wie jede andere Klasse der heutigen Gesellschaft, bringt das Proletariat nicht nur seine eigene Intelligenz hervor, sondern es gewinnt auch Anhänger aus der Zahl aller möglichen gebildeten Leute. Der Feldzug der Sozialrevolutionäre gegen das grundlegende „Dogma" des Marxismus beweist wieder einmal, dass die ganze Kraft dieser Partei von dem Häuflein jener russischen Intellektuellen dargestellt wird, die sich zwar vom Alten losgelöst, dem Neuen aber noch nicht angeschlossen haben.

Was die Bauernschaft anbelangt, so sind die Gedankengänge der Sozialrevolutionäre noch verworrener. Was ist schon allein eine solche Fragestellung wert: „Welche Gesellschaftsklassen treten überhaupt (!) stets (!!) für die bestehende … (die absolutistische nur? oder überhaupt die bürgerliche?) … Ordnung ein, beschützen sie und sind der Revolutionierung unzugänglich?" Eigentlich kann man auf diese Frage nur mit einer Frage antworten: welche Schichten der Intelligenz treten überhaupt stets für den bestehenden Gedankenwirrwarr ein, beschützen ihn und sind einer bestimmten sozialistischen Weltanschauung unzugänglich? Die Sozialrevolutionäre aber wollen auf eine unernste Frage eine ernste Antwort geben. Sie zählen zu „diesen" Klassen erstens die Bourgeoisie, denn deren „Bedürfnisse sind befriedigt". Dieses alte Vorurteil, dass die Bedürfnisse der russischen Bourgeoisie bereits soweit befriedigt seien, dass es bei uns keine bürgerliche Demokratie gebe und geben könne (vgl. „Wjestnik Russkoi Rewoluzii", Nr. 2, S. 132 u. 133) ist jetzt Gemeingut der Ökonomisten und Sozialrevolutionäre geworden. Noch einmal: Wird ihnen nicht vielleicht Herr Struve Vernunft beibringen?

Zweitens rechnen die Sozialrevolutionäre zu diesen Klassen die „kleinbürgerlichen Schichten", „deren Interessen individualistisch, nicht klassenmäßig bestimmt sind und sich nicht in die Formeln des reformerischen oder des revolutionären sozialpolitischen Programmes einfügen". Woher sie das nehmen, mag Allah wissen. Dass das Kleinbürgertum die bestehende Ordnung nicht überhaupt und stets verteidigt, sondern im Gegenteil häufig sogar gegen die Bourgeoisie (und zwar: wenn es sich dem Proletariat anschließt), sehr häufig aber gegen den Absolutismus revolutionär auftritt und fast immer sozial-reformerische Programme formuliert, das weiß jeder. Unser Verfasser hat einfach ein wenig „geräuschvoller" gegen das Kleinbürgertum geschwätzt, der „Lebensregel" folgend, die Turgenjew in einem seiner „Gedichte in Prosa" „einem alten Schlaufuchs" in den Mund legt: so laut als möglich über die Laster schimpfen, mit denen man selbst behaftet ist.9 Weil die Sozialrevolutionäre fühlen, dass als einzige soziale Grundlage für ihre Stellung zwischen zwei Stühlen wohl nur einige kleinbürgerliche Schichten der Intelligenz dienen können, darum schreiben sie von dem Kleinbürgertum so, als wäre dieser Ausdruck nicht die Bezeichnung einer gesellschaftlichen Kategorie, sondern einfach eine polemische Redewendung. Außerdem möchten sie gern die unangenehme Tatsache übergehen, dass sie die Zugehörigkeit der heutigen Bauernschaft, als Ganzes, zu den „kleinbürgerlichen Schichten" nicht verstehen. Wollt ihr nicht versuchen, uns einmal über diesen Punkt eine Antwort zu geben, ihr Herren Sozialrevolutionäre? Wollt ihr uns nicht sagen, warum ihr, wenn ihr Brocken der Theorie des russischen Marxismus wiederkäut (z. B. über die steigende Bedeutung der bäuerlichen Wanderarbeit), eure Augen gegenüber der Tatsache verschließt, dass derselbe Marxismus die kleinbürgerliche Struktur der russischen Bauernwirtschaft nachgewiesen hat? Wollt ihr uns nicht auseinandersetzen, wie es möglich sein soll, dass „Eigentümer oder Halbeigentümer" in der heutigen Gesellschaft nicht zu den kleinbürgerlichen Schichten gehören?

Nein, die Hoffnung ist vergeblich! Die Sozialrevolutionäre werden nicht antworten, werden uns nichts Sachliches sagen oder auseinandersetzen, denn sie haben sich (wiederum ebenso wie die Ökonomisten) ein für allemal die Taktik zu eigen gemacht, sich, was die Theorie anbelangt, auf das Verneinen zu beschränken. Die „Rewoluzionnaja Rossija" winkt in der Richtung des „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" – das sei seine Sache (vgl. Nr. 4, Antwort an die „Sarja"10), der „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" aber erzählt den Lesern von den Heldentaten der opportunistischen Kritik und droht und droht und droht, noch schärfere Kritik zu üben. Das ist ein bisschen wenig, Herrschaften!

Die Sozialrevolutionäre haben dem verderblichen Einfluss der modernen sozialistischen Lehren gegenüber ihre Reinheit zu bewahren gewusst. Sie haben die guten alten Methoden des Vulgärsozialismus ganz aufrecht erhalten. Wir haben es mit einer neuen geschichtlichen Tatsache zu tun, mit einer neuen Bewegung in einer bestimmten Volksschicht. Sie untersuchen die Lage dieser Schicht nicht, sie setzen sich nicht das Ziel, eine Erklärung für ihre Bewegung in dem Charakter dieser Schicht und in ihrem Verhältnis zu der sich entwickelnden wirtschaftlichen Struktur der gesamten Gesellschaft zu finden. Das alles ist für sie ein leeres Dogma, überlebte Orthodoxie. Bei ihnen wird das einfacher gemacht. Wovon reden die Vertreter der sich erhebenden Schicht selber? Vom Boden, von einer Vergrößerung ihres Anteils, von einer Umteilung. Das ist alles. Da haben wir das „halb-sozialistische Programm", den „durchaus richtigen Grundsatz", „die lichte Idee", „das Ideal, das in der Keimform bereits im Kopfe der Bauern lebt" usw. Man muss „dieses Ideal nur reinigen und ausarbeiten", die „reine Idee des Sozialismus" herausschälen. Du glaubst es nicht, Leser? Du hältst es für unwahrscheinlich, dass dieser alte volkstümlerische Trödel von Leuten wieder ans Tageslicht gezerrt wird, die so munter wiederholen, was sie gerade im letzten Buch gelesen haben? Aber es ist Tatsache, und alle von uns wiedergegebenen Worte sind der Erklärung „des Bauernbundes" in Nr. 8 der „Rewoluzionnaja Rossija" entnommen.

Die Sozialrevolutionäre machen der „Iskra" den Vorwurf, dass sie, als sie die Bauernbewegung als letzte Bauernrevolte bezeichnete, damit zu früh den Totengesang angestimmt habe. Die Bauernschaft, belehren sie uns, kann auch an der sozialistischen Bewegung des Proletariats teilnehmen. Dieser Vorwurf zeigt die ganze Gedankenverwirrung der Sozialrevolutionäre mit aller Anschaulichkeit. Sie haben nicht einmal begriffen, dass die demokratische Bewegung gegen die Überreste der Leibeigenschaft und die sozialistische Bewegung gegen die Bourgeoisie zwei verschiedene Dinge sind. Da sie die Bauernbewegung selber nicht verstehen, so konnten sie auch nicht begreifen, dass die Worte der „Iskra", die ihnen einen solchen Schrecken eingejagt haben, sich nur auf die erste Bewegung beziehen. Dass die dem Untergang preisgegebenen Kleinproduzenten (darunter die Bauern) an der sozialistischen Bewegung des Proletariats teilnehmen können und müssen, hat die „Iskra" nicht nur in ihrem Programm gesagt, sondern sie hat auch die Bedingungen für diese Teilnahme genau bestimmt. Die gegenwärtige Bauernbewegung ist aber durchaus keine sozialistische, gegen die Bourgeoisie und den Kapitalismus gerichtete Bewegung. Sie vereinigt, im Gegenteil, die bürgerlichen und die proletarischen Kreise der Bauernschaft, die nur im Kampfe gegen die Überreste der Leibeigenschaft tatsächlich einig sind. Die gegenwärtige Bauernbewegung führt zur Errichtung nicht einer sozialistischen und nicht einer halb sozialistischen, sondern einer bürgerlichen Ordnung auf dem Lande, sie wird diese Ordnung herbeiführen und die bereits fertige bürgerliche Grundlage unseres Dorfes von den Fesseln der Leibeigenschaft befreien.

Im Übrigen ist das alles für die Sozialrevolutionäre ein Buch mit sieben Siegeln. Sie versichern der „Iskra" sogar ganz ernstlich, dass die Freilegung des Weges für die Entwicklung des Kapitalismus ein leeres Dogma sei, denn die „Reformen" (der 60er Jahre) „haben ja der Entwicklung des Kapitalismus vollen (!) Spielraum gewährt (!!)". Was alles doch so ein flinker Mensch zusammenschreiben kann, der beherrscht ist von einer flinken Feder und sich einbildet, dass der „Bauernbund" sich alles leisten kann: der Bauer wird es ja nicht merken! Aber, lieber Herr Verfasser, denken Sie doch bitte einmal nach: haben Sie nie davon gehört, dass die Überreste der Leibeigenschaft die Entwicklung des Kapitalismus aufhalten? Finden Sie nicht, dass das sogar fast eine Tautologie ist? Und haben Sie nicht irgendwo einmal etwas gelesen von den Überresten der Leibeigenschaft im heutigen russischen Dorf?

Die „Iskra" sagt, dass die bevorstehende Revolution eine bürgerliche Revolution sein wird. Die Sozialrevolutionäre entgegnen: sie wird „vor allem eine politische und bis zu einem gewissen Grade eine demokratische Revolution sein". Vielleicht versuchen die Verfasser dieser netten Entgegnung, uns zu erklären, ob es jemals in der Geschichte eine bürgerliche Revolution gegeben hat, ob überhaupt eine bürgerliche Revolution denkbar ist, die nicht „bis zu einem gewissen Grade eine demokratische" Revolution wäre? Ja, sogar das Programm der Sozialrevolutionäre selber (die ausgleichende Nutzung des Bodens, der Eigentum der Gesellschaft geworden ist) geht nicht über den Rahmen eines bürgerlichen Programms hinaus, denn bei Aufrechterhaltung der Warenproduktion und Zulassung der Privatwirtschaft, sei es auch auf gemeinsamem Boden, werden die kapitalistischen Verhältnisse in der Landwirtschaft keineswegs beseitigt.

Je leichtfertiger sich die Sozialrevolutionäre den Grundwahrheiten des modernen Sozialismus gegenüber verhalten, um so leichter verfassen sie die „elementarsten Deduktionen" und sind sogar stolz darauf, dass ihr „Programm auf solche hinausläuft". Untersuchen wir ihre drei Deduktionen, die wahrscheinlich auf lange Zeit hinaus ein Denkmal der Geistesschärfe und der Tiefe der sozialistischen Überzeugungen der Sozialrevolutionäre bleiben werden.

Deduktion Nr. 1: „Schon jetzt gehört ein großer Teil des Gebietes Russlands dem Staate, – es ist notwendig, dass das gesamte Gebiet dem Volke gehöre". „Schon jetzt" hängen uns die rührenden Hinweise auf den staatlichen Bodenbesitz in Russland in den verschiedenen Schriften der Polizei-Volkstümler (wie Sasonow u. a.) und der verschiedenen Kathederreformer zum Halse heraus. „Es ist notwendig", dass hinter diesen Herren Leute einher hinken, die sich Sozialisten und sogar Revolutionäre nennen. „Es ist notwendig", dass die Sozialisten die scheinbare Allmacht des „Staates" betonen (wobei sie sogar vergessen, dass der größte Teil der staatlichen Ländereien im unbewohnten Grenzgebiet Russlands liegt), nicht aber den Klassengegensatz zwischen der halb-leibeigenen Bauernschaft und einer Handvoll privilegierter Großgrundbesitzer, die die Hauptmenge des bestbebauten Landes in Händen haben und mit denen der „Staat" stets in bestem Einvernehmen lebt. Unsere Sozialrevolutionäre, die sich einbilden, dass sie die Idee des Sozialismus in ihrer ganzen Reinheit darstellen, beschmutzen in Wirklichkeit diese Idee durch ihre unkritische Einstellung zu der alten Volkstümlerei.

Deduktion Nr. 2: „Schon jetzt geht der Boden vom Kapital auf die Arbeit über – es ist notwendig, dass der Staat diesen Prozess vollende". Je weiter in den Wald, um so dichter die Bäume. Machen wir noch einen Schritt weiter zur Polizei-Volkstümlerei, fordern wir den (Klassen-!)„Staat" auf, den bäuerlichen Landbesitz überhaupt zu erweitern. Das ist außerordentlich sozialistisch und erstaunlich revolutionär. Was kann man aber auch von Leuten erwarten, die den Ankauf und die Pacht des Bodens durch die Bauern nicht den Übergang des Bodens von den feudalen Gutsbesitzern auf die Dorfbourgeoisie, sondern seinen Übergang „vom Kapital auf die Arbeit" nennen. Erinnern wir diese Leute wenigstens an die Zahlen über die tatsächliche Verteilung des „auf die Arbeit übergehenden" Grund und Bodens; 6 bis 9 Zehntel des gesamten angekauften Bauernlandes und 5 bis 8 Zehntel des Pachtlandes sind in den Händen der Besitzer des fünften Teiles der Bauernhöfe, d. h. in den Händen einer kleinen Minderheit von wohlhabenden Bauern. Man urteile danach, wie viel Wahrheit in den Worten der Sozialrevolutionäre enthalten ist, wenn sie behaupten, dass sie auf die wohlhabenden Bauern „gar nicht zählen", sondern nur auf die „rein werktätigen Schichten".

Deduktion Nr. 3: „Der Bauer hat bereits Land und nutzt es meist in ausgleichender Verteilung, – es ist notwendig, dass diese werktätige Bodennutzung bis zu Ende durchgeführt werde… und durch die Entwicklung von Genossenschaften jeglicher Art in kollektiver landwirtschaftlicher Produktion ihre Vollendung finde". Man kratze den Sozialrevolutionär und der Herr W. W. kommt zum Vorschein! Sobald es sich um konkrete Dinge handelt, kommen alle alten Vorurteile der Volkstümler zum Vorschein, die unter der Hülle schlauer Redensarten ausgezeichnet erhalten sind. Staatlicher Bodenbesitz – Vollendung des Überganges des Bodens an die Bauernschaft durch den Staat – Dorfgemeinde – Genossenschaftswesen – Kollektivismus: in diesem prachtvollen Schema der Herren Sasonow, Jusow, N.–on, der Sozialrevolutionäre, der Hofstetter, Totomianz u. a., in diesem Schema fehlt nur eine ganze Kleinigkeit. Es gibt darin weder den sich entwickelnden Kapitalismus noch den Klassenkampf. Woher sollte auch diese Kleinigkeit in die Köpfe von Leuten gelangen, deren ganzes geistiges Gepäck aus den alten Lumpen der Volkstümlerei und den eleganten Flicken der modernen Kritik besteht? Hat nicht Herr Bulgakow selber gesagt, im Dorf sei kein Platz für den Klassenkampf? Wird es nicht sowohl die Liberalen wie die „Kritiker" und überhaupt alle diejenigen, für die der Sozialismus nichts anderes als ein altes Aushängeschild ist, befriedigen, wenn man den Klassenkampf durch „Genossenschaften jeglicher Art" ersetzt? Und warum sollte man nicht versuchen, einfältige Leute mit der Versicherung zu beruhigen: „uns liegt natürlich jede Idealisierung der Dorfgemeinde völlig fern", obwohl man neben dieser Versicherung einen ungeheuren Wortschwall findet über „eine ungeheure Organisation der Mir-Bauernschaft", einen Wortschwall darüber, dass „in gewisser Beziehung keine Klasse in Russland so zum rein (!) politischen Kampf gestoßen werde, wie gerade die Bauernschaft", dass die bäuerliche Selbstbestimmung (!) mit ihren Grenzen und Kompetenzen viel weiter gehe als die der Semstwos, dass es so sei, als wäre diese Verbindung einer „umfassenden" … (sogar bis zur Dorfgrenze?) … „Selbsttätigkeit" mit dem Fehlen „der elementarsten Bürgerrechte" „eigens erfunden worden, um .,. die politischen Instinkte und Gewohnheiten des sozialen Kampfes zu wecken und einzuüben (!)". Wem es nicht gefällt, der braucht nicht zuzuhören, aber …

Man muss blind sein, um nicht zu sehen, um wie viel leichter es ist, von den Traditionen der Verwaltung des Landes durch die Dorfgemeinde zu dem Gedanken der Sozialisierung des Grund und Bodens überzugehen". Ist nicht gerade das Gegenteil der Fall, ihr Herren? Sind nicht gerade diejenigen hoffnungslos blind und taub, die bis jetzt nicht wissen, dass gerade die mittelalterliche Abgeschlossenheit der noch zum Teil auf Leibeigenschaft beruhenden Dorfgemeinde, die die Bauernschaft in winzige Vereinigungen zersplittert und das Dorfproletariat an Händen und Füßen fesselt, die überlieferte Trägheit, Verschüchterung und Verwilderung unterstützt? Widerlegt ihr euch nicht selber, wenn ihr den Nutzen der Wanderarbeit anerkennt, die die vielgerühmten Traditionen der ausgleichenden Nutzung in der Dorfgemeinde bereits zu drei Vierteln zerstört hat und diese Traditionen auf einen Polizeizwist reduzierte.

Das Mindestprogramm der Sozialrevolutionäre, das auf der oben analysierten Theorie beruht, ist ein wahres Kuriosum. Dieses „Programm" enthält zwei Punkte: 1. „Die Sozialisierung des Grund und Bodens, d. h. sein Übergang in den Besitz der gesamten Gesellschaft und in die Nutzung der Werktätigen"; 2. „Die Entwicklung von gesellschaftlichen Vereinigungen und wirtschaftlichen Genossenschaften jeder Art in der Bauernschaft … (zum „rein" politischen Kampf?) zur allmählichen Befreiung der Bauernschaft von der Gewalt des Geldkapitals … (und Unterordnung unter die Gewalt des Industriekapitals?) … und zur Vorbereitung der zukünftigen kollektiven landwirtschaftlichen Produktion". Wie die Sonne in einem Tropfen Wasser, so spiegelt sich in diesen beiden Punkten der ganze Geist des modernen „Sozial-Revolutionarismus" wider. In der Theorie die revolutionäre Phrase an Stelle eines durchdachten und in sich abgeschlossenen Systems von Anschauungen, in der Praxis das hilflose Aufgreifen des einen oder anderen zur Mode gewordenen Mittelchens anstatt der Beteiligung am Klassenkampf, – das ist alles, was sie aufzuweisen haben. Um im Mindestprogramm die Sozialisierung des Bodens und das Genossenschaftswesen nebeneinanderzustellen, dazu muss man, wir sagen es offen, viel Bürgermut besitzen. Unser Mindestprogramm, einerseits Babeuf, andrerseits Herr Lewitzki. Das ist unnachahmbar.

Wenn man dieses Programm ernst nehmen könnte, so müssten wir sagen, dass die Sozialrevolutionäre, die sich selbst durch den Schall der Worte betrügen, auch die Bauern betrügen. Es ist ein Betrug, wenn man behauptet, dass „die Genossenschaften jeglicher Art" in der modernen Gesellschaft eine revolutionäre Rolle spielen und nicht die Festigung der Dorfbourgeoisie, sondern den Kollektivismus vorbereiten. Es ist ein Betrug, wenn man behauptet, dass die Sozialisierung des Bodens der Bauernschaft als das Mindeste, als etwas ebenso greifbar Nahes in Aussicht gestellt werden kann, wie die Genossenschaften. Jeder Sozialist würde unseren Sozialrevolutionären klarmachen, dass die Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden jetzt nur der unmittelbare Vorbote der Aufhebung des Privateigentums überhaupt sein kann, dass die Übergabe des Grund und Bodens „zur Nutzung der Werktätigen" das Proletariat allein noch nicht befriedigen würde, denn Millionen und Dutzende von Millionen zugrunde gerichteter Bauern sind schon nicht mehr in der Lage, den Boden zu bewirtschaften, selbst wenn sie ihn hätten. Die Versorgung dieser zugrunde gerichteten Millionen mit Werkzeug, Vieh usw. würde aber bereits die Sozialisierung aller Produktionsmittel sein und die sozialistische Revolution des Proletariats erforderlich machen, nicht aber eine Bauernbewegung gegen die Überreste der Leibeigenschaft. Die Sozialrevolutionäre verwechseln die Sozialisierung des Bodens mit seiner bürgerlichen Nationalisierung. Diese Nationalisierung ist, ganz allgemein gesprochen, auch auf dem Boden des Kapitalismus ohne Aufhebung der Lohnarbeit denkbar. Aber gerade das Beispiel derselben Sozialrevolutionäre bestätigt sehr anschaulich die Wahrheit, dass man den einzig revolutionären Grundsatz des Klassenkampfes verdunkelt und Wasser auf die Mühlen des Bürokratismus gießt, wenn man im Polizeistaat die Forderung der Nationalisierung des Bodens aufstellt.

Mehr als das. Die Sozialrevolutionäre werden bereits offenkundig reaktionär, wenn sie sich auflehnen gegen die in unserm Programmentwurf enthaltene Forderung: „Aufhebung aller Gesetze, die den Bauer in der Verfügung über sein Land beschränken". Auf Grund des volkstümlerischen Vorurteils über das „Dorfgemeinde"-Prinzip und das „ausgleichende Prinzip" sprechen sie den Bauern ein so „elementares Bürgerrecht" ab, wie das Recht, über den eigenen Boden zu verfügen; gutmütig schließen sie ihre Augen vor der ständischen Abgeschlossenheit der wirklichen Dorfgemeinde, sie werden zu Verteidigern der Polizeiverbote der vom „Staat" eingesetzten und von ihm unterstützten … Bezirkshauptleute! Wir glauben, dass nicht nur Herr Lewitzki. sondern auch Herr Pobjedonoszew nicht sehr erschreckt sein wird über die Forderung der Sozialisierung des Bodens zu seiner ausgleichenden Nutzung, da ja diese Forderung als Mindestforderung aufgestellt wird, neben der sowohl die Genossenschaften eine Rolle spielen als auch die Verteidigung der von der Polizei verordneten Fesselung des Bauern an seinen, ihm vom Staate zum Lebensunterhalt zugewiesenen Landanteil.

Möge das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre eine Lehre und Warnung für alle Sozialisten sein, ein anschauliches Beispiel dafür, wozu Gedanken- und Grundsatzlosigkeit führt, die manche leichtfertige Leute Freiheit vom Dogma nennen. Sobald es sich um konkrete Dinge handelte, erwies es sich, dass die Sozialrevolutionäre keine von den drei Bedingungen aufzuweisen hatten, die zur Aufstellung eines konsequenten sozialistischen Programms erforderlich sind: weder eine klare Vorstellung vom Endziel noch die richtige Erkenntnis des Weges, der zu diesem Ziel führt, noch ein genaues Bild von der wirklichen Sachlage im gegenwärtigen Augenblick und von den nächsten Aufgaben dieses Augenblicks. Das Endziel des Sozialismus haben sie nur verdunkelt, indem sie die Sozialisierung des Grund und Bodens mit seiner bürgerlichen Nationalisierung und die primitive bäuerliche Vorstellung von der kleinen ausgleichenden Bodennutzung mit der Lehre des modernen Sozialismus vom Übergang aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum und von der Organisierung der sozialistischen Produktion verwechselten. Ihre Vorstellung von dem Weg, der zum Sozialismus führt, wird am besten dadurch gekennzeichnet, dass sie den Klassenkampf durch die Entwicklung der Genossenschaften ersetzen. Bei der Beurteilung des gegenwärtigen Augenblicks der Agrarrevolution in Russland haben sie eine Kleinigkeit vergessen: die Überreste der Leibeigenschaft, die schwer auf unserem Dorf lasten. Die berühmte Dreieinigkeit, die ihre theoretischen Ansichten zum Ausdruck bringt: Intelligenz, Proletariat, Bauernschaft, ist durch eine nicht weniger berühmte „Programm"-Dreieinigkeit ergänzt worden: Sozialisierung des Grund und Bodens – Genossenschaften – Fesselung an die Parzelle.

Man vergleiche damit das Programm der „Iskra", das dem gesamten kämpfenden Proletariat das einzige Endziel aufzeigt, ohne dieses auf ein „Minimum" zu reduzieren, ohne es um der Anpassung an die Anschauungen einiger rückständiger Schichten des Proletariats oder der Kleinproduzenten willen zu degradieren. Der Weg zur Erreichung dieses Zieles ist in der Stadt und auf dem Lande der gleiche – es ist der Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Außer diesem Klassenkampf aber wird in unserm Dorf auch noch ein anderer Kampf fortgesetzt: der Kampf der gesamten Bauernschaft gegen die Überreste der Leibeigenschaft. Und in diesem Kampf verspricht die Partei des Proletariats der gesamten Bauernschaft ihre Unterstützung, wobei sie bemüht sein wird, der revolutionären Begeisterung der Bauernschaft das wirkliche Ziel zu weisen, ihren Aufstand gegen den wirklichen Feind zu richten, denn die Partei hält es für unehrlich und unwürdig, die Bauern wie Unmündige zu behandeln, ihnen zu verheimlichen, dass sie im gegenwärtigen Augenblick und sofort nur die völlige Beseitigung aller Spuren und Überreste der Leibeigenschaft, nur die Säuberung des Weges für den breiteren und schwierigeren Kampf des gesamten Proletariats gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft erringen können.

1 Der zunächst in Nr. 23 und 24 der „Iskra" veröffentlichte Artikel „Revolutionäres Abenteurertum" wurde später als Sonderbroschüre herausgegeben. Die Mitteilung über das Erscheinen der Broschüre brachte „Iskra" Nr. 25, vom 15. September 1902.

2 Zitat aus „Verstand schafft Leiden", von Gribojedow. Die Red.

3 nachträglich. Die Red.

4 Die Absicht, „in einem Zeitschriftenartikel oder einer Broschüre" auf eine ausführlichere Darstellung und Prüfung der Ansichten der Partei der Sozialrevolutionäre zurückzukommen, hat Lenin nicht verwirklicht. Die im Artikel „Revolutionäres Abenteurertum" aufgeworfenen Fragen berührte Lenin zum Teil in den Artikeln „Vulgärsozialismus und Volkstümlerei, wiederbelebt durch die Sozialrevolutionäre“ und „Les beaux esprits se rencontrent".

5 Die Zitate stammen aus dem Artikel A. Lewitzkis „Flüchtige Notizen" („Wjestnik Russkoi Rewoluzii" Nr. 2, Februar 1902).

6 Das von Lenin zitierte Flugblatt, das am Tage nach der Ermordung des Innenministers Sipjagin durch S. Balmaschow herausgegeben wurde, richtete sich „An alle Untertanen des russischen Zaren". Im Zusammenhang mit diesem Flugblatt stand in Nr. 7 der „Rewoluzionnaja Rossija" (Juni 1902), in der Rubrik „Aus der Parteitätigkeit" folgende von Lenin auf S. 205 des vorliegenden Bandes erwähnte Notiz:

Aus Anlass desselben Ereignisses (d. h. der Ermordung Sipjagins. Die Red.) hat eine Gruppe der Sozialrevolutionäre das in der allgemeinen Parteidruckerei gedruckte Flugblatt ,An alle Untertanen des russischen Zaren' herausgegeben. Wir teilen nicht vollkommen das vom Standpunkte der Partei übertriebene Urteil über die Bedeutung terroristischer Akte, wollen jedoch nur die allgemeine Einstellung zur Frage des terroristischen Kampfes hervorheben, die der Anschauung der Partei vollkommen entspricht: ,Wir rufen zum Terror auf, nicht an Stelle der Arbeit in den Massen, sondern eben für diese Arbeit und gleichzeitig mit ihr.' Mehr als das, wir sind gerade darum von der Zweckmäßigkeit des Terrorismus in diesem Augenblick fest überzeugt, weil er in den Massen ein teilnehmendes Echo finden wird. Die ,Narodnaja Wolja' ist nur zertrümmert worden, weil sie im entscheidenden Augenblick einsam dastand. Furchtbar ist der Terror als Schwert, das auf die Köpfe der Diener des Absolutismus niedergeht, aber man hofft immer es zu zerbrechen, solange man keine Massen dahinter sieht. Wenn Alexander II. noch am Tage seines Todes den Befehl über die Einberufung der Semstwovertreter unterzeichnet hat, so nur, weil er hinter den Terroristen die Sympathie des Volkes sah. Der Schuss Karpowitschs würde den Zaren vielleicht gar nicht gezwungen haben, den Studenten Zugeständnisse zu machen, wenn nicht viele selbst der friedlichsten Menschen ihn mit solcher Begeisterung aufgenommen hätten. Die Massenbewegung und der Terror müssen vereint wirken."

Die von Lenin gestellte Frage des Flugblattes vom 3. April 1902 berührte „Rewoluzionnaja Rossija" noch einmal in einer Notiz „Über Polemik der ,Iskra'" („Rewoluzionnaja Rossija" Nr. 11, Oktober 1902); auf diese Notiz antwortete Lenin am Schluss seines Artikels „Vulgärsozialismus und Volkstümlerei, wiederbelebt durch die Sozialrevolutionäre".

* Allerdings macht die „Rewoluzionnaja Rossija" auch hier eigenartige Seiltänzerkunststücke. Einerseits – „deckt sich vollständig", andererseits – ein Hinweis auf „Übertreibungen". Einerseits erklärt „Rewoluzionnaja Rossija", dass dieses Flugblatt die Sache nur „einer Gruppe" von Sozialrevolutionären sei, andererseits besteht die Tatsache, dass dieses Flugblatt die Unterschrift trägt: „Verlag der Sozialrevolutionären Partei" und außerdem wird der Wahlspruch der „Rewoluzionnaja Rossija" wiederholt („Im Kampfe erwirbst du dein Recht"). Wir verstehen, dass es der „Rewoluzionnaja Rossija" unangenehm ist, diesen heiklen Punkt zu berühren, aber wir glauben, dass es geradezu unanständig ist, in solchen Fällen Verstecken zu spielen. Der revolutionären Sozialdemokratie war die Existenz des Ökonomismus auch unangenehm, aber sie hat ihn öffentlich entlarvt, ohne den Versuch zu machen, irgend jemand irgendwann irrezuführen.

7 Ein Zitat aus dem Aufruf des Bauernbundes der Partei der Sozialrevolutionäre „An alle, die in Russland für den revolutionären Sozialismus wirken" („Rewoluzionnaja Rossija", Nr. 8, v. 25. Juni 1924).

8 Lenin zitiert hier eine bibliographische Notiz aus dem „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" (Nr. 1, Juli 1901), die den drei ersten Nummern der „Iskra" gewidmet war.

9 Worte aus der „Lebensregel" von I. S. Turgenjew („Gedichte in Prosa", 1882).

10 Lenin meint die Notiz „Antwort an die ,Sarja'" in Nr. 4 der „Rewoluzionnaja Rossija" (Februar 1902), die eine Polemik gegen die Rezension L. Martows („Sarja" Nr. 2–3, Dezember 1901) über Nr. 2 der „Rewoluzionnaja Rossija" und Nr. 1 des „Wjestnik Russkoi Rewoluzii" enthielt.

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