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Wladimir I. Lenin 19030428 Les beaux esprits se rencontrent

Wladimir I. Lenin: Les beaux esprits se rencontrent

Entspricht ungefähr dem Sprichwort: Gleich und gleich gesellt sich gern

[„Iskra" Nr. 38 15. April 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 454-458]

Das russische sozialistische Denken und die revolutionäre Bewegung sind im Juni 1902 um das berühmte Agrar-Mindestprogramm unserer Sozialrevolutionäre (Vergenossenschaftung und Sozialisierung) bereichert worden. Das Buch des bekannten Opportunisten (oder auch Bernsteinianers) Eduard David „Sozialismus und Landwirtschaft" ist im Februar 1903 erschienen. Offenbar kann keine Rede davon sein, dass das später erschienene Werk des opportunistischen Gedankens das Vorbild von weiter zurückliegenden Übungen des „sozialrevolutionären" Gedankens enthalten habe. Wie ist aber dann die erstaunliche, in die Augen springende Ähnlichkeit und sogar grundsätzliche Übereinstimmung des Programms der russischen Sozialrevolutionäre mit dem der deutschen Opportunisten zu erklären? Ist nicht am Ende die „Rewoluzionnaja Rossija" das Vorbild und das (nach Meinung des Berichterstatters der „Russkije Wjedomosti"1 „grundlegende" Werk Davids – ein Abklatsch? Zwei Grundgedanken, und ihnen entsprechend zwei Hauptprogrammpunkte, ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze „Werk" Davids. Er verherrlicht die landwirtschaftlichen Genossenschaften und erwartet von ihnen alles Heil; er verlangt von der Sozialdemokratie die Förderung ihrer Entwicklung, ohne (ganz wie unsere Sozialrevolutionäre) den kapitalistischen Charakter dieser Vereinigungen der Kleinbesitzer mit den Klein- und Großkapitalisten in der Landwirtschaft zu merken. David fordert die Umwandlung der landwirtschaftlichen Großbetriebe in Kleinbetriebe; er spricht begeistert von der Einträglichkeit und Zweckmäßigkeit, der Sparsamkeit und Ergiebigkeit der Wirtschaft „der Arbeitsbauern"2, wobei er das unumschränkte Recht der Gesellschaft auf das Eigentum am Boden und die Nutzung des Bodens durch diese kleinen „Arbeitsbauern" hervorhebt. Wirklich, der deutsche Opportunist hat an den russischen „Sozialrevolutionären" einen Diebstahl begangen! Den kleinbürgerlichen Charakter der „Arbeitsbauern" in der modernen Gesellschaft, ihre unsichere Lage, ihre Übergangsstellung zwischen Bourgeoisie und Proletariat, ihr Bestreben, durch Sparsamkeit, Eifer, mangelhafte Ernährung, übermäßige Arbeit etwas „Besseres" (d. h. echte Bourgeois) zu werden, ihre Tendenz, die Arbeitskraft der Landarbeiter auszubeuten – das alles sieht natürlich weder der deutsche kleinbürgerliche Opportunist noch der russische kleinbürgerliche „Sozialrevolutionär".

Ja, ja, les beaux esprits se rencontrent, und das eben ist die Lösung der auf den ersten Blick so schwierigen Aufgabe: festzustellen, wo die Abschrift und das Original ist. Gedanken, die die Bedürfnisse, Interessen, Bestrebungen und Wünsche einer bestimmten Klasse zum Ausdruck bringen, liegen in der Luft, und keine Mannigfaltigkeit der Einkleidung, keine Verschiedenheit der bald opportunistischen, bald „sozialrevolutionären" Phrase ist imstande, die Gleichheit dieser Gedanken zu verhüllen. Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen.

In allen europäischen Ländern, auch in Russland, schreiten die „Bedrängung" und der Niedergang des Kleinbürgertums unaufhaltsam vorwärts, die nicht immer in einer offenen und unmittelbaren Verdrängung ihren Ausdruck finden, doch in der überwiegenden Zahl der Fälle zur Einschränkung seiner Rolle im wirtschaftlichen Leben, zur Verschlechterung seiner Daseinsbedingungen, zur Steigerung seiner wirtschaftlichen Unsicherheit führen. Alles verbündet sich gegen das Kleinbürgertum: der technische Fortschritt der industriellen und landwirtschaftlichen Großbetriebe, die Entwicklung der großen Warenhäuser, das Wachstum der Unternehmerverbände, der Kartelle und Trusts, und sogar das Wachstum der Konsumgenossenschaften und Gemeindeunternehmungen. Gleichzeitig mit dieser „Bedrängung" des Kleinbürgertums in Landwirtschaft und Industrie entsteht und entwickelt sich ein „neuer Mittelstand", wie die Deutschen sagen, eine neue kleinbürgerliche Schicht, die Intelligenz, deren Daseinsbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft auch immer schwieriger werden und die in ihrer Masse diese Gesellschaft vom Standpunkte des Kleinproduzenten aus betrachtet. Es ist ganz natürlich, dass das unbedingt die weitestgehende Verbreitung und die ständige Neuentstehung kleinbürgerlicher Anschauungen und Lehren in den mannigfaltigsten Formen zur Folge hat. Es ist ganz natürlich, dass der russische „Sozialrevolutionär", der ganz im Banne der Ansichten der kleinbürgerlichen Volkstümlerrichtung steht, unwillkürlich zum Bruder des europäischen Reformisten und Opportunisten wird, der, wenn er sich treu bleiben will, unvermeidlich beim Proudhonismus landet. Mit diesem Ausdruck hat auch Kautsky ganz richtig das Programm und den Standpunkt Davids charakterisiert.

Wir sagten: „wenn er sich treu bleiben will", und sind damit bei der wesentlichen Besonderheit angelangt, die die heutigen Sozialrevolutionäre sowohl von dem alten russischen Volkstümler als auch zumindest von einigen europäischen Opportunisten unterscheidet – eine Besonderheit, die man nur als Abenteurertum bezeichnen kann. Das Abenteurertum denkt nicht daran, sich selbst treu zu bleiben, es lebt nur im Augenblick, es nutzt den Kampf der Gedanken nur zur Rechtfertigung und Aufrechterhaltung seiner Gedankenlosigkeit aus. Der alte russische Volkstümler wollte sich treu bleiben und verteidigte, predigte, bekannte sich zu seinem besonderen Programm. David will sich treu bleiben und lehnt sich entschieden gegen die ganze „marxistische Agrartheorie" auf, er predigt entschieden die Umwandlung der Großbetriebe in Kleinbetriebe, wenigstens, ohne vor der Kühnheit einer eigenen Meinung Angst zu haben, ohne sich zu fürchten, offen als Anhänger des Kleinbetriebs aufzutreten. Unsere „Sozialrevolutionäre" sind… wie könnte man das milder ausdrücken? … viel „vernünftiger". Sie lehnen sich niemals entschieden gegen Marx auf, Gott bewahre! Im Gegenteil, sie werfen fortwährend mit Zitaten von Marx und Engels um sich und versichern mit Tränen in den Augen, dass sie mit ihnen fast in allem einverstanden seien. Sie gehen niemals gegen Liebknecht und Kautsky vor, im Gegenteil, sie sind tief und aufrichtig davon überzeugt, dass Liebknecht Sozialrevolutionär, bei Gott, ein Sozialrevolutionär gewesen sei. Sie treten nicht als grundsätzliche Anhänger des bäuerlichen Kleinbetriebes auf, im Gegenteil, sie sind durchaus für die „Sozialisierung des Grund und Bodens", und nur zufällig entschlüpft ihnen das Geständnis, dass diese allumfassende, russisch-holländische Sozialisierung3, alles, was man will, bedeuten kann: den Übergang des Bodens in gesellschaftliches Eigentum und die Nutzung durch die Werktätigen (ganz wie bei David), oder einfach den Übergang des Bodens in die Hände der Bauern und schließlich schon ganz „einfach": die unentgeltliche Zusatzparzelle …

Die „vernünftigen" Methoden unserer Sozialrevolutionäre sind uns so gut bekannt, dass wir uns zum Schluss erlauben wollen, ihnen einen guten Rat zu geben.

Ihr seid in keine sehr angenehme Lage geraten, ihr Herren, das muss man sagen. Ihr habt die ganze Zeit versichert, dass ihr weder mit dem Opportunismus oder dem Reformismus im Westen noch mit der kleinbürgerlichen Vorliebe für den „einträglichen" Kleinbetrieb etwas zu tun habt. Und plötzlich erscheint das Buch eines bewussten Opportunisten und Anhängers des Kleinbetriebes, der mit rührend-peinlicher Genauigkeit euer „sozialrevolutionäres" Programm „abschreibt"! Das ist wirklich eine heikle Lage. Aber macht euch keine Sorgen: es ist leicht, aus ihr herauszukommen. Man braucht nur … Kautsky anzuführen.

Der Leser glaube nicht, dass hier ein Druckfehler vorliege, nicht im Geringsten. Kautsky geht gegen den Proudhonisten David vor, gerade darum müssen die mit David einverstandenen Sozialrevolutionäre Kautsky zitieren, genau so, wie sie schon einmal Engels zitiert haben. Man nehme Nr. 14 der „Rewoluzionnaja Rossija" zur Hand4 und man wird dort auf Seite 7 lesen, dass die „Änderung" der sozialdemokratischen „Taktik" gegenüber der Bauernschaft von einem der Väter des wissenschaftlichen Sozialismus, von Engels, „legitimiert worden sei" (!!) – von Engels, der gegen die französischen Genossen, die ihre Taktik geändert hatten, ins Feld gezogen war. Wie kann diese, eines Taschenspielers würdige Behauptung bewiesen werden? Sehr einfach. Erstens muss man Engels Worte „zitieren", aus denen hervorgeht, dass er entschieden auf Seiten des Kleinbauern steht (und verschweigen, dass gerade dieser Gedanke im Programm der russischen Sozialdemokratie zum Ausdruck kommt, die alle Werktätigen ins Lager des Proletariats ruft!). Man muss zweitens aus Anlass der „Zugeständnisse", die die französischen Genossen bei der Änderung ihrer Taktik den Bernsteinianern gemacht haben, sagen: „Siehe die ausgezeichnete Kritik dieser Zugeständnisse bei Engels". Wir raten den Herren Sozialrevolutionären, diese erprobte Methode auch jetzt anzuwenden. Davids Buch hat die Änderung der Taktik in der Agrarfrage legitimiert. Jetzt kann man schon nicht mehr umhin, zuzugeben, dass man mit dem Programm der „Vergenossenschaftung und Sozialisierung" in den Reihen der sozialdemokratischen Partei bleiben kann: nur Dogmatiker und Orthodoxe können das übersehen. Andererseits muss man aber zugeben, dass David, im Gegensatz zu den edlen Sozialrevolutionären, einige Zugeständnisse an das Bernsteinianertum macht. „Siehe die ausgezeichnete Kritik dieser Zugeständnisse bei Kautsky."

Wirklich, ihr Herren, versucht es, vielleicht gelingt es nochmals.

1 Die Besprechung des Buches von E. David erschien in Nr. 35 der „Russkije Wjedomosti" im Jahre 1903, in einer Korrespondenz aus Berlin, die das Datum des 30. Januar trug und mit dem Buchstaben „J." (Jollos) gezeichnet war.

2 „der Arbeitsbauern" bei Lenin deutsch. D. Red.

3 Allem Anschein nach eine Anspielung auf das auf den Parteitagen 1896 in Utrecht und 1897 in Arnheim diskutierte und angenommene Wahlprogramm der holländischen Sozialdemokratie, das u. a. auch Forderungen zur Agrarfrage enthielt. Vergl. „Neue Zeit", Bd. XVII.l. Die Red.

4 Lenin zitiert den Artikel „Programmfragen" (1. Die Sozialisierung des Grund und Bodens und die Genossenschaften in der Landwirtschaft), der in Nr. 14 der „Rewoluzionnaja Rossija" (Dezember 1902) veröffentlicht war.

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