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L. B. Krassin, A. I. Lubimow, Wladimir I. Lenin 19050423 Offener Brief an den Vorsitzenden des Parteirates der SDAPR Genossen Plechanow

L. B. Krassin, A. I. Lubimow, Wladimir I. Lenin: Offener Brief

an den Vorsitzenden des Parteirates der SDAPR Genossen Plechanow1

[Wperjod" Nr. 16, 17./30. April 1905. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 315-325]

Werter Genosse!

Am 4./17. April richtete das Zentralkomitee an den Parteirat die Mitteilung, dass es als seine Vertreter im Parteirat die Genossen Johansen und Valerian bestimmt hätte, und ersuchte, möglichst bald eine Sitzung des Parteirates in der durch das Parteistatut vorgeschriebenen Zusammensetzung anzuberaumen.

Da wir keine Antwort auf dieses Ersuchen erhielten, erlaubten wir uns, Ihnen die Bitte zu wiederholen, und erhielten am 9./22. April eine Antwort, in der Sie es ablehnen, eine Sitzung des Rates einzuberufen, solange wir „fortfahren, das Parteistatut zu verletzen und als Usurpatoren der Funktionen des Parteirates aufzutreten".

Die durch die Weigerung, eine offizielle Sitzung des Rates einzuberufen, geschaffene Lage macht es uns unmöglich, dem Parteirat eine Reihe von Mitteilungen zu machen; da es aber unserer Meinung nach nicht angeht, länger damit zu warten, so sind wir gezwungen, vor der ganzen Partei an Sie eine schriftliche Darlegung der wichtigsten Erklärungen zu richten, die in der nächsten Sitzung des Rates hätten abgegeben werden sollen.

1. Das Zentralkomitee erklärt dem Parteirat, dass sich bis zum 4./17. April für die Einberufung des III. Parteitags folgende voll berechtigte Parteiorganisationen ausgesprochen haben, nämlich die Komitees: Petersburg, Moskau, Nordverband, Nischni-Nowgorod, Twer, Tula, Riga, Sibirischer Verband, Woronesch, Saratow, Odessa, Kaukasischer Verband (8 Stimmen), Nikolajew, Ural, Orel-Brjansk, Kursk, Smolensk, Polessje, Nordwest, Charkow, Samara – insgesamt 21 Organisationen, die zusammen das Recht auf 48 Stimmen haben. Für die Einberufung des Parteitages hat sich auch das Zentralkomitee ausgesprochen und den Beschluss gefasst, einen Delegierten sowie seine Vertreter im Parteirat zum Parteitag zu entsenden.

Von den Komitees Astrachan, Kasan, Kubangebiet, Dongebiet, dem Verband des Berg- und Hüttenreviers, Jekaterinoslaw, dem Krim-Verband, der Liga, der Redaktion des Zentralorgans und von drei Auslandsmitgliedern des Parteirates sind entweder gar keine Resolutionen eingegangen oder aber Resolutionen des Inhaltes, dass die Einberufung des Parteitages unerwünscht sei.

Das Kiewer Komitee endlich hat, obgleich es am 25. März eine Resolution gegen den Parteitag angenommen hatte, hinterher einen Delegierten zum Parteitag gewählt und ihn ins Ausland gesandt.

Somit haben von 75 Stimmen2, die auf dem Parteitag die gesamte Partei vertreten, 52 Stimmen (das Kiewer Komitee nicht mitgerechnet) sich für die Einberufung des dritten Parteitages ausgesprochen.

Unter diesen Umständen hält es das Zentralkomitee für notwendig, durch seine Vertreter im Parteirat darauf zu dringen, dass der Parteirat sofort der ihm nach § 2 des Parteistatuts obliegenden formalen Pflicht nachkommt, den Parteitag einzuberufen, wenn dies Parteiorganisationen verlangen, die zusammen ein Anrecht auf die Hälfte der Stimmen auf dem Parteitag haben.

Da nach den beim Zentralkomitee vorhandenen Unterlagen sich gegenwärtig viel mehr Stimmen für den Parteitag ausgesprochen haben als das Statut verlangt (52 von 75 Stimmen), so muss die Bekanntgabe der Einberufung des Parteitages durch den Parteirat sofort und vorbehaltlos erfolgen, ohne Aufstellung irgendwelcher im Parteistatut nicht vorgesehener Vorbedingungen oder Forderungen.

2. Das Zentralkomitee ist fest überzeugt, dass eine Frage von so außerordentlicher Wichtigkeit, wie die Einberufung des Parteitages in einem Augenblick, wie ihn die Partei und ganz Russland zur Zeit durchleben, selbst wenn alle Mitglieder des Parteirates es aufrichtig meinen, nicht ausschließlich rein-formal entschieden werden kann. Dazu ist unser Parteistatut nicht genügend ausgebaut, es gibt zum Beispiel keine Antwort auf die Frage der Frist, innerhalb welcher der Parteirat verpflichtet ist, den Parteitag einzuberufen, wenn die vorgeschriebene Zahl der Stimmen für die Einberufung erreicht ist. Die Zentralinstanzen der Partei sind genötigt, bei dieser wie bei anderen Fragen zu einer Auslegung des Statuts zu greifen und nicht nur auf den formal zum Ausdruck gebrachten Willen der Partei, die sich, wie aus Punkt 1 ersichtlich, bereits für den Parteitag ausgesprochen hat, sondern auch auf die tatsächliche Lage der Dinge, sowohl innerhalb der Partei als auch in Russland überhaupt, Rücksicht zu nehmen.

Das Zentralkomitee hält es für seine Pflicht, dem Parteirat zur Kenntnis zu bringen, dass die Entwicklung der Parteikrise in Russland ein Ausmaß erreicht hat, wo die gesamte Parteiarbeit fast zum Stillstand gekommen ist. Die Lage in den Komitees ist im höchsten Grade verworren. Es gibt fast keine einzige taktische oder organisatorische Frage, die in den lokalen Organisationen nicht zu den erbittertsten Meinungsverschiedenheiten zwischen den Fraktionen geführt hätte, und zwar meist nicht so sehr aus sachlichen Gründen, als infolge der Zugehörigkeit der Streitenden zu den verschiedenen Parteilagern. Weder der Parteirat noch das Zentralorgan noch das Zentralkomitee genießen die nötige Autorität bei der Mehrzahl der Parteifunktionäre, überall tauchen Doppelorganisationen auf, die sich gegenseitig in der Arbeit hemmen und die Partei in den Augen des Proletariats diskreditieren. Den Genossen, die sich vornehmlich mit literarischer Tätigkeit befassen, die selbst in einer Atmosphäre des Misstrauens von Seiten eines bedeutenden Teiles der Partei ununterbrochen weitergehen kann, ist die Ausweglosigkeit, die Unerträglichkeit der Lage, in der sich zur Zeit die allgemeinen Parteiangelegenheiten befinden, vielleicht nicht so sichtbar, wie den Funktionären des praktischen Zentrums, die in Russland bei ihrer Tätigkeit mit jedem Tage auf immer größere und größere Schwierigkeiten stoßen. Der Moment ist eingetreten, wo die Entwicklung der inneren Gegensätze unseres Parteilebens auf jenen engen und, wie jetzt schon für uns alle ersichtlich ist, bei weitem nicht vollkommenen Statutenrahmen, den uns der zweite Parteitag gegeben hat, drückt. Neue Formen sind notwendig oder zumindest eine Änderung der alten, und machen kann das der einzige Gesetzgeber der sozialdemokratischen Partei – der Parteitag, da ihm und nur ihm die Festsetzung allgemein verbindlicher Normen zusteht, die keine Konferenz, keine private Verständigung zu geben vermag. In Erkenntnis der Wichtigkeit einer möglichst baldigen Beilegung der Parteikrise durch einen Parteitag hat der größte Teil der russischen Komitees bereits alle Maßnahmen zu seiner raschesten Verwirklichung getroffen, bis zur Wahl und Entsendung von Delegierten; und zwar gilt das nicht nur für die Komitees der Mehrheit, die sich früher für die Einberufung des Parteitages ausgesprochen haben, sondern auch für die Mehrzahl der Minderheit, der Gruppen und Peripherien. Die Partei hat sich für den Parteitag ausgesprochen und für dessen Vorbereitung gewaltige Mittel und Anstrengungen aufgewendet. Die Zentralinstanzen der Partei, die jetzt, wo die Verpflichtung zur Einberufung des Parteitages unzweifelhaft ist, kein formales Recht mehr haben, die Verkündung des Parteitages zu verschieben, sind moralisch verpflichtet, ihrerseits alles zu tun, damit dieser Kraftaufwand für die Partei sich nicht als unnütz vertan erweist. Eine Verlängerung des Aufenthaltes von Dutzenden der aktivsten delegierten Genossen, die in Russland gegenwärtig so gebraucht werden, auf unbestimmte Zeit im Auslande und erst recht ihre Rückkehr nach Russland, ohne dass der Parteitag stattgefunden hat, und zwar nur deshalb nicht stattgefunden hat, weil die Genossen vom Zentralorgan von dem Buchstaben des Parteistatuts im Namen seines Geistes, im Namen des höheren Interesses der Erhaltung der Parteieinheit nicht abweichen wollten, würde eine unzulässige Vergeudung von Parteikräften und die Unfähigkeit der Parteiführer bedeuten, jene Aufgaben zu bewältigen, vor die uns das Parteileben gestellt hat. Wenn die Formen sich überlebt haben, wenn diese Formen für die wachsende und sich entwickelnde Partei zu eng geworden sind, kann man nicht die Rettung nur darin erblicken, dass man zum hundertsten und aber hundertsten Male immer nur von der Heiligkeit des Buchstabens des Gesetzes spricht. Das ist kein Ausweg aus der Krise, der einzige Ausweg kann nur die Einberufung des Parteitages sein.

3. Das Zentralkomitee vertritt auf Grund des § 6 des Parteistatuts, der ihm die Organisation und die Leitung aller Unternehmungen, die von Bedeutung für die Gesamtpartei sind, überträgt, als sein unveräußerliches und keiner Beschränkung unterliegendes Recht, das Recht, vorbereitende Maßnahmen zu treffen und die gesamte praktische Arbeit bei der Organisation der Parteitage zu leisten. Jeden Versuch anderer Parteikörperschaften, sich in diese Arbeit einzumischen, betrachtet das Zentralkomitee, das einzige praktische Zentrum der Partei, als Verletzung des Parteistatuts und lehnt ihn als einen Anschlag auf seine Rechte ab. Was die Rechte anbelangt, die der § 2 des Statuts dem Parteirat hinsichtlich der Einberufung von Parteitagen einräumt, so fasst sie das Zentralkomitee in dem Sinne auf, dass der Parteirat die Einberufung des Parteitages zu verkünden und eine Kontrolle über die tatsächlich anerkannte Arbeit des ZK auszuüben hat.

Auf Grund des Obengesagten erklärt das Zentralkomitee, dass seine Vereinbarung mit dem Büro der Komitees der Mehrheit über die Einberufung des III. Parteitags nur insofern im Widerspruch zum Statut der Partei steht, als darin die Absicht zum Ausdruck kommt (siehe § 1 des Vertrages), den Parteitag auch ohne eine vorherige formelle Verkündung durch den Parteirat einzuberufen.

4. Das Zentralkomitee beschloss am 12./25. März, nachdem es Mitteilungen über die Resolutionen von 18 voll berechtigten Parteiorganisationen, das Zentralkomitee selbst nicht mit gerechnet, für die Einberufung des III. Parteitages erhalten hatte, dies zur Kenntnis des Parteirats zu bringen, und sandte an den Rat folgende Erklärung ab: „Das Zentralkomitee setzt den Parteirat in Kenntnis, dass gegenwärtig (12. März) 18 voll berechtigte Parteikomitees (das ZK nicht mitgerechnet), d. h. mehr als die Hälfte der beschließenden Stimmen, deren Anwesenheit auf dem III. Parteitag durch das Parteistatut gesichert ist, sich für die Einberufung des III. Parteitags ausgesprochen haben. In allernächster Zukunft sind ähnliche Resolutionen von einigen weiteren Komitees zu erwarten. Unter diesen Umständen hält das Zentralkomitee die sofortige Einberufung des Parteitages für notwendig und richtet an den Parteirat das Ersuchen, seine Einberufung durch Annahme eines entsprechenden Beschlusses zu verkünden. Alle Dokumente, die sich über diese Frage beim Zentralkomitee befinden, werden in der nächsten Zeit dem Parteirat zugehen." Zugleich damit hat das Zentralkomitee schon am 10./23. März seinen Agenten, den Genossen Wadim, angewiesen, sich sofort ins Ausland zu begeben, um über die Lage dem Parteirat zu berichten, an dessen Sitzungen der Genosse W. als Vertreter des Zentralkomitees teilzunehmen bevollmächtigt war. Infolge einer unglücklichen Verkettung der Umstände wurde Genosse Wadim verhaftet, bevor er die Grenze erreicht hatte. Was das hier angeführte Dokument anbetrifft, in dem das Zentralkomitee das Vorhandensein von Resolutionen konstatiert, die den Parteirat verpflichten, sofort die Einberufung des Parteitages zu verkünden, so soll dieses Dokument nach privaten Mitteilungen, die die Mitglieder des Zentralkomitees, die Genossen Johansen und Valerian, am 4./17. April vom Genossen Deutsch erhalten haben, gar nicht angekommen sein. Später korrigierte Genosse Deutsch diese Angabe, indem er erklärte, dass das Dokument in Locarno wohl angekommen sei, aber erst nach der Sitzung des Parteirates vom 7. April. Da wir, die Vertreter des Zentralkomitees, zu der Sitzung des Parteirates nicht zugelassen wurden, haben wir nicht die Möglichkeit, klarzustellen, warum diese Erklärung des Zentralkomitees den Mitgliedern des Parteirates mit solcher Verspätung zugestellt wurde. Aber selbst wenn es nach der Sitzung der drei Mitglieder des Parteirates in Locarno angekommen war, hätten die Genossen vom Zentralorgan und das 5. Mitglied des Parteirates angesichts der Wichtigkeit des Dokuments, in dem das Vorhandensein von Unterlagen für die Einberufung des Parteitags festgestellt wird, sofort zusammentreten und den durch das Parteistatut vorgeschriebenen Beschluss fassen oder zumindest, angesichts des Nichteintreffens des vor der Grenze verhafteten Vertreters des Zentralkomitees, die Veröffentlichung des Beschlusses vom 7. April hintan halten müssen.

5. Das Zentralkomitee bestreitet die Rechtsgültigkeit der Beschlüsse des Parteirates, die seit Februar 1905 gefasst wurden, da bei der Abreise der Genossen B. und Wtorow Ende Januar aus dem Auslande das Zentralkomitee niemand zur Vertretung im Parteirat bevollmächtigt hat. Schon lange vor dem jetzigen Konflikt des Zentralkomitees mit den ausländischen Mitgliedern des Parteirates, nämlich am 14. Februar 1904, hatte die Vollversammlung des Zentralkomitees einen Beschluss gefasst, der den § 4 des Statuts über die Vertretung des Zentralkomitees im Parteirat in dem Sinne erläutert, dass die dem Parteirat angehörenden Mitglieder des Zentralkomitees Vollmacht vom Gesamtkollegium erhalten und dass sogar die Mitglieder des Zentralkomitees, die sich aus diesen oder jenen Gründen im Auslande aufhalten, nicht berechtigt sind, an den Sitzungen des Parteirates teilzunehmen, wenn darüber kein Beschluss der Vollversammlung des Zentralkomitees gefasst worden ist.

Dieser erläuternde Beschluss des ZK diente als Grundlage für die Vertretung des Zentralkomitees im Auslande, und seit Februar 1904 traten alle Vertreter des Zentralkomitees ohne Ausnahme im Parteirat nur nach ihrer vorherigen Bestätigung durch die Vollversammlung des Zentralkomitees auf. Die Genossen Glebow und Lenin, der Genosse Glebow bei seiner zweiten Reise ins Ausland, der Genosse В., früherer Vertreter des Zentralkomitees im Parteirat, bis zu seiner Abreise nach Russland, der Genosse Wtorow, der im Januar ins Ausland reiste mit dem Recht, über gewisse Fragen mit der Redaktion des Zentralorgans in Verhandlungen zu treten und an den Sitzungen des Parteirates teilzunehmen – sie alle erhielten ihre Vollmachten nicht von diesem oder jenem Mitgliede des Zentralkomitees oder ihrem Vorgänger in der Vertretung im Parteirat, sondern von der Vollversammlung des ZK. Der Grund, der das Zentralkomitee veranlasste, den erwähnten Beschluss vom 14. Februar 1904 zu fassen und in der ganzen späteren Praxis strikte an ihm festzuhalten, bestand darin, dass eine solche Organisation der Vertretung des ZK im Parteirat das einzige Mittel bildet, zu verhindern, dass im Namen des Zentralkomitees im Parteirat Genossen auftreten, die mit dem Zentralkomitee nicht in genügend enger Fühlung stehen und mit den Einzelheiten seiner Politik in allen Fragen des Parteilebens nicht vertraut sind. Ja, wir sagen noch mehr: die Bestimmung zweier Mitglieder des Parteirates nur durch die Vollversammlung des Zentralkomitees war das einzige Mittel, dem in Russland tätigen Zentrum im Parteirat einen Einfluss zu sichern, der annähernd demjenigen gleichkommt, den die Genossen vom Zentralorgan genießen, die im Parteirat nicht nur numerisch, sondern auch durch die Autorität überwiegen, die einigen von ihnen die langen Jahre eines ruhmreichen Kampfes in den vordersten Reihen nicht nur der russischen, sondern auch der internationalen Sozialdemokratie sichern. Das Zentralkomitee, das stets die gebührende Hochachtung diesen Genossen, den Mitgliedern des Parteirates, zollt, würde jedoch seine Pflicht vor der Gesamtpartei verletzen, wenn es auch nur für kurze Zeit eine solche Änderung der Zusammensetzung des Parteirates zuließe, bei der die Entscheidungen von einem Kollegium getroffen werden, das ausschließlich aus Genossen besteht, die zwar sehr verdienstvoll und ehrwürdig sind, aber durch die Macht der Verhältnisse nicht an der unmittelbaren praktischen Arbeit, die in Russland geleistet wird, teilnehmen können. Da unser Ersuchen, eine Sitzung des Parteirates anzuberaumen, abgelehnt wurde, konnten wir nicht feststellen, aus welchen Gründen der Genosse Deutsch, den Genosse Wtorow als provisorischen Vertreter des ZK in der ausländischen „Technischen Kommission" bestimmt hatte, es für möglich erachtete, im Parteirat namens des Zentralkomitees aufzutreten, mit dessen Arbeit in Russland er überhaupt nie irgend etwas zu tun gehabt hat. Das Zentralkomitee erklärt dieses Auftreten des Genossen Deutsch für ungültig, da es vorher vom Zentralkomitee nicht bestätigt worden war, und selbst wenn man annimmt, dass Genosse Wtorow (damals erst nur ein Agent des Zentralkomitees), oder sogar irgendein Mitglied des Zentralkomitees den Genossen Deutsch gebeten habe, das ZK im Parteirat zu vertreten, so wird die Rechtsungültigkeit der vom Genossen Deutsch eingenommenen Position dadurch nicht beseitigt, da die erwähnte Vollmacht nur von der Vollversammlung des Zentralkomitees erteilt werden konnte, das ist aber hinsichtlich der Vertretung des Genossen Deutsch im Parteirat nicht geschehen. Auf Grund des oben Dargelegten betrachtet das Zentralkomitee alle Beschlüsse des Parteirates, die nach der Abreise der Genossen B. und Wtorow aus dem Auslande gefasst wurden, als ohne jede Mitwirkung des Zentralkomitees zustande gekommen und fordert eine Überprüfung aller Fragen in einer neuen Sitzung, unter Hinzuziehung der rechtmäßigen Vertreter des Zentralkomitees.

6. Das Zentralkomitee bestreitet dem Parteirat das Recht, über irgendeine der Zentralstellen Gericht zu halten und von diesen die unbedingte Unterordnung unter alle Beschlüsse des Parteirates zu fordern. Statutengemäß ist es Aufgabe des Parteirates, die Tätigkeit des Zentralkomitees und der Redaktion des Zentralorgans miteinander in Einklang zu bringen und zu verbinden, im Falle eines Konfliktes aber zwischen einer Zentralstelle und dem Parteirat kann die Lösung des Konfliktes augenscheinlich nur durch einen außerordentlichen Parteitag erfolgen. Die Stimme des Parteirates kann nicht bei Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm selbst und irgendeiner Zentralstelle entscheidend sein, da der Parteirat in einem solchen Falle gleichzeitig Richter und Partei sein würde. Indessen wurde durch die Weigerung, eine Sitzung des Parteirates unter Beteiligung von Vertretern des Zentralkomitees einzuberufen, dieses tatsächlich nicht nur von den drei Mitgliedern des Parteirates (Mitgliedern der Redaktion des Zentralorgans) verurteilt, sondern auch bereits bestraft durch Entziehung des, ohne Verletzung des Statuts, unveräußerlichen Rechtes auf eine eigene Vertretung im Parteirat.

Es werden auch andere Maßnahmen getroffen, um das Zentralkomitee unter allen Umständen zu zwingen, sich den Beschlüssen der drei Mitglieder des Parteirates (Mitglieder der Redaktion des Zentralorgans) zu fügen. So hat Genosse Deutsch als Antwort auf die berechtigte Forderung des Zentralkomitees an seinen eigenen Agenten im Auslande, nämlich den Genossen Deutsch, alle technischen und finanziellen Angelegenheiten des Zentralkomitees dem mit ihrer Leitung betrauten Mitgliede des Zentralkomitees Genossen Valerian zu übergeben, sich geweigert, dies zu tun, unter Berufung auf den Konflikt zwischen dem Zentralkomitee und dem Parteirat.

Wenn also das Zentralkomitee in § 1 seiner Vereinbarung mit dem Büro der Komitees der Mehrheit seine Bereitwilligkeit erklärt hat, den Parteitag selbst im Falle einer Weigerung des Parteirates einzuberufen, und sich damit in Widerspruch zum Statut gesetzt hat, so haben die drei Mitglieder des Parteirates ihrerseits zweimal das Statut verletzt, indem sie dem Zentralkomitee das Recht, am Parteirat teilzunehmen, und das Recht, über die technischen und finanziellen Unternehmungen des Zentralkomitees im Auslande zu verfügen und sie zu kontrollieren, entzogen haben (Verletzung der §§ 2 und 6 des Parteistatuts).

Indem das Zentralkomitee vor der Partei den oben dargelegten, vom Standpunkte des Parteistatuts unlösbaren Konflikt zwischen dem (von nur zwei Mitgliedern des Zentralorgans und dem fünften Mitglied des Parteirates vertretenen) Parteirat und dem Zentralkomitee feststellt, erklärt es angesichts der Weigerung des Vorsitzenden des Parteirates, diesen einzuberufen, dass der Vorsitzende des Parteirates, Genosse Plechanow, durch diese seine, das Statut in krasser Weise verletzende Handlung den Parteirat der Möglichkeit beraubt, seine Funktion auszuüben und damit faktisch den Parteirat eigenmächtig aufhebt.

Die unbedingte Unterordnung des Zentralkomitees unter den Parteirat, auf der Sie, Genosse, als einer unbedingten Voraussetzung bestehen, ohne die der Parteirat nicht einberufen werden kann, läuft faktisch auf eine Vertagung des Parteitages auf unbestimmte Zeit und auf eine Verletzung des klar zum Ausdruck gebrachten Willens der Partei hinaus.

Indem das Zentralkomitee seine Loyalität gegenüber der Partei höher stellt als die Loyalität gegenüber den drei Auslandsmitgliedern des Parteirates, überlässt es diesen ganzen Konflikt dem Urteil der Partei selbst.

10./23. April 1905, Zentralkomitee der SDAPR

1 Nach ihrer Ankunft im Ausland begannen die beiden der Verhaftung entgangenen Mitglieder des ZK Krassin und Lubimow einen energischen Kampf gegen die Sabotage des Parteitages durch den Parteirat und verfassten zusammen mit Lenin im Namen des Zentralkomitees den „Offenen Brief" an Plechanow, der im „Wperjod" abgedruckt und außerdem noch als Flugblatt verbreitet wurde.

Der unter Ziffer 4 erwähnte Agent des ZK „Genosse Wadim" (Postolowski) wurde an der Grenze verhaftet, aber bald wieder freigelassen, so dass er auf dem Parteitag anwesend sein konnte; P. wurde dann vom Parteitag in das Zentralkomitee gewählt.

Der „Offene Brief" wurde am 4./17. April 1905 abgeschickt; am nächsten Tag fand eine Sitzung des Organisationskomitees statt, welches beschloss, dem Parteirat eine siebentägige Frist zur Beantwortung des Briefes zu geben, nach deren Ablauf der Parteitag eröffnet werden sollte. Pünktlich nach sieben Tagen (am 12./25. April 1905) wurde auch der Parteitag eröffnet. Das vollständige Protokoll der Sitzung des Organisationskomitees ist im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 5 abgedruckt. Das Protokoll ist unterzeichnet: für das ZK von Krassin und für das Büro der Komitees der Mehrheit von Semljatschka.

2 Siehe das in Nr. 89 der „Iskra" veröffentlichte Verzeichnis der voll berechtigten Organisationen.

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